Dickicht - Am Maxim Gorki Theater Berlin braucht Sebastian Baumgarten mit Brecht das Chaos auf
Bums
von Gabi Hift
Berlin, 11. März 2017. Nackte Plattenbaublöcke, mit hunderten beleuchteten Fenstern, schwarz-weiße Spielzeugquader, einen halben Meter hoch, little boxes – all the same. Dunkel. Ein Knall. Rauch. Schwarze Gestalten entern die Bühne, springen auf die Dächer, Freerunner. "Zieh den Hut ins Gesicht!" skandieren sie. "Verwisch die Spuren!" Anweisungen aus Brechts "Handorakel für Städtebewohner". Dann beginnt das Stück – als Film ohne Ton, auf großer Leinwand. Die Schauspieler, schwarz gekleidet wie Marionettenspieler, fungieren live als ihre eigenen Synchronsprecher.
Was wollte dieser Shlink?
Obwohl es "nach Brecht" heißt, folgt die Inszenierung von Sebastian Baumgarten dem Originaltext von "Im Dickicht der Städte". Es hat eine großartige Sprache, wild, heiß, anarcho-expressionistisch. Man hört den jungen Brecht, den größten Lyriker des 20. Jahrhunderts. Anderes wiederum hat das Stück leider nicht: Sinn. Moral. Eine Geschichte. Brecht: "Einen großen Fehler sonstiger Kunst hoffe ich im Dickicht vermieden zu haben: die Bemühung mitzureißen." Da kann man ihm nur gratulieren: Mission erfüllt. "Bums ohne Inhalt" nannte es Alfred Kerr. (Aber –oh– wie es bumst!)
"Ich hätte das Stück vorher lesen sollen", sagt eine Zuschauerin beim Hinausgehen, "ich hab überhaupt nicht verstanden, worum es geht." Sie ist überzeugt, dass ihre Verwirrung nur an der Inszenierung liegen kann – und irrt sich gründlich. "Was", fragt sie ihre Begleitung, "wollte dieser Shlink?"
Shlink, ein reicher malaiischer Holzhändler (Thomas Wodianka) kommt mit seiner Entourage in eine Leihbibliothek und verlangt vom Angestellten Garga (Till Wonka), er solle seine Meinung über ein Buch ändern, für Geld. Nicht zufällig, Shlink hat Garga gewählt. Er weiß alles über dessen Familie und über seinen Wunsch nach Tahiti auszuwandern wie Gauguin. Als Garga sich weigert, seine Meinung zu verkaufen, sorgt Shlink dafür, dass er entlassen wird. Auf der Leinwand entspinnt sich ein Film noir, man denkt an Douglas Sirk und Fassbinder. Das Ensemble spielt klassischen Brechtstil: mit Sprachfehlern, Hinken, Blindaugen, schmalzigen Perücken und einem unsentimentalen, rasiermesserscharfen Ton, als ob man dem anderen einen Kirschkern ins Auge spuckt.
Die pure Lust am Kampf
Das Live-Synchronisieren ist ein schöner Verfremdungseffekt, allerdings lässt er den Schauspielern wenig Freiheit. An manchen Stellen spielen sie auch auf der Vorbühne weiter. Shlink droht mit dem, was schon damals der Standard-move war: "Ich f*** deine Schwester." Aber als die Schwester sich ihm an den Hals wirft, verschmäht er sie. Lea Draeger spielt Marie Garga völlig ohne Selbstmitleid – "ich bin ganz zersägt. Ich zittere in den Kleidern und sage ihm das Falsche" – und sehr rührend. Shlink macht Gargas Verlobte Jane (Mateja Meded) zur Hure, Garga schlägt zurück, indem er sie trotzdem heiratet.
Nach einer Weile kennt man aber alle Marotten der schrillen, verzweifelten Huren, kennt die schlampigen Sehnsuchtsmänner, faul, aber immer unter Strom, getrieben von Rimbaud und Wut und Schnaps, und es tut sich ein gähnender logischer Abgrund in der Mitte der Chose auf: Was will dieser Shlink?
