Wo der Unheilsrabe fliegt

von Gerhard Preußer

Düsseldorf, 17. März 2017. Wer ist Medea? "Ich bin Medea", sagt sie und diese bloße Namensnennung ist zur Formel der Selbstbehauptung geworden, zur Definition ihrer Singularität. Was sie in Roger Vontobels Düsseldorfer Inszenierung nicht ist, lässt sich leicht sagen: weder bereuende Mutter, noch wütende Rächerin, noch exotische Zauberin, noch betrogene Flüchtlingsfrau. Oder sie ist alles das. Medea als Charakter bleibt offen, daher rätselhaft, von Anfang an eine Halbverrückte, die nie ruhig stehen kann vor Jammer, Leid und Wut. Am ehesten ist sie ein Familienmensch, was die ständige Präsenz ihrer beiden Kinder auf der Seitenbühne nahelegt. Doch auch das legt sie nicht fest. Eine Frau von heute jedenfalls, in glitzernden, hautengen Leggings und locker hängendem T-Shirt.

Stummes Würgen

Die Inszenierung ist völlig konzentriert auf ihre preisgekrönte Hauptdarstellerin, Jana Schulz. Diesem Druck hält sie stand, aber mit Mitteln, die nicht überraschen. Den innerlichen Kampf zwischen Eifer-sucht, Rachedurst und Kinderliebe verkörpert sie als muskulären Krampf, immer wieder als ein stummes Würgen, immer wieder wankt sie mit weit geöffnetem Mund, zuckt, windet sich zu Boden, bis irgendwann ein Stöhngeschrei sich löst.

Zweimal hockt sie wie ein schwarzer Unheilsrabe in einem der Fenster der großen weißen Hausfront, mit der Bühnenbildnerin Muriel Gerstner das symbolisiert, worum es geht: das Haus, der Oikos, und das ist für die antiken Griechen die Familie (die Kleinfamilie kannten sie ja nicht, nur die Wirtschaftseinheit von Sklaven, Arbeitstieren, Frauen, Kindern). Von dort fliegt sie herab auf Jason (Torben Kessler), den aufrichtig tumben Vorteilsnehmer, der so ökonomisch klug seine Sprüche sagt, man solle das Nützliche nicht schmutzig nennen, und doch so leicht zu betören ist.medea1 560 Sebastian Hoppe uTorben Kessler, Thomas Meller, Tilo Sassen, Jana Schulz  © Sebastian Hoppe

Zweimal steht Medea in der Tür dieses Hauses, mit entblößtem Oberkörper, Rücken zum Publikum, dekorativ beleuchtet. Eine Frau, das ist sie auch, doch die feministische Seite des Psychologen Euripides wird wenig hervorgekehrt. Dass er hier gegen alle antike Frauenverachtung eine Frau wählt, um zum ersten Mal in der Geschichte des Dramas das Innenleben einer Figur so radikal durchzuprüfen und auszustellen, man vergisst es fast.

Keinen Pfifferling für die Besonnenheit

Der Chor besteht aus drei Frauen und einem Mann, angesprochen werden sie als Bürger - nicht Frauen wie im Original - von Korinth. Er trägt vor allem die Backgroundvocals bei. Vor Mikrophonen stehend rappen sie gut rhythmisiert die Volksweisheit: "Ich wünsch mir Mäßigung." So parodiert glaubt niemand mehr, dass die altgriechische Kardinaltugend der Sophrosyne, der Besonnenheit, der abwägenden Kontrolle spontaner Regungen, noch einen Pfifferling wert sei. Vor Pathos braucht hier auch niemand Angst zu haben, die Pausen zwischen den bedeutungsschweren Worten werden mit Gitarrengezirpe aufgefüllt.

Zwei Höhepunkte hat die Inszenierung: Nachdem König Aigeus (Markus Danzeisen), ein jämmerlicher goldener Clown, den Medea mit einem Schubs verabschiedet, dass er auf die Hinterbühne kullert, ihr das Asyl in Athen zugesichert hat, kann Medea an die Verwirklichung des kühnsten ihrer Pläne gehen: die Ermordung der Angehörigen Jasons, seiner Braut Kreusa, ihres Vaters und ihrer eigenen Kinder. Dazu schiebt Medea das Bühnenhaus in die Drehung, die Hinterseite wird sichtbar, eine verranzte Flüchtlingsunterkunft, mit zerfallender Fassade und einem Graffiti "Hekate", dem Namen der von Medea verehrten Hexen-Göttin. Dazu dreht auch der Musiker Keith O’Brien, der am Bühnenrand Keyboard, Mischpult und Gitarre bedient, die Regler mächtig auf. Die Verhältnisse geraten in Bewegung. Der Sturm geht los, jedenfalls akustisch und optisch.

