Unter Ängstlichen

von Dirk Pilz

März 2017. Es ist ja nicht so, dass es einen Mangel an Religion auf deutschsprachigen Bühnen gäbe. Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" zum Beispiel: von Bamberg bis Berlin gern inszeniert. Überhaupt sind Stücke über die vermeintliche Problem-Religion Islam hoch im Kurs. Aber auch sonst spielen Glaubensfragen ständig eine Rolle, so oder so. "Nathan der Weise", "Hamlet", "Faust": lauter viel gegegebene Klassiker mit deutlichem Religionsbezug. Religion gehört schließlich nicht erst in der Gegenwart zu den umstrittensten und heikelsten Themen überhaupt.

Aber Gläubige treten im deutschsprachigen Theater fast nur als Zerrbild auf, als Mängelwesen und bedauernswerte Tropfe, die den Anschluss an die Welt der Aufklärung und Vernunft verpasst zu haben scheinen. Menschen mit Migrationshintergrund oder Behinderung, Homosexuelle, Alte und Gebrechliche gehören mit wachsender Selbstverständlichkeit gottlob zum Theater dazu, ohne dass sie auf Alter, Geschlecht oder Herkunft reduziert würden. Zumindest lässt sich hier ein zunehmend kritisches Bewusstsein beobachten. Für Gläubige gilt das jedoch nicht. Wie kommt das?

Wie lächerlich

Es ist jedenfalls kein neues Phänomen. Vor 13 Jahren hatte an der Berliner Volksbühne ein Abend unter dem Titel "Vater unser" Premiere. Der Filmregisseur Ulrich Seidl wollte mit dieser Stückentwicklung ergründen, was es bedeutet zu beten. Das Ensemble traf sich deshalb mit Christen, um Material für die Rollengestaltung zu finden. "Der Zuschauer", meinte Seidl damals, "sollte so irritiert werden, dass er, auch wenn er weiß, das ist Herbert Fritsch oder Bernhard Schütz, vielleicht denkt: Aha, die sind jetzt gläubig geworden."

Das ist aufschlussreich gescheitert seinerzeit. Denn der Zuschauer war allenfalls befremdet, wenn nicht belustigt. Er sah Schauspieler, die nicht anders konnten oder wollten, als in ironischer oder herablassender Pose ihre Rollen zu umtänzeln. Gebet und Glaube schienen ihnen keiner ernsthaften Beschäftigung, nur hämischer Bespöttelung würdig. Die Schauspieler knieten nieder, falteten die Hände, blickten gen Himmel – alles im Gestus aufgesetzter Frömmelei. Über religiöse Erfahrungen wurde auf diese Weise so wenig erzählt wie über die einzelnen Gläubigen – die Religion stand als Einfaltspinsel auf der Bühne, verkleinert auf bloße Äußerlichkeiten, verhunzt zum Spottanlass. Als entstammten Gläubige einem Hinterwäldler-Land, in dem sie ihren vormodernen Riten und vernunftfeindlichen Vorlieben nachgehen, als wäre Religion bloßes Relikt einer diffusen Vormoderne.

Wie drollig

Das ist bis heute symptomatisch für den Umgang des deutschen Gegenwartstheaters vornehmlich mit den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam (und nur diese, die europäische Geschichte wesentlich prägenden habe ich hier im Blick). Da wird – um nur einige, aber bezeichnende Beispiele der jüngeren Vergangenheit zu nennen – in Jette Steckels kürzlich herausgekommenem Sammel-Abend 10 Gebote am Deutschen Theater Berlin ein Priester beim Abendmahl auf die Bühne gehievt, um die Eucharistiefeier als kannibalistischen Mumpitz bloßzustellen – und damit eine jahrhundertealte, keineswegs hinfällige Diskussion aufgefriffen, von der dieser Abend allerdings nichts zu ahnen scheint, was ihn so einfältig wie hochmütig aussehen lässt; wer heute noch an einem Abendmahl teilnimmt, kann sich dieser Inszenierung zufolge nur lächerlich machen.