Was Brecht darstellen wollte, war die pure Lust am Kampf. Ohne Motiv. Er war ein Fan des Boxsports – wollte "den Spaß am Kampf" zeigen, der nur mit dem Ziel geführt wird, dass der "bessre Mann" festgestellt wird. Schön und gut – aber "besser" geht nur in einer Disziplin. "Besser" braucht einen Maßstab. Keins von beidem gibt es in dem Kampf, den Shlink anzettelt. Brecht rät den Zuschauern, sich nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern das Interesse auf das Finish zu lenken. Eine Gemeinheit – wie soll man einem Kampf folgen, dessen Regeln man nicht kennt.
Das Verbrechen des europäischen Rassismus'
Freilich gibt es die homoerotische Begründung. Jeder kennt das: zwei Männer, die sich auf Gedeih und Verderb prügeln, dass die sexuelle Energie nur so spritzt. Aber die These: "Männer kämpfen nur um ihre Homosexualität zu verdrängen. Müssten sie das nicht, würden sie sich alle friedlich in weichen Betten aneinander kuscheln" ist als alleinige Erklärung von Hahnenkämpfen ziemlich spießig. Und es gibt zwar im Text einiges, was nach Liebeserklärung klingt, aber leider knistert es auch nicht zwischen Wodianka und Wonka. Wonkas Garga ist kein junger Wilder, er ist schwächlich und unsicher. Oft steht er wie ein schnurrbärtiges Schaf zwischen Plattenbauten und schaut ratlos in die Gegend. Verständlich – auch er fragt sich: Was will dieser Shlink?, aber sexy ist es nicht.
Das Programmheft verkündet außerdem, "das Verbrechen des europäischen Rassismus wird wohl in keinem Stück dieser Zeit so klarsichtig thematisiert wie in Dickicht." Als die Meute kommt, um Shlink zu lynchen, brennt im Film das Rostocker Asylantenheim – einer der wenigen Gegenwartsbezüge der Inszenierung. Dass Brecht das Verbrechen des Rassismus thematisieren wollte, ist nur schwer zu erkennen. Er brauchte Shlinks gelbe Haut, damit die beiden sich als Fremde gegenüberstehen konnten. Was auf die Figur des Einwanderers Shlink sicherlich zutrifft, ist, dass auch erfolgreich integrierte Immigranten noch nach Generationen nicht wirklich "mitspielen" dürfen bei den internen Kämpfen um Macht und Einfluss – und sich vermutlich nach einer Art Heimat im Gerangel der "pursuit of happiness" sehnen.
Aber so richtig kriegt man die Figur Shlink auch damit nicht zu fassen. Und so treten Stück und Zuschauer auf der Stelle in dieser wie wohl auch in allen früheren Aufführungen des Stücks. Am Ende sagt Garga den berühmten Satz: "Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit." So richtig genießen konnte man sie nicht, dazu steht sie zu still.
Dickicht
nach Bertolt Brecht
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Robert Lippok, Musik: Stefan Schneider, Film: Hannah Dörr, Kostüme: Jana Findelklee und Joki Tewes, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Thomas Wodianka, Till Wonka, Lea Draeger, Mateja Meded, Taner Şahintürk, Aleksandar Radenković, Dimitrij Schaad, Norbert Stöss.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.gorki.de
Brechts dem Stücks vorangestellte Anweisung, das Interesse aufs Finish zu lenken, folgt Regisseur Sebastian Baumgarten ziemlich werktreu, schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (13.3.2017). Der Regisseur mische ein wenig Lyrik unter. "Die eigentliche Verfremdung ist ein 'Dickicht'-Film, der als groteskes, Fassbinder-mäßiges Melodram stumm im Hintergrund läuft und von der Bühne aus live synchronisiert wird." Hier wie dort sind die Gesten ins Absurde vergrößert. Alles sehr episch eben. "Das Ensemble beherrscht den Stil perfekt." Dass der zweieinhalbstündige Abend trotzdem hier und da durchhänge, liege weniger Sebastian Baumgarten. Sondern an Brechts Stück, "in seiner Sinnverweigerung gelegentlich etwas selbstgefällig", so luzide und kristallscharf er auch geschrieben sei.
