Welche Medizin schmeckte zu schlecht dem Sterbenden?

von Willibald Spatz

Augsburg, 3. März 2017. Gleich von Beginn an macht Selcuk Cara deutlich, dass er hier nicht einfach ein Lehrstück von Bertolt Brecht inszeniert, weil man das von ihm auf einem Brechtfestival erwartet. "Die Maßnahme" besitzt für ihn eine hohe Aktualität und Dringlichkeit, und das soll auch der Zuschauer spüren. Zunächst muss er in einem eigentlich für diese Menschenmenge zu kleinen Zelt in der Kälte auf den Einlass warten. Dieser wird dann auch nur portionsweise gewährt. Man wird von zwei Türsteherinnen mit Fragen wie "Bist du ein Mensch?" oder "Wofür bist du dir zu gut?" belästigt, bekommt Taschenlampen ausgehändigt und wird schließlich ins Kühlergebäude des Gaswerks Augsburg geführt.

Harte Bilder aushalten

Dort herrschen Anfang März Temperaturen, die den Namen Kühlergebäude rechtfertigen. Hinter Bauzäunen stehen reglos Frauen neben einem Schlauchboot und wollen wieder wissen, ob man denn ein Mensch sei. Ansonsten passiert nicht viel, außer dass die Ersten murren. Andere beginnen den hohen Raum mit ihren Taschenlampen abzuleuchten, was einen hübschen Effekt ergibt.

DieMassnahme2 560 Nik Schoelzel uWas wiegt schwerer: das empathiefähige Individuum oder die große Idee?  © Nik Schölzel

Dann kommt Bewegung ins Spiel. Am Ende des Raums halten ein paar Jungs eine Fotosession ab. Sie wollen schöne Bilder von Toten schießen. Einer soll sich "noch toter" stellen, damit es gut wird. Irgendwann stehen alle am Bauzaum und schreien chorisch einen Satz: "Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig." Das hat Innenminister Thomas de Maizière gesagt, um das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu rechtfertigen. Damit ist deutlich gemacht, auf welcher Seite die Inszenierung steht. Das 1930 uraufgeführte Stück ist umstritten, weil es sich bei der dem Stück den Titel gebenden "Maßnahme" um die Liquidierung eines jungen Genossen handelt, der in mehreren Situationen nicht im Sinne der Kommunistischen Partei, der größeren Idee, sondern zur Rettung einzelner in Not Geratener handelt und deswegen aus Parteisicht die Revolution in Gefahr gebracht hat. Hier gehört die Sympathie ganz dem jungen Genossen und seiner Entscheidung.

Sakrale Atmosphäre

Das Brechtfestival 2017 ist das erste, das Patrick Wengenroth leitet. Ihm ist es bei seiner Eröffnungsrede wichtig zu sagen, dass das Festival nun nicht mehr nur Gastspiele zeigt, sondern auch eigene Produktionen. Nun ist das mit großen Theaterproduktionen in Augsburg gerade nicht einfach, weil das Große Haus des Theaters im Augenblick saniert wird und deshalb geschlossen ist. Man muss ausweichen. Das etwa hundert Jahre alte und seit gut 15 stillgelegte Gaswerk in Augsburg ist ein grandioser Spielort mit fantastischen Hallen und Türmen. Seit einiger Zeit gibt es auch kulturelle Nutzung. Der als Opernsänger, Autorenfilmer und Schriftsteller sehr vielfältig künstlerisch aktive Selcuk Cara, der hier sowohl inszeniert als auch für das Bühnenbild verantwortlich ist, nutzt das Gebäudeensemble ausgiebig.

Für das eigentliche Brechtstück, das, inklusive der Musik von Hanns Eisler, schließlich doch komplett aufgeführt wird, muss man eine Halle weiter, ins Apparatehaus, in eine ganz neue Umgebung also. Dort wabert Weihrauch durch die Luft. Zum Sitzen stehen Kirchenbänke da. Im Mittelgang steht ein Taufbecken. Ganz vorne, wo der Altar sein sollte, steht eine Frau in Weiß, in einen Lichtstrahl von oben getaucht. Tatsächlich bewegen sich die Zuschauer ehrfurchtsvoll durch diese Halle, in der die alten Apparate auch noch stehen. Die sakrale Atmosphäre passt einerseits gut zur Musik, die sich immer wieder an Bachs "Matthäuspassion" anlehnt, macht andererseits aber auch deutlich, dass Brecht und Eisler mit dem Stück auch das Religiöse am Kommunismus thematisieren.

DieMassnahme1 560 Nik Schoelzel uParteigericht oder Opfer auf dem Altar der Parteidisziplin?   © Nik Schoelzel

Mehr als ein Museum

Das Stück selbst wird nun relativ statisch auf einer Bühne aus vier Stegen von vier Schauspielern aufgeführt. Hinter einem Vorhang agieren Chor und Orchester unter der Leitung von Geoffrey Abbott, der einige Erfahrung mit Brecht hat. Bei den meisten Brechtfestivals der vergangenen Jahre hat er je eine Produktion musikalisch betreut. "Die Maßnahme" selbst übrigens schon einmal im Jahr 2011, allerdings in einem anderen Raum, mit einem anderen Regisseur und einem anderen Konzept. Hier nun darf der Text wirken, darf auch seine Wucht entfalten. Es gibt szenische Auflockerungen – ein Schlauchboot wird durch den Mittelgang gezogen, Volker Zack turnt als Leiter Parteibüros mit einem Weihrauchfass auf einem alten Rohr und löst bei den anderen Lach- und Niesanfälle aus, bei den Diskussionen am Ende der einzelnen Szenen wird das Publikum mit einbezogen. Aber immer wieder kehren die Schauspieler in die Mitte zurück. Mit dem passenden Kontext ist das Ende richtig berührend, was nicht ganz im Sinne eines Brechtschen Lehrstücks, aber doch im Sinne der anfangs klar formulierten Empathie-Position ist.