Da wird in Karin Henkels Hamburger Ibsen-Inszenierung John Gabriel Borkman das protestantische Kirchenlied "Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer" gesungen, um die Figuren als Deformierte auzustellen, deformiert durch die Religion natürlich. Da wird in Susanne Kennedys Münchner Marieluise-Fleißer-Inszenierung Fegefeuer in Ingolstadt ein kleines Kruzifix an die Bühnenhinterwand genagelt und ins Spiel übereindeutig einbezogen, um unmissverständlich herauszustellen, woher der kleinbürgerliche Biedersinn, die Brutalität, das Menschenunfreundliche der Figuren rührt, mit der Folge, dass die von Fleißer noch getroffene Differenz zwischen dem christlichen Glauben Einzelner und der Institution Kirche kurzerhand eingeebnet ist.

Da lässt Michael Thalheimer seinen Tartuffe an der Berliner Schaubühne von Lars Eidinger als irrsinnsgeplagten Flüche-Schleuderer spielen und zeigt zugleich diesen Heuchler Tartuffe als Religionsschwindler, so dass alle, die ihm auf den Leim gehen, als blinde Dummlinge dastehen und die Religion insgesamt als drolliges Bedürfnis erscheint, das einzig minder Bemittelte verspürten.

Da sagt Jeanne Balibar in Frank Castorfs Malaparte-Inszenierung Kaputt in einem Film-Einspieler: "Ich schäme mich nicht, ein Christ zu sein", während man an Bäumen eine Reihe schändlich Gekreuzigter sieht und streicht somit vor allem das angeblich Abstruse des christlichen Erlösermodells heraus, als müsse sich eben schamvoll entschuldigen, wer an diesen Gott glaubt. Als sei Religion, wie häufig bei Castorf, bestenfalls bloße spirituelle Quelle, aus der sich Irritationsenergie saugen lässt.

Wie überholt

Das sind Religionsbilder, die das Gegenwartstheater in stumpfer Regelmäßigkeit entwirft. Religion wird dabei durchweg zum diffusen Sammelbegriff für alles, was als irgend fremd, irrational oder überholt gilt, mitunter auch schlicht als Kennzeichen von Konservatismus. Sie wird so als das vorgeführt, was moderne, aufgeklärte Menschen nicht hätten – und auch nicht bräuchten. Gläubig sind für das Theater augenscheinlich immer die Anderen, meistens die Absonderlichen. Diesen Zuschreibungen gemäß gelten sie dem Theater als an Äußerlichkeiten erkennbar – immer wieder werden Schauspielern Bärte angeklebt, um sie als Muslime auftreten zu lassen, immer wieder wird ihnen ein Talar umgehängt, um sie als Pfarrer zu präsentieren. Während sich das Theater gewöhnlich darum bemüht, vielfältige und widerspruchsreiche Figuren zu entwerfen, kennt es beim Gläubigen nur einfältigste Einseitigkeit: Er darf in allem nichts als Gläubiger sein.

Inszeniert werden so jedoch nicht Gläubige, sondern in der Regel Fundamentalisten. Denn nur für Fundamentalisten ist es typisch, Gott und die Welt aus einer einzigen Perspektive heraus wahrzunehmen. Entsprechend werden Karikaturen gezeigt, die den Gläubigen wahlweise als Gefangenen seines Glaubens oder als bedauernswertes Opfer einer Verblendung zeichnen.

Tartuffe1 KatrinRibbe 560 uTartuffe (Lars Eidinger) als Religionsschwindler (Schaubühne Berlin 2013) © Katrin Ribbe

Das Theater steckt im Verhältnis zur Religion offenbar in einer Weltanschauungs- und Wiederholungsblase: Es hält die von ihm entworfenen Zerrbilder für eine  Wirklichkeit, die dann den Gläubigen vorgehalten, wenn nicht vorgeworfen wird. Ein geschlossener, sich selbst bestätigender Kreislauf. Es fehlt hier nicht nur an Kontakt mit Andersgläubigen, mit Menschen und Ideen jenseits der eigenen Kantinenwelt, es fehlt an der Vorstellungskraft, dass man von anderen tatsächlich etwas lernen, die eigene Weltsicht Erweiterndes erfahren könnte. Und lernen ließe sich auf vielerlei Ebenen, auch in organisatorischen und finanziellen Fragen von den Kirchen etwa, die vergleichbare Strukturprobleme haben wie die Stadttheater.