Gleich schon der Anfang sei ein Abgesang auf unsere Gegenwart, so Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (13.3.2017). "Es sind gefährliche Zeiten, das weiß auch dieser Abend. Er sucht deshalb nach Antworten auf das Ausschließlichkeitsdenken – und findet stets, was er selbst an den Anfang setzt. Eine Inszenierung in der Selbstbestätigungsschleife." Der Rest sei Form, Szenenspielerei, ausgestelltes Klappern mit dem Dialektikbeutel. Denn alles laufe auf ein mechanistisches Gesellschaftsbild hinaus.
"Die Trennung von Bild und Ton ist so virtuos wie verblüffend", findet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.3.2017). Sie verdichtee einerseits die Konflikte und verhindere andererseits die Identifikation mit den Figuren im Sinne Brechts. "Was der mit seinem Verfremdungseffekt erzielen wollte – dass Darsteller wie Publikum mitdenken und nicht bloß mitfühlen – verdeutlicht Baumgarten mit aktuellen Mitteln. Das Ensemble folgt ihm dabei bravourös, bleibt bei aller Leidenschaft kühl und bei aller Verstandesklarheit euphorisch." Der gut zweistündige Abend überzeuge "mit seiner geschickt angewandten Dialektik, deren Funktionsweise frei Schnauze einmal so beschrieben wird: 'Wenn du denkst, du hastn – springt er ausm Kasten.'"
"Als Zumutung funktionieren Text und Inszenierung immer noch hervorragend", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (16.3.2017). Baumgarten finde für den sinnlosen, um seiner selbst Willen ausgetragenen Kampf mit dem Stummfilm "eine zwingende Form, die in ihrer betonten Künstlichkeit die Fremdheit des Stücks nicht glatt bürstet, sondern ausstellt". Brechts Rätselstück über die Entstehung der Tragödie aus dem Geist des Boxkampfs wirke hier "so frisch und aggressiv, als wäre es jederzeit bereit, sämtliche andere Theaterformen mit einem schnellen linken Haken auf die Bretter zu werfen".
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Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/03/12/das-chaos-und-das-nichts/
Es könnte ein großes Schauspielerfest werden. Auf der Bühne sind einige der besten Spieler versammelt, die das Gorki-Ensemble zu bieten hat: Lea Draeger, Aleksandar Radenković, Taner Şahintürk, Dimitrij Schaad, Thomas Wodianka und Till Wonka. Hinzu kommen Mateja Meded, die schon aus Yael Ronens „Common Ground“ bekannt ist, und Norbert Stöss, eine der tragenden Säulen aus Claus Peymanns Berliner Ensemble.
Leider werden diese Schauspielerinnen und Schauspieler in ein verkopftes Regie-Korsett hineingespresst: Im Hintergrund ein Stummfilm-Video mit stark überzeichneten Grimassen im Stil des Expressionsmus abgespult wird, vorne stehen die schwarzen Schatten der Schauspieler und sprechen den Text ein. Ob die Lippenbewegungen halbwegs synchron sind, ist an diesem Abend einerlei.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/03/12/dickicht-sebastian-baumgarten-zwaengt-brechts-fruehwerk-am-gorki-theater-ins-regie-korsett/
"Aber die These: "Männer kämpfen nur um ihre Homosexualität zu verdrängen. Müssten sie das nicht, würden sie sich alle friedlich in weichen Betten aneinander kuscheln" ist als alleinige Erklärung von Hahnenkämpfen ziemlich spießig."
Bleibt also die Frage, ob die Inszenierung Wert darauf legte, nur einen Grund für Männerkämpfe entdeckenfindendarstellen zu wollen.
Oder ob die Kritikerin in der entsprechenden Darstellung keine weitere These für den Grund von Männerkämpfen vorfinden, entdecken, sehen konnte...
Der jungen Theater-Videokünstlerin Hannah Dörr ist in Zusammenarbeit mit dem Team ein großartige Adaption gelungen! Chapeau!