Zerrissen

Der andere Höhepunkt ist ganz verinnerlicht: die Abschiedsszene. Medea liebkost ihre Kinder, zwei Jungs von sieben oder acht (Tilo Sassen, Thomas Meller), stößt sie doch auch explosiv von sich, holt sie zurück, und schreit sie an: "Geht jetzt". Der Wirkung dieses Zwiespalts entzieht sich niemand.

Dann wiegt sich Medea selbstverliebt im Siegesgenuss beim Bericht vom Tode Kreons und Kreusas. Der undarstellbare Kindermord wird durch eine ebenso schlichte wie absichtsvoll ferne Symbolik repräsentiert. Eine kleine Spieluhr klimpert kindlich zart "Für Elise", bis die Feder abgespannt ist und der schwache Ton erlischt. Die Kinder gehen aus dem Haus. Jason kommt noch herangekrochen, doch Medea verhöhnt ihn nur. Eine coole Zerstörerin im schwarzen Hoodie, sie könnte auch gerade einen Vergewaltiger zusammengeschlagen haben, tough und trainiert wie sie ist. Aber ihre Kinder hat sie umgebracht. Sie bleibt die Provokation, die uns Euripides über die Jahrtausende herüberschickt.

 

Medea
von Euripides
Deutsch von Peter Krumme
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüm: Tina Kloempken, Musik: Keith O'Brien, Dramaturgie: Felicitas Zürcher.
Mit: Jana Schulz, Torben Kessler, Michaela Steiger, Judith Bohle, Claudia Hübbecker, Markus Danzeisen, Lieke Hoppe, Stefan Gorski.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenrundschau

Roger Vontobel setze ganz auf seine Hauptdarstellerin, schreibt Dorothee Krings in der Rheinischen Post (20.3.2017). "Und Jana Schulz ist wild entschlossen, aus der Medea eine Radikale der Gegenwart zu machen." Allerdings stehe ihre "wuchtige Darbietung wie verloren auf der Bühne", denn Vontobel mache aus dem Chor ein "lächerliches Sprechergrüppchen in hippen Klamotten" und aus Jason einen "modernen Durchschnittstypen", so Krings: "Wie so einer so viel Hass in Medea schüren kann, bleibt rätselhaft." Trotzdem gelinge es Schulz, ihren Hass als "Fanatikerin im Kapuzenpulli" glühend zu halten. Es wirke aber "wie harte Arbeit".

"Wie sich Jana Schulz entmenschlicht, wie die Wucht ihrer Wut durch sie hindurch nach außen bricht, ist ein beeindruckendes Erlebnis", findet auch Marion Troja in der Westdeutschen Zeitung (20.3.2017). "'Ich bin allein und ohne Heimat', in diesen Worten steckt der Kern ihrer Verzweiflung, der dem Abend eine gelungene Aktualität gibt, ohne platt auf gegenwärtige Ereignisse zu verweisen." Trotz Chor und einigen Szenen mit Jason handle sei er "nahezu ein Solo" und biete die Möglichkeiten, die im Spiel der Protagonisten miteinander lägen, nur in wenigen Momenten: "Etwa wenn Medea ihren Mann listig um Verzeihung bittet, und die beiden Darsteller die Grenze zwischen Liebe und Hass gekonnt verschwimmen lassen. Davon hätte man sich mehr gewünscht."

"Regisseur Vontobel, eher Ausstatter als Kernsucher, nimmt in Kauf, dass Erhabenheit und Logik des Antikendramas auf der Strecke bleiben", ist dagegen Anna Brockmann in der Neuen Rhein Zeitung (20.3.2017) streng. "Diese Figuren haben nichts Königliches mehr." Selbst Medea bleibe "ein Opfer, beherrscht von Hysterie". "Jana Schulz ist großartig, eine Wahnsinns-Schauspielerin", so Brockmann. "Eine große Medea, in der Härte und Verletzlichkeit verschmelzen, ist sie nicht."

Medea werde von der "Ausnahme-Schauspielerin" Jana Schulz gespielt, "die gegensätzliche Gefühle und Energien in sich vereinen und aus sich herausbrechen lassen kann, Grenzgängerin und Gratwandlerin, heißkalt und hartzart", berichtet Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.3.2017). "Die wilde Größe der Figur zu erschließen und in vielen Facetten aufzufächern ist ihr keine Anstrengung, und doch rückt die Regie sie derart dominant in den Mittelpunkt, dass die anderen Figuren als besser Statisten erscheinen (...)". Im Ganzen ist der Kritiker von dem Abend nicht überzeugt: "Für den Schein der Aktualität kapituliert die Düsseldorfer Inszenierung vor dem Mythos."

 

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