Wie einfältig

Von Gläubigen und Religionen glaubt das Theater jedoch nichts lernen zu müssen; sie sind dem Theater nur stetes Objekt der Belehrung. Mit der Religion ist das Theater entsprechend immer schon vor jeder Auseinandersetzung fertig. Das macht allerdings auch jede gehaltvolle (und notwendige) Religionkritik gehaltlos, weil zu Kritik gehört, ihren Gegenstand ernst zu nehmen. Substanzielle theologische Unterschiede zwischen den monotheistischen Religionen werden entsprechend selten gemacht. Allenfalls gegenüber dem Judentum lässt sich eine gewisse Scheu identifizieren, als fürchte man den Vorwurf des Antisemitismus, als wäre es im Zweifelsfall besser, über Juden zu schweigen. Dass gerade damit das jahrhundertealte Motiv einer ausgrenzenden Politik bedient wird, die sich des "Juden-Problems" entledigen wollte, indem sie Juden keine öffentliche Stimme zugestand, scheint dem Gegenwartstheater dabei nicht aufzufallen.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Björn Bicker hat mit seinem Projekt Urban Prayers Gläubigen immerhin zugehört und vorurteilsfrei die Bühne überlassen. Oder Yael Ronen, die sich wiederholt durchaus ernsthaft mit Gläubigen auseinandergesetzt hat. Oder auch Stefan Bachmann mit seinem vor fünf Jahren in Zürich entstandenen Abend Genesis, der ganz auf die erzählerische Kraft der hebräischen Bibel vertraute. Ausgeprochen bemerkenswert auch die in dieser Spielzeit am Stadttheater Münster herausgekommene Uraufführung Martinus Luther: Das Stück von John von Düffel wie die Inszenierung von Max Claessen präsentieren weder Luther-Tratsch noch Protestantismus-Bashing, verzichten gänzlich auf vorschnelle, die historische Distanz einebnende Urteile genauso wie auf hippe Vereinnahmungen. Man sieht vielmehr einen von Zweifeln und Anfechtungen, Selbstüberschätzung und Angst gezeichneten Gläubigen, der so schroff wie zärtlich sein kann. Man sieht tatsächlich einen Luther, der mit den handelsüblichen Reformationsbildern nicht identisch ist, einen Gegenwärtigen wie einen Fremden. Ein starkes Statement, das sich zu diskutieren lohnt.

Luther01 560 c Oliver berg uLuther, so gegenwärtig wie fremd: "Martinus Luther" (Theater Münster 2016) © Oliver Berg

Inhaltliches Interesse an Religion findet sich ohnehin vermehrt, von der Langen Nacht der Weltreligion am Hamburger Thalia Theater bis zu den vielfältigen Veranstaltungen am Deutschen Theater Berlin, wo mit Ulrich Khuon ja auch ein gelernter Theologe Intendant ist. Aber Gläubige auf der Bühne? In der Regel sind peinliche Auffahrunfälle zu erleben, über alle ideologischen Gräben des ästhetischen Geschmacks hinweg: Claus Peymanns "Nathan"-Inszenierung am Berliner Ensemble von 2002 war einst nicht weniger peinlich als der "Nathan" von Daniela Löffner in Zürich im vergangenen Jahr: Sie zeigten beide bloße Glaubenskasper und waren dennoch überzeigt, mit derart papiernen, auf Äußerlichkeiten festgelegten Figuren für Toleranz werben zu können.

