Der Frühling unseres Missvergnügens

von Esther Slevogt

22. März 2017. Der Frühling, das ist im Grunde natürlich eine Urangelegenheit aus dem bürgerlichen Heldenleben. Denn kaum sind Flüsse und Bäche (im hiesigen Brandenburg auch die Seen) vom Eise befreit durch des Frühlings holden, belebenden Blick, da grünt im Tal auch schon das bürgerliche Hoffnungsglück. Da flattert wieder das blaue Band durch die Lüfte, wie aktuell Martin Schulz über der SPD.

kolumne 2p slevogtJenseits des Ärmelkanals freut man sich wie jedes Jahr um diese Zeit an den im nämlichen Frühlingswind wogenden Narzissenfeldern. Angesichts des wolkig über all dem Narzissengelb umherschweifenden Briten denkt der Kontinentaleuropäer allerdings eher an den Brexit. Denn kommt der Mai, kommt der Austrittsantrag. Tiefschwarz, das. Europa in Trauerflor.

Grundsätzlich aber ist der Frühling die Jahreszeit, in der nicht bloß die Knospen, sondern wie pawlowsche Reflexe auch die vielen Verse aus dem Schatzkästlein alter bürgerlicher Innerlichkeit quellen. Aus den Tiefen unseres Gemüts sozusagen, das sich aus zähen Odysseen unter der Eisdecke unserer Gegenwart zum Lichte befreien möchte. Denn er war ja auch wahrlich lang, der Winter unseres Missvergnügens. Auch wenn wir in Wirklichkeit weder Mörikes noch Glosters Optimismus aus Shakespeares "Richard III." unbeschwert und unvereist teilen können. Denn die süßen Frühlingsdüfte werden sich womöglich bald als wohlbekannter SPD-Mief entpuppen. Und Donald York vulgo Twitternebelkerze Trump wird uns erst recht keinen glorreichen Sommer bringen. Seine Sonne ist längst verdunkelt. Von Schwärmen blauer Vögel, die den Winter über ihre Ausscheidungen über uns entleerten.

Was ist die Deklamation des Osterspaziergangs gegen die Gründung einer Fake-Fabrik?

Kurzum: Dichtung ist nicht mehr das, was sie mal war. Und die Texte, die solange Folien bürgerlicher Selbstvergewisserung waren, werden den aktuellen Epochenwechsel möglicherweise nicht überleben, und neue Generationen blicken darauf vielleicht wie unsereins auf frühmittelalterliche Folianten. Was ist die Deklamation des Osterspaziergangs gegen die Gründung einer Fake-Fabrik!


Oh wilde, eisbefreite Ambivalenz! Der Bürger, der eben noch voll freudiger Gewissheit über die Regelmäßigkeit der Abläufe in der Natur, auf die er einst so selbstsicher sein Weltbild gründete, aus hohlem finstern Tor buntwimmelnd hervorgetreten ist, setzt damit ja erst recht das nächste Unglück in Gang. Denn im Gegensatz zu den Knospen, die bloß aufblühen wollen, wollen seine Triebe befriedigt sein. Am Ende ist bekanntlich nicht nur das Gretchen tot. Und der Intellektuelle ebensowenig gerettet wie wir.

Ödön von Horváth zum Beispiel, dessen letztes Gedicht folgendermaßen geht:

Und die Leute werden sagen
In fernen blauen Tagen
Wird es einmal recht
Was falsch ist und was echt

Was falsch ist, wird verkommen
Obwohl es heut regiert.
Was echt ist, das soll kommen –
Obwohl es heut krepiert.

Man fand den Text am 1. Juni 1938 in der Tasche des toten Autors, in seinem Pariser Exil niedergestreckt von einem Ast, den ein Frühlingsgewitter vom Baum gerissen hatte.

 

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin und Kuratorin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt schrieb Esther Slevogt in ihrer Kolumne über Die Welt als GIF und Verstellung.

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