Sacrifice – Sarah Nemtsov und Dirk Laucke schicken an der Oper Halle zwei Teenager-Mädchen aus Sachsen-Anhalt in den IS-Gotteskrieg

Jana und Henny fahren zur Hölle

Jana und Henny fahren zur Hölle

von Janis El-Bira

Halle, 5. März 2017. Es scheppert und die Fahrt beginnt. Im Rücken wuselt das Orchester, auf der Hinter-, den Seitenbühnen und im Zuschauerraum öffnen sich kleine Welten und mittendrin wir, kreiselnd, wie Willenlose von Szene zu Szene geworfen. Vielleicht gibt es im Theater keine größere Machtentfaltung als die, das Publikum nicht vor, sondern auf einer Drehbühne zu platzieren, es somit ungefragt in Bewegung zu setzen, seinen Blick zu lenken. Der Schwindel wird dabei im doppelten Wortsinn zum Prinzip. Denn wer immerfort im Kreis sich dreht, dem verschwimmen Anfang und Ende, Wirkung und Ursache.

An der Oper Halle hat Regisseur und Intendant Florian Lutz nun ebenjene Karussellperspektive gewählt, um seine Zuschauer mit der verheißungsvollen Liaison von Neuer Musik und zeitgenössischer Dramatik zu umrunden. Repräsentiert auf der einen Seite durch die Berliner Komponistin Sarah Nemtsov und auf der anderen durch den Hallenser Autor Dirk Laucke, der vor zweieinhalb Jahren mit "Furcht und Ekel: Das Privatleben glücklicher Leute" zu einem der Interessantesten, vor allem aber politisch Unverblümtesten unter den jungen deutschsprachigen Dramatikern avancierte. Auch der Stoff von "Sacrifice", wie die Zusammenarbeit mit Nemtsov heißt, könnte aktueller kaum sein: Zwei sachsen-anhaltische Teenager-Mädchen, putzigerweise Jana und Henny genannt, brechen 2015 nach Syrien auf, um sich als bewaffnete Gotteskriegerinnen dem IS anzuschließen. Immer wieder beschwören sie ihre Opferbereitschaft, indem sie singend ein (wohl authentisches) Gedicht der Taliban rezitieren.

IS-Terror = phonstarker Hochdruck

In Halle macht man an diesem Uraufführungsabend wenig Hehl daraus, dass "Sacrifice" vor allem Sarah Nemtsovs üppig bestückten Werkkatalog zieren soll. Laucke habe, wie Dramaturg Michael von zur Mühlen bei der Werkeinführung berichtet, einen Text geschrieben, dessen musiktheatrale Umsetzung rund sechs Stunden beansprucht hätte. Nemtsov habe ihn dann "verdichtet" und um das Ergebnis sei anschließend "produktiv gestritten" worden – was im Dramaturgenjargon wahrscheinlich für Zustände in der Nähe zur Messerstecherei steht. Von Lauckes Handschrift ist jedenfalls wenig, am ehesten noch etwas in den Nebensträngen übrig geblieben: Eine Gruppe Journalisten am Rande des Krieges, die über die richtigen Bildmittel in der Darstellung von Geflüchteten streitet. Ein deutsches Paar, bei dem der Mann die Willkommenskultur feiert, weil ihm die eigene Großherzigkeit so gefällt, während seine Frau bereits an den Lippen von Björn Höcke klebt. Ein Geflüchteter, der sprach- und ortlos geworden ist. Man ahnt, dass hier Bögen und Engführungen angelegt waren, die der angepeilten Fasson des Abends weichen mussten.

Sacrifice 560 TheaterOperundOrchesterHalle FalkWenzel uMarie Friederike Schöder (Jana), Tehila Goldstein (Hennny) © Falk Wenzel

Aber selbst dort, wo Lauckes immer wieder reizvolle Librettoreste sich wie in einem Singspiel als gesprochenes Wort emanzipieren, ist das Gesagte kaum vernehmbar, geschweige denn, dass man sich darauf einlassen könnte. Das hat auch damit zu tun, dass Terror, Bilderhölle und IS für Sarah Nemtsov vor allem phonstarken Hochdruck bedeuten. Derart großpinselig hat man diese sonst so fein arbeitende Komponistin schon lange nicht mehr kleistern hören. Und natürlich werden auch alle bekannten Neue-Musik-Sperenzchen abgespult: tonloses Spielen der Bläser, perkussive Umwidmung aller Instrumente, Elektronikklänge wie vom Gameboy, durch Gurgeln und Krächzen erweiterte Sängerstimmen. Es rauscht und rast, knistert und klackert, summt und brummt. Von vorne und hinten, oben und seitlich. Immerzu und in der tiefenverstärkenden Akustik leider fast immer zu laut.

Potenzierungswettlauf

Eine umsichtige Regie müsste sich hier eigentlich zurücknehmen und durch kluge Raumdisposition für Transparenz sorgen. Doch Regisseur Lutz setzt lieber auf Drehschwindel, Spektakel und Flutung der Sinne. Seine Inszenierung spielt nicht nur auf vier Bühnen, sondern auch auf mehreren Ebenen, auf Leinwänden und Monitoren, in einem dreistöckigen Wohnhaus. Das Publikum wird per Videokamera einzeln ins Fadenkreuz eines Kampfhubschraubers genommen und irgendwann kommen auch noch die Scheinwerfer bis auf einen Meter Abstand vom Bühnenhimmel herab und grillen einem den Scheitel.