Wie stumm

Am besten ergeht es dem Theater daher noch, wenn es den Religionsbezug im Ritus sucht. Die Verbindungen zu kultischen Energien werden auf den Bühnen derzeit gerade wieder verstärkt hervorgeholt, von so verschiedenen Regisseuren wie Ulrich Rasche, Alain Platel oder Volker Lösch, in den Performances von Signa oder Vegard Vinge und Ida Müller. Aber Ritus ist nicht Religion, kultisches Geschehen und Glaube sind so wenig identisch wie Institutionen mit Religionen: Der Gläubige der Gegenwart ist weder schierer Kultanhänger, der in Riten seinen Gott beschwört, noch bloßer Kirchen- oder Vereinsanhänger, der seinen Gottesbezug an Amtsträger oder Lehrsätze delegiert.

Für das Gegenwartstheater ist er dagegen genau das: ein bedauernswertes Opfer von kultischen oder institutionellen Fesseln, die nur Rückständige nicht abzuschütteln vermögen. Eine differenzierte Betrachtung von Religion lohnt sich von dieser Warte aus tatsächlich nicht. So aber setzt sich das Theater dem Verdacht der Religionsdummheit aus: Es hat auf diese Weise in Sachen Religion kaum etwas zu sagen – und holt die Religion dennoch ständig auf die Bühne. Einem politisch wie sozial so komplexen Teil gegenwärtiger Wirklichkeit steht es zwar herablassend achselzuckend gegenüber, das aber in aller tumben Entschiedenheit. Mit Folgen auf der politischen wie auf der ästhetischen Ebene. Zu den inter- und innerreligiösen Verwerfungen auf den politischen Landkarten etwa hat es nichts beizutragen. Und aus einem gern inszenierten Stoff wie Joseph Roths Roman "Hiob" zum Beispiel wird auf den Bühnen damit zumeist eine banale Familiengeschichte, aus "Faust" eine simple Kolonialisierungsstory, aus "Woyzeck" eine stumpfe Sozialnummer. Nicht, weil den entsprechenden Inszenierungen der Religionsbezug gestrichen wurde, sondern weil das Bewusstsein dafür fehlt, was man eigentlich eliminiert, wogegen man sich überhaupt gewendet hat.

'Gott ist tot' war einst ein anspruchsvoller, voraussetzungreicher Satz; er ist auf den Bühnen längst zur stumpfen, gedankenlos nachgeplapperten Leerformel geworden. Für Unterschiede ist so kein Raum mehr, nicht für die grundlegenden zwischen Religion und Weltanschauung, nicht für die gröberen wie jenen zwischen Paulus und Jesus, Moses und Abraham oder Schiiten und Sunniten, erst recht nicht für die feineren wie jenen zwischen evangelikalen und evangelischen Christen etwa. Es wird alles gleich – und damit auch alles gleich nichtssagend. Auf dieser Grundlage ist eine Auseinandersetzung mit Religion allerdings genauso fruchtlos wie über Atheismus oder Agnostizismus. Denn dafür braucht es einen bewusstseinsstarken Blick – und zumindest basale Kenntnisse der religiösen wie religionskritischen Materie.

Wie verwandt

Wie kann das alles sein, ausgerechnet am Theater, das auf seine Differenzierungskraft besonders stolz ist? In anderen Künsten verhält es sich jedenfalls nicht so. Der Grazer Kunstwissenschaftler Johannes Rauchenberger hat vor zwei Jahren ein großes, dreibändiges Werk unter dem Titel Gott hat kein Museum veröffentlicht; es dokumentiert die intensiven Beziehungen zwischen Religion und bildender Kunst, Theologie und Ästhetik im 21. Jahrhundert. Ein vergleichbares Werk ließe sich über das deutsche Theater nicht verfassen – es fehlte schlicht an hinreichend differentem Anschauungsmaterial.

Ein Grund liegt sicher in der nahen Verwandtschaft von Theater und Religion: Beide sind auf ganzheitliche Erfahrungsweisen gerichtet. Diese Konkurrenz hat in der Geschichte wiederholt zu wechselseitigen Vereinnahmungen und Verunglimpfungen geführt. Dass der einflussreichste Kirchenvater Augustinus als Theaterbegeisterter begonnen und als Theaterverächter geendet hat, wirkt dabei womöglich bis heute nach. Und sicher spielt es auch eine Rolle, dass die Theater Ende des 18. Jahrhunderts versuchten, kirchliche Aufgaben zu übernehmen, indem die Bühne als moralische oder pädagogische Anstalt begriffen wurde. Was einst den Religionen, vor allem den Kirchen, oblag, nämlich Publikum und Gewissen zu bilden, wollte jetzt das Theater (besser) können.