Ein aufregender, gelungener Auftakt fürs diesjährige Festival unter neuer Leitung also, der Lust macht auf das Kommende. Es besteht durchaus Grund zur Hoffnung, dass hier Brecht gezeigt wird von Menschen, in denen er was bewegt und dass das Festival mehr wird als ein lebendiges Museum, mit dem die Stadt ihren prominenten Sohn würdigt.

 

Die Maßnahme
Ein Lehrstück von Bertolt Brecht
Musik: Hanns Eisler
Konzept, Regie, Bühnenbild und Lichtgestaltung: Selcuk Cara, Musikalische Leitung und Leitung Chor: Geoffrey Abbott, Regieassistenz: Lisa Bühler, Produktionsleitung: Lisa Bühler, Barbara Friedrichs, Technische Leitung: Georg Sturm.
Mit: Katharina Rivilis, Luise Wolfram, Dagmar von Kurmin, Volker Zack, Florian Mania.
Dauer: 2 Stunden 5 Minuten, keine Pause

www.brechtfestival.de

 

Kritikenrundschau

"Caras Versuch, das Lehrstück von Brecht zu aktualisieren, beeindruckt als ein mutiges und engagiertes Experiment. Eine wirklich schlüssige Umsetzung seines Konzepts aber glückt ihm leider nicht", schreibt Petra Hallmayer in der Süddeutschen Zeitung (6.3.2017). Cara wolle mit seiner Regiearbeit Haltung zeigen, die er als Plädoyer für beherzten Widerstand gegen eine inhumane Politik verstehe. "Ob 'Die Maßnahme' dafür allerdings tatsächlich die richtige Vorlage ist, erscheint fraglich", so Hallmayer: So lauter Caras Anliegen sei, "die Analogien hinken." Was die Agitatoren in Bertolt Brechts "grausamer Rationalitätslektion" dem Genossen vorwürfen, sei, dass er durch sein emotionsgelenktes Handeln ein Unrechtssystem aufrechterhalte, anstatt mit ihnen gemeinsam die Welt zu verändern. "Niemand aber könnte behaupten, dass die Europäische Union revolutionäre Visionen vertritt und mit der Schließung der Grenzen einen Masterplan zur Abschaffung von Armut und Elend verfolgt."

"Hanns Eislers Kompositionen bekommen im Apparatehaus des Augsburger Gaswerk-Areals durch den Hall eine gesteigert sakrale Note. Das wirkt", schreibt Richard Mayr in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (6.3.2017). "Aber wirkt auch das Stück?" Ein "schaler Nachgeschmack" bleibe trotz langen Applauses. Zur Frage, was der junge Genosse hätte tun sollen, habe das Publikum geschwiegen. "Insgeheim denkt man sich, dass der Genosse aus der kommunistischen Partei hätte austreten müssen, um sich gegen die Partei zu stellen", so Mayr. "Und was heißt das für die gegenwärtigen Probleme, auf die die Inszenierung abhebt? Wieder setzt Schweigen ein, jetzt aus Ratlosigkeit. Etwas hakt."

"Regisseur Selcuk Cara ist es in beeindruckender Weise gelungen, einen ästhetischen Schwebezustand zu erzeugen und aufrecht zu halten, der die Grundproblematik des Lehrstücks niemals verflacht und das herausfordernde Potenzial des Dramas permanent spürbar lässt", schriebt der Augsburger Brechtforscher Jürgen Hillesheim als Gastautor in Die Augsburger Zeitung (6.3.2017). "Bemerkenswert und beeindruckend das deklamatorische, akzentuiert expressive Pathos der Schauspieler, das sie konsequent durchzuhalten vermögen, ausgestattet mit schlichter, dennoch liturgisch anmutender Kleidung in einer exzellenten Choreografie" – "Eislers gewaltige, eindringliche Musik wurde unter der Leitung Geoffrey Abbotts tadellos umgesetzt." Cara mache die Not zu Tugend; "Desiderate der noch nicht fertigen Ersatzbühne und der Räume verwandelt er in Vorteile, die er geschickt nutzt. So lässt er die Kälte des Kommunismus in der kaum zu heizenden Halle buchstäblich am Zuschauer hochkriechen, ihn zunehmend okkupieren. Diese nimmt er mit nach Hause, in Form einer Blasenentzündung möglicherweise und gleichzeitig als Warnung vor der Perversität absolut gesetzter Parteidogmen, die der junge Genosse als 'Dreck' erachtet, die ihm aber trotz seiner Einsicht das Leben kosten."

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