Sacrifice2 560 TheaterOperundOrchesterHalle FalkWenzel uAlle*s auf den Kopf gestellt und grell beleuchtet. Dazu: laute Musik – © Falk Wenzel

Mit der Musik tritt die Szene so in einen absurden Potenzierungswettlauf. Ihr Bestreben scheint, die Macht über die enteilten Bilderwelten des Terrorismus und Rechtsextremismus ausgerechnet dadurch zurückzugewinnen, dass man sie auf der Bühne krachend ineinander fahren lässt, bis nur noch die unverbundenen Scherben eines einzigen großen Schlamassels zurück bleiben. So zieht Pegida fähnchenschwenkend durch den ersten Rang, belagern suppengierige Geflüchtete mit Sack und Pack den Esstisch der deutschen Kleinfamilie und üben Jana und Henny das Enthaupten per Schlachtermesser allen Ernstes an ihren Teddybären. Wer denkt sich sowas aus? Und wer versäumt zu verhindern, dass es umgesetzt wird? Bevor man aber solche und noch drängendere Fragen an den Abend stellen könnte, dreht man sich eh schon wieder weiter.

Sacrifice
Uraufführung
Oper in vier Akten von Sarah Nemtsov
Text von Dirk Laucke
Regie: Florian Lutz, Musikalische Leitung: Michael Wendeberg, Bühne: Sebastian Hannak, Kostüme: Mechthild Feuerstein, Video: Konrad Kästner, Dramaturgie: Michael von zur Mühlen.
Mit: Anke Berndt, Gerd Vogel, Vladislav Solodyagin, Tehila Goldstein, Marie Friederike Schöder, Frank Schilcher, Nils Thorben Bartling, Sybille Kreß, Staatskapelle Halle.
Dauer: 2 Stunden 5 Minuten, keine Pause

buehnen-halle.de

 

Kritikenrundschau

"Eine Art von globalisierendem und beklemmendem Welttheater" hat Joachim Lange gesehen und schreibt in der Mitteldeutschen Zeitung (7.3.2017): Der Zusammenhang stelle sich freilich weniger durch den Text her, der zum größten Teil in den Untergrund gegangen sei "und nur ab und zu mal an die Oberfläche blubbert". Es dominiere "der Klangrausch, den Nemtsov entfesselt und der die Assoziationsräume öffnet in die brandaktuelle Geschichte". Regisseur Florian Lutz habe zudem "klare Bilder bei der Hand". Und doch täten weder die Autoren noch der Regisseur so, als wären sie schlauer als die Zuschauer im Saal. Das gehöre auf die Habenseite der Produktion, so Lange – jedoch: "Irgendwann hat man das Gefühl, dass sie nicht mehr so recht herausfindet aus ihrer Selbst- und Zeitbefragung." Zwei Stunden ohne Pause und ohne nennenswertes Atemholen in einem emotionalen Dauererregungszustand – das müsse man erstmal durchhalten. "Weniger wäre da viel mehr gewesen."

Ein "Kreuzfeuer von Projektionen, Monitoren, klanglicher Überwältigung, vokalen Aktionen, gedankentiefen Dialogen" beschreibt Roland H. Dippel in der Neuen Musik Zeitung (6.3.2017). "Der ultimative Gegenwartsbezug und die Ratlosigkeit ohne Ausweg machen befangen." Das Stück sei Fragment "oder gibt sich als solches", so Dippel: "Die Uraufführung führt in die rabiate Überwältigung des Publikums. Bilderfluten imponieren, zermürben aber auch den Willen zum Verstehen. Kathartisches Mitgefühl und emotionale Teilhabe ermüden deshalb."

"Es mag poe­ti­sche­re Opern­aben­de ge­ben, auch hu­mor­vol­le­re, aber we­nig ar­ri­vier­te­re", findet Chris­ti­ne Lem­ke-Mat­w­ey in der Zeit (9.3.2017). Was Leit­ar­tik­ler und in­tel­lek­tu­el­le Ana­lys­ten täg­lich durch die Es­say­müh­le dre­hten, werde in Hal­le leib­haf­tig, sinn­lich er­fahr­bar. Die Kritikerin lobt Sa­rah Nemt­s­ovs star­ke, ab­so­lut un­eit­le Mu­sik, de­ren Kunst­cha­rak­ter man nach ei­ner Wei­le kaum mehr wahr­nehme: "Klang wird Raum wird Zeit wird Wirk­lich­keit". Auch Regisseur Flo­ri­an Lutz lasse sich zu kei­ner Bot­schaft hin­rei­ßen. "Au­ßer zu der­je­ni­gen viel­leicht, dass die Oper, will sie die Welt ver­än­dern, bei sich selbst an­fan­gen muss."

Sarah Nemtsov und Dirk Laucke sei ein bewegendes Werk gelungen, das einen eindringlichen Ausdruck finde für das reizüberflutete, tendenziell erinnerungslose Dauerrauschen der Gedanken in einer orientierungslosen Zeit, schreibt Julia Spinola in der Süddeutschen Zeitung (30.3.2017). Die Bilder von Regisseur Florian Lutz seien unmissverständlich, wenn vielleicht auch eine Spur zu plakativ. Und weiter: "Das Geschehen entwickelt sich eher mit einer epischen Breite, als dass es sich dramatisch zuspitzen würde. Und dazu wirkt die Musik wie die Bestandsaufnahme einer inneren Orientierungslosigkeit. Sie ergreift nicht Partei, sie trägt keine Konflikte aus und sie gibt, dies vor allem, auch keinerlei Antworten. Immer bleibt das Gefühl, es könne auch anders weitergehen."

Kommentar schreiben