Das will es bis heute – die Bühnen sind aus ihrer schlichten Absatzbewegung von der Religion noch immer nicht herausgekommen. Das mag den Dünkel gegenüber der Religion zusätzlich begünstigen: Aus der Distanzstellung zur Religion bezieht das Theater sein Selbstwertgefühl, zusehends allerdings ohne Erfolg – auch das gehört zur Legitimationskrise der Bühnen. Und das ist eine weiterer Grund, warum sie Gläubige als Provokation erfahren, warum sie auf die Existenz des Glaubens in der modernen Welt geradezu hysterisch reagieren: Religiöse Fragen sind für die Theater eines der letzten Tabus, angstbesetztes Reservat.    

10Gebote2 560 Arno Declair hVerlorene Gläubige in Jette Steckels "10 Geboten" (Deutsches Theater Berlin 2017) © Arno Declair

Denn in Theaterkreisen geht man mehrheitlich noch immer von einer simplen Säkularisierungsthese aus, die sowohl empirisch als auch religionswissenschaftlich längst als unhaltbar gilt: von der grobschlächtigen Annahme, dass wachsende Aufklärung zu schwindender Religiosität führt, dass den Glauben nahezu automatisch verliert, wer auf die Vernunft vertraut. Diese in den Wissenschaften als Subtraktionstheorie geführte Vorstellung kann jedoch einer Wirklichkeit nicht gerecht werden, in der sich die Religionen und Glaubensweisen ausdifferenziert und sich dabei keineswegs überlebt haben, auch wenn es dem beschränkten mitteleuropäischen Blick mitunter so erscheinen mag.

Glaube ist vielmehr, wie etwa der kanadische Philosoph Charles Taylor und der deutsche Soziologe Hans Joas nahelegen, zwar gottlob kein allgemeinverbindliches Lebensmodell mehr, aber eine gleichberechtigte Option unter anderen. Die Religion ist in einer solchen Gegenwartsgesellschaft der Optionen, wie selbst Jürgen Habermas einräumte, eine zeitgenössische Gestalt des Geistes geblieben, mit allen weitreichenden politischen wie theologischen Konflikten, die daraus entstehen.

Wie ahnungslos

Nicht für das Theater. Es ist in schroffen Dualismen gefangen, die so allenfalls in den Kinderstuben der Aufklärung zu finden sind. Es tut im besten Fall, als wäre Religion bloße Privatangelegenheit, im schlechteren, als ließen sich Religion und Rationalität schlicht gegenüberstellen, als gehörten die komplexen dialektischen Beziehungen zwischen Glaube und Vernunft seit Paulus nicht zu den meistdiskutierten Fragen in den Geisteswissenschaften. Als gäbe es hier eindeutige, einfache Antworten. "Die Vernunft des Glaubens ist eine Vernunft, die mit Gott rechnet, die Vernunft des Unglaubens eine, die das nicht tut", schreibt der Schweizer Theologe Ingolf U. Dalfehrt in seinem wegweisenden Band Transzendenz und säkulare Welt. Im Grunde Basiswissen in Sachen Religion und Gegenwart. Beim Theater ist es noch nicht angekommen. Man könnte hier wie Peter Sloterdijk (in anderem Zusammenhang) spotten und den Bühnen mehrere tausend Seiten Lektürerückstand attestieren. Aber die Sache liegt tiefer: Es zeigt sich in Sachen Religion beim Theater Denkfaulheit, gepaart mit Selbstverliebtheit in die eigenen blinden Flecken.

