Das Bataillon der Kanarienvögel

von Stefan Schmidt

Hamburg, 25. Februar 2017. René Polleschs Theater überfordert sowieso alle. Insofern war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis mal jemand laut und deutlich sagt: "Ich kann nicht mehr!" In der neuesten Pollesch-Produktion am Deutschen Schauspielhaus Hamburg ist dieser Ausruf der Verzweiflung jetzt zum Titel geworden. Bevor aber jemand argwöhnt, der Postdramatiker selbst kapituliere angesichts einer Welt, die plötzlich wieder einfache Geschichten von Gut und Böse zu erzählen scheint, sei klar gestellt: Pollesch kann sehr wohl noch. Er dreht sogar wieder richtig auf. "The show must go on!"

Guerilla gegen Karrerekollektive

Die aufgeregte Oberfläche des tagesaktuellen Weltgeschehens kickt die Inszenierung relativ früh nonchalant beiseite. Kathrin Angerer, gewohnt brillant hysterischer Volksbühnen-Gast aus Berlin, lässt ihr Bühnen-Ich im knallgelben Kleid mitteilen: "Mich stört ne Menge." Und zwar konkret die Tagesschau, noch viel mehr als die "krakeelenden Penner" vorm Haus. Stattdessen geht's hier ums Eingemachte: um das Unsagbare, das sich irgendwo hinter oder zwischen den ganzen Wörtern versteckt, die wir alle ständig brabbeln, und das auch diese Inszenierung natürlich nur in Schleifen umkreisen kann, weil sich dieser fundamentale Kern des Seins ja gerade dadurch auszeichnet, dass er sich weder benennen noch fassen lässt.

 ichkannnichtmehr1 560 Thomas Aurin uIm Schatten der Riesenküken: der fabelhafte Militärchor und Kathrin Angerer (in kanariengelb)
© Thomas Aurin

Und so machen sie auf der Bühne einmal mehr das einzige, was ihnen angesichts dieses grundlegenden Dilemmas des Lebens übrig bleibt: Sie reden und reden und reden. Über Revolutionäre, über Kanarienvögel, über Fidel Castro, Oliver Stone, Karl Marx, über den Ursprung der Sprache, über die nun bald an "Karrierekollektive" verlorene Berliner Volksbühne, über den australischen 70er-Jahre-Film "Picnic at Hanging Rock", über das Versagen theatraler Mittel – und natürlich über die Liebe. Ein typischer, ein grandioser Höllenritt durch den Assoziationskosmos von Autor-Regisseur René Pollesch. Von so etwas wie Figuren bleiben selbstverständlich auch dieses Mal allenfalls ahnungsvolle Reste, und Dialogfetzen verlieren sich in dem genialen schwarzen Loch von einer Bühne, die Altmeister Wilfried Minks zusammen mit Eylien König für dieses postdramatische Spektakel gebaut hat.

Ein postbarockes Spektakel

Oder ist es vielleicht genauso sehr ein postbarockes Spektakel? Ein theatrales Fest des Lebens im Angesicht einer zerbrochenen Welt! Jedenfalls macht es unglaublich viel Spaß, der Inszenierungsmannschaft dabei zuzuschauen, wie sie sich fröhlich-verzweifelt bemüht, die höhlengleiche Leere des Raumes zu füllen. Allen voran der Chor: 18 junge Frauen, die direkt zu Beginn in Tarnanzügen auf die Bühne stürmen und ins Publikum schreien: "Ich bin ein Mann! Hast Du das kapiert?" Als "Mann" werden sie dann immer mal wieder von Kathrin Angerer angespielt, wenn über eine vergangene Beziehung philosophiert wird (wobei Pollesch einmal mehr auf sich selbst zurückgreift: I love you, but I‘ve chosen Entdramatisierung). Die Chorfrauen sind aber auch Nachbarn, Kinder und natürlich Guerillakämpferinnen mit Maschinengewehren im Anschlag. Vor allem sind sie aber: handwerklich perfekt choreografiert von Laura Eichten und Tabita Johannes – und kongenial durchinszeniert von der pollescherprobten Schauspielerin Christine Groß. Mal Revolutionsrevue, mal Guerillaballett. Eine großartige, beeindruckende Kollektivleistung an einem Abend, der dem Kollektiv massiv misstraut. Nicht zuletzt weil dieses Kollektiv zwischenzeitlich alles Individuelle niederschreit.

Wie so oft bei Pollesch bleiben auch nach diesem Abend viel mehr Fragen offen, als es einander widersprechende Antwortangebote gibt. Wie so oft ließe sich über dieses oder jenes noch seitenweise philosophieren. Wie so oft wäre auch das einfach nur die Fortführung des verzweifelten Versuchs, die Leerstellen des Lebens irgendwie zu füllen. Bevor man sich wieder in die Welt der Tagesschau rettet. Oder mit den krakeelenden Pennern vorm Haus ein Bier trinken geht. Nach diesem Abend bleibt aber etwas zurück, das René Pollesch in seinen besten Produktionen hervorrufen kann: ein augenzwinkernder Trost der Kunst, eine Ahnung davon, dass es das unsagbar Fundamentale trotz aller fundamentalen Unsagbarkeit doch zumindest gibt. Eine Sehnsucht, die sich in den dauerlachenden Augen der furios aufspielenden Bettina Stucky zu spiegeln scheint. Oder in der verschmitzten Ironie des nuanciert präsenten Daniel Zillmann.

ichkannnichtmehr2 560 Thomas Aurin uKathrin Angerer im gelben Kleid beim Guerillaballett © Thomas Aurin

"Theaterabende sind wie das Leben. Wenn man sich nicht zwingend darauf verlassen könnte, dass sie irgendwann ein Ende haben, wären sie nicht auszuhalten." Das lässt Pollesch Bettina Stucky sagen. Und dann rollen wieder drei haushohe Pappmaché-Kanarienvögel über die Bühne. "Wenn jemand zwischen den Küken hervorkommt, ist das erstmal ein prima Auftritt. Sonst nichts", kommentiert Kathrin Angerer an anderer Stelle. Recht hat sie. Weil sich dieser Abend zum Glück nicht unnötig ernst nimmt. Er ist auch ein Fest der Flüchtigkeit.

