Knallfrösche statt Sprengköpfe

von Christian Rakow

Hannover, 23. Februar 2017. "Für eine Idee sterben, das ist die einzige Möglichkeit, dieser Idee würdig zu sein." Zackkkk. "Revolutionär ist nur die Bombe." Wummmm. So hämmert es in Albert Camus' Terroristendrama "Die Gerechten". Standpauken für Standpunkte, Amboss-Schläge der Argumente.

Mit dialektischer Wucht nähert sich Camus im Jahr 1949 also einem historischen Ereignis von 1905: Es ist die Zeit der aufkeimenden anti-zaristischen Bewegung in Russland. Eine sozialrevolutionäre Terrorzelle verübt ein Attentat auf den Großfürsten Sergei Alexandrowitsch Romanow, aber ihr Weg bis dorthin ist beschwerlich. Bei einem ersten Versuch versagt der Bombenwerfer Iwan Kaljajew, weil der Großfürst in seiner Droschke Kinder dabei hat. Die Gruppe debattiert die Rechtmäßigkeit des Terrors und des Zögerns. Hält das revolutionäre Gerechtigkeitsgebot dem individuellen Moralgefühl stand?

Geist der Tscheka

Camus schreibt seine eher thesen- als temperamentstarken Reflexionen in Kenntnis der späteren bolschewistischen Entwicklung. Mit dem Hardcore-Ideologen Stepan, der in den Diskussionen gegen den verfeinerten Attentäter Kaljajew antritt, weht schon so etwas wie der Geist der Tscheka heran. Gegen dessen Parteidisziplin setzt der "Poet" Kaljajew ein existenzialistisches Ausgleichspathos: Leben nehmen, und sei es auch im Kampf gegen eine Tyrannei, darf nur, wer bereit ist, sein eigenes Leben dafür hinzugeben. Ein Apparat, der seine Feinde eliminiert, ohne zu sühnen, bedeutet nur "neue Gewaltherrschaft".

Beim Braunschweiger Nachwuchsregie-Festival Fast Forward war Camus' Ideendrama 2014 in einer verstörenden Aktualisierung des Belgiers Mehdi Dehbi zu sehen, die den Terrorkampf recht unumwunden mit heutigen islamistischen Selbstmordattentaten zusammenrückte (wobei er der USA die Rolle des zaristischen Aggressors zuwies und der konkrete soziale Konflikt in einen kulturellen umgebogen wurde). Verglichen mit diesem Fanal gibt's in der niedersächsischen Nachbarschaft am Schauspiel Hannover jetzt die Matchbox-Version des Stücks.

Gerechten1 560 Karl Bernd Karwasz uSalonrevolutionäre am Werk: Wolf List, Lisa Natalie Arnold, Jonas Steglich, Beatrice Frey, Henning Hartmann © Karl-Bernd Karwasz

Regisseur Alexander Eisenach (selbst noch vergleichsweise jung – Jahrgang 1984 – und aus Sebastian Hartmanns Leipziger Centraltheater hervorgegangen) bekundet im lesenswerten Programmheft-Interview zwar ein dezidiertes Interesse an den weltweiten ökonomischen Ausbeutungszusammenhängen. In seiner Inszenierung aber fasst er den Stoff doch eher mit spitzen Fingern an. In trippelndem Rededuktus wetzen seine Spieler über das blutschwere Revolutionspathos ihrer Figuren, schwingen sich dazu mal in die Höhen eines glockenförmigen Klettergerüsts rechterhand, stehen wie Schattenrisse hinter einem Vorhang oder tauchen in einem Malewitsch-Bilderrahmen auf (Bühne: Daniel Wollenzin). An szenischer Phantasie mangelt es nicht auf der kleinen Bühne der Cumberlandschen Galerie.

Die Vollblutkomikerin Lisa Natalie Arnold legt ihre Bombenbastlerin Dora mit launigen Punchlines wie eine Jeanne d'Arc für die Sesamstraße an. Wenn sie mit Henning Hartmann als Kaljajew die Ethik des Attentats erörtert, klingt's, als rückten zwei Ganoven zum Tresorknacken vor. Wolf List verkriecht sich als Anführer der Gruppe ganz in sich selbst, während Beatrice Frey mit einem furiosen Solo akribisch einen überdimensionalen Stadtplan ausbreitet. Selbst der Chefagitator Stepan (Jonas Steglich) redet lieber von "Bömbchen" als von Bomben. Der Abend sucht die Sketch-Parade, Knallfrösche statt Sprengköpfe.

Gerechten3 560 Karl Bernd Karwasz uVirtuos verzagt: Henning Hartmann © Karl–Bernd Karwasz

Eisenachs humoreske Distanzierungsgesten folgen der oft ausagierten und insgesamt wohl auch richtigen Überzeugung, dass aus der Mitte des gegenwärtigen europäischen Bürger- und Künstlertums heraus schwerlich eine veritable linksrevolutionäre Protestgeste zu entwickeln ist. In eingelassenen Exkursen, die den Probendiskussionen entnommen wirken, geben sich die Figuren betont verzagt und selbstkritisch, wenn sie die "systemische" Ungerechtigkeit in der Verteilung des weltweiten Reichtums anprangern. Aber mehr als ein Schulterzucken springt dabei nicht raus. Man wähnt sich selbst in der "Wohlfühl-Kommune".

Es fehlt die groteske Schärfe, um diese Kritik weiterzutreiben. Eine Schärfe, die Eisenach in seiner letzten Arbeit als Regisseur und Autor mit seinem Finanzökonomie-Western Der kalte Hauch des Geldes in Frankfurt hatte. In Hannover sucht er mit Camus die Balance zwischen "Schwank oder Drama, Saft oder Blut, Klamauk oder Leben", wie es im Finale heißt. Aber er balanciert eher über allen Gegensätzen als mittendurch. Folgerichtig ist der Höhepunkt des Abends ein fingerleichtes Kabinettstückchen: In einer stupenden Klaviereinlage rast Henning Hartmann von Rachmaninoff bis Richard Clayderman und witzelt im Stile eines Rainald Grebe seine Figur des Attentäters in Grund und Boden. Szenenapplaus. "Schauspieler sind halt keine Revolutionäre", sagt er. Aber Virtuosen sind sie mitunter schon.

 

Die Gerechten
von Albert Camus
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Claudia Irro, Musik: Sven Michelson, Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Henning Hartmann, Lisa Natalie Arnold, Wolf List, Beatrice Frey, Jonas Steglich.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

"Das Problem des Stückes: Es ist ein Sprechstück, von Handlung wird nur geredet. Alles passiert nur in Worten. Und die klingen manchmal, ach was: meistens ziemlich hohl." So beschreibt Roland Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (online 23.2.2017) den Camus-Text. Alexander Eisenach setze gegen den "Mangel an Handlung" auf "Turnerei", u.a. auf dem glockenförmigen Klettergerüst. "(S)eht her, scheint der Regisseur sagen zu wollen, das ist es, wozu die Revolutionäre in der Lage sind: Sandkastenspiele."

Am Anfang höre man noch "das Papier" rascheln, schreibt Jörg Worat in der Neuen Presse (25./26.2.2017), was dem theorielastigen Camus-Text geschuldet sei. Aber im Ganzen habe Alexander Eisenach ein "Füllhorn an Inszenierungsstilen über dem Stück ausgeschüttet". Ein Verfahren, das den Kritiker gerade auch in schauspielerischer Hinsicht überzeugt. "Unterm Strich ist der Abend etwas uneinheitlich. Aber langweilig ist er nicht, und manchmal rührt er an."

 

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