Sehnsucht nach Schweigen
31. März 2017. Der Schriftsteller Christoph Höhtker lebt in Genf, fliegt nach Hamburg zur Premiere von "Ich kann nicht mehr" und denkt in der NZZ grundlegend über René Pollesch nach.
"Wie viele Jahrzehnte musste man in Goethe-Instituten verdämmern, um die ersten anderthalb Minuten, quasi die Aufwärmwortkaskade eines durchschnittlichen Pollesch-Stückes in all ihren Anspielungen, Hintergrundoptionen und Humorkategorien zu erfassen? Nein, unmöglich. Für Fremd- und Muttersprachler", schreibt in der NZZ Christoph Höthker, der eigentlich in Genf lebt, nach Hamburg reist und dort überlegt: "Wer angepasst gegen die Normen verstösst, ist der nun ein Fall für Pollesch, ein potenzieller Pollesch-Konsument, oder gerade nicht, gar ein Pollesch-Objekt, ein Pollesch-Opfer?" Bedeute bereitwilliger Pollesch-Konsum, wie er ihn am Deutschen Schauspielhaus erlebt, gegen etwas zu sein, oder sagt derjenige, der Ja zu Pollesch sagt, letztlich gar nichts? "Denn wie ich noch lernen sollte, geht es bei Pollesch präzise um das Unsagbare. Um mit Abertausenden von Satzgirlanden verzierte Vakua." Man sage etwas, "man sagt unendlich viel, doch man kommt seinem eigenen, tragisch-farblosen Kern keinen Zentimeter näher".
Was man nicht sagen kann
Nach der Vorstellung Irgendwann lief die wunderbare Kathrin Angerer an uns vorbei. "Phantastisch rübergekommen sei sie, teilte ich ihr mit." Was solle man auch sagen? "Man redet ohnehin immer nur Quatsch. Sagt Pollesch. Man redet eben, weil man das, was man wirklich sagen möchte, nicht sagen kann. Ausserdem möchte man gar nichts sagen, sondern nur kreischend durch die Gegend rennen, bis man endlich, endlich eingefangen und in eine Funktionszwangsjacke gesteckt wird. Frau Angerer schaute mich an. Hatte ich laut gedacht? Oder sie? Wir schauten uns an, wie sich Insekten betrachten."
Hinterher fährt Höthker auch noch nach Lübeck: "Ich stelle die Behauptung auf, dass in einer durchschnittlichen René-Pollesch-Revue mehr geredet wird als in Lübeck in einem Jahrzehnt. In dieser Stadt funktionieren die Jacken so gut, dass jedes Wort überflüssig ist. These: Pollesch-Stücke sehnen sich nach Schweigen, die Jacke ist das Schweigen."
(sik)
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