Dazu passt, dass sie dann irgendwann Who wants to live forever von Queen einspielen. Ewig leben – angesichts der vorgeführten Überforderung, die die Welt für uns bereithält, will das vermutlich letztlich niemand. Und trotzdem bleibt nach dieser Uraufführung die irrsinnige Hoffnung, dass zumindest der Pollesch-Kosmos vielleicht doch unendlich sein könnte. Zumindest hat dieser Theatermann in Hamburg noch einmal gezeigt, wie viel Kraft in ihm steckt: ein kluger, dichter, temporeicher, witziger Abend mit grandiosen Schauspieler*innen und einem fulminanten Chor. Große Bühnenkunst, die Spaß macht, die weder authentisch sein will noch dramatisch. Pollesch at his best. Unbedingt anschauen! Auch wenn das Ende viel zu früh kommt. Oder doch nicht? Ich hätte zumindest noch gekonnt.

 

Ich kann nicht mehr
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Wilfried Minks, künstlerische Mitarbeit Bühne: Eylien König, Kostüme: Tabea Braun, Licht: Holger Stellwag, künstlerische Leiterin des Chores: Christine Groß, Dramaturgie: Sybille Meier, Souffleuse: Victoria Voigt.
Mit: Kathrin Angerer, Sachiko Hara, Bettina Stucky, Daniel Zillmann. Und im Chor: Svea Bein, Julia Buchmann, Saskia Corleis, Alica Dietzel, Lillo Aline Dönselmann, Hannah Rebekka Ehlers, Laura Ehrich, Laura Eichten, Verena Gerjets, Lucie Anabel Gieseler, Veronika Hertlein, Nina Jacobs, Tabita Johannes, Raffaela Kraus, Helene Krüger, Luise Leschik, Klaudija Parizoska.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 


Kritikenrundschau

Für Michael Laages vom Deutschlandradio Kultur (25.2.2017) ist hier ein "ein leichter, kluger, entspannter Abend entstanden – in der Begegnung der Generationen, im Mit- und Nebeneinander von Rene Pollesch und Wilfried Minks." Polleschs Text gewinne durch Minks' Bühnenbildideen "erstaunlich viel Tiefe und Fremdheit". Ensemble, Solisten und Frauen-Chor lieferten sich "kleine scharfe Gefechte". Und Kathrin Angerer warte mit einem "herrlichen Monolog über die verzweifelt-sinnlose Sehnsucht nach dem guten alten Drama im Theater" auf. Kurzum: "Der heiterste Pollesch-Abend seit langem".

"Dürftigkeit" bescheinigt Hubert Spiegel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.2.2017) Polleschs neuem Stück. Im großen Haus wirke es "verloren wie eine alte Praline in einem leeren Umzugskarton". Es handle sich um "eine kokette Revue vergilbter Selbstreferentialitäten, die von der Unmöglichkeit gelingender Kommunikation, dem Primat des Materialismus und der Banalität moderner Liebesbeziehungen handelt, also von den alten, abgenagten Pollesch-Themen. Aber wohl noch nie zuvor war der Knochen derart blank und bloß."

"Pollesch kann noch ganz schön gut, wenn nicht besser denn je“, urteilt Annette Stiekele – unter dem Kürzel asti – im Hamburger Abendblatt (27.2.2017) in Anspielung auf den Stücktitel. "Virtuos und überaus erheiternd wuchtet das Darstellerquartett Polleschs Textberge", scheibt sie. "Dem Nichtverstehen entkommt man auf Erden nicht. Es ist zum Verzweifeln. Sah aber selten zuvor so gut aus."

"Das ist mal ein prima Auftritt", betitelt die Welt (27.2.2017) die Rezension von Jörn Lauterbach. Eine "herausragende Leistung des Ensembles" hat der Kritiker erlebt. "Das demonstrative Nichtverstehen, die Überlagerung der Ansichten und Parolen, wirft ein dunkles Licht auf den Zustand von Kultur, Kunst und Miteinanderleben", schreibt er. Der Abend sei "eine achterbahnähnliche Entdeckungsreise zwischen den An- und Einsichten der Protagonisten, die viel Jubel und Applaus erfährt".

"Die Post-Pop-Diskurse machen riesigen Spaß, auch wenn sich die Sinnhaftigkeit nicht sofort – oder gar nicht – erschließt", berichtet Thorsten Pilz im NDR (26.2.2017). Die vier "großartigen Schauspieler" seien "immer am Rande des Nervenzusammenbruchs ob der Unmöglichkeit und Unfähigkeit zu kommunizieren".

"Dieses süffig vor sich hinplätschernde Boulevard-Format erscheint trotz seiner pseudo-intellektuellen Komik und der dadaistischen Montagetechnik an diesem Abend vor allem als Markenprodukt von höchster Wiedererkennbarkeit", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (1.3.2017). Die Absurditäten, die Pollesch im Pollesch-Stil routiniert aneinanderreihe, sind aus Sicht des Kritikers alle auf die gleiche Unterhaltungsfrequenz gestimmt. "Rene Pollesch kann nicht mehr? Oder kann er einfach nicht mehr anders?"

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