Auch hier nur ein bezeichnendes Beispiel: Kurz vor der Premiere seiner Berliner Inszenierung Ödipus und Antigone bekannte Ersan Mondtag im Interview, über Götter und Transzendenz in den Vorlagen von Sophokles und Aischylos noch nicht nachgedacht zu haben. Nicht schlimm. Man muss über Transzendenz, Gott und Götter nicht nachdenken, nur muss man gute Gründe dafür haben, wenn man ausgerechnet diese Texte inszeniert und um diese Dimension beschneidet. Gerade was man übergehen will, sollte man kennen – eine Banalität jeder ernstzunehmenden Auseinandersetzung mit Literaturen wie mit Religionen. Wer den Koran nicht gelesen (oder besser: gehört) hat, sollte zum Islam besser schweigen, wer die Bibel nicht kennt, sich Urteilen zu Judentum und Christentum lieber enthalten. Und wer von den antiken Glaubensweisen nichts wissen will, muss ja nicht Antike inszenieren; es gibt genügend moderne Tragödien, die das Ausklammern transzendenter Fragen ermöglichen. Aber selbst das religionsstumpfe Theater kann offenbar nicht übersehen, dass Religionen nach wie vor zu präsent und prägend sind, um einfach auf ihre Darstellung zu verzichten –  und kritisiert die Religion zugleich ohne jede Kenntnis.

TatortreinigerReligion 560 NDRRatlos in Gesellschaft von zig (Glaubens-)Optionen (und auch von einer Theaterautorin, Ingrid
Lausund, erdacht): "Tatortreiniger" Bjarne Mädel © NDR

Der Vorwurf der Ahnungslosigkeit trifft übrigens keineswegs nur die Theatermacher, sondern auch eine Theaterkritik, die gerade in Religionsfragen zuweilen mit Analphabetismus glänzt, was sie naturgemäß nicht von festesten Urteilen abhält. Eine tiefere Ursache mag hier sein, dass für einen Gläubigen das Jasagen wesentlich ist – Glaube bedeutet gerade, sich zu seinem Gott zu bekennen. Nicht die Absage an die Welt, nicht die Unterwerfung unter Gebote kennzeichnet ihn, sondern die bejahende Treue zum Geglaubten, was übrigens schon immer die kritische Reflektion dieses Geglaubten einschloss, sowohl im Judentum wie in Islam und Christentum. Das Jasagen erweist sich dabei als schwieriger, auch komplexer als das schiere Verschmähen. Gerade das Theatermilieu bezieht sein Selbstwertgefühl aber gern aus der Verwerfung; entsprechend verbreitet ist die irrige Ansicht, Kritik bedeute vor allem Ablehnung statt Abstandsnahme, sei Verächtlichmachen statt distanziertes Begreifen. Auch das verstellt den Blick auf Gläubige – und lässt die Religionen als uniformen Block aussehen.

Es gibt allerdings, so argumentiert Hans Joas, immer nur konkrete Biographien, Gläubige oder Nichtgläubige, die sich begegnen oder nicht begegnen. Religionen sind abstrakte, verallgemeinernde Konstrukte, man sollte sich hüten, sie mit den Glaubenserfahrungen der Einzelnen zu verwechseln. Eben diese Verwechslung ist im Theater immer wieder zu beobachten. Dabei wäre das Spiel der Begegnungen Einzelner ureigenes Theatergebiet. In einer Gesellschaft der Optionen böte sich hier reichlich Material für die Bühne, wenn es seinerseits eine zeitgenössische Gestalt des Geistes bleiben will.

Dafür aber braucht es einen aufklärerischen Anspruch wie ihn Nietzsche formuliert hat: "Nie etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann." Nicht durch starre Vorannahmen ausschließen, was gegen die eigenen Religions-, Welt- und Menschenbilder spricht.

 

dirk pilz5 kleinDirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de sowie seit 2015 Gastprofessor und akademischer Leiter des MA-Studiengangs Kulturjournalismus an der UdK Berlin. Außerdem gehört er dem Stiftungsrat des House of One an. Vorher war der promovierte Literaturwissenschaftler u.a. Redakteur für Theater der Zeit und Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau.

 

 

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