Emilia Galotti - Am Staatstheater Cottbus von Jan Jochymski ins Heutige geholt
Story, Alter!
von Wolfgang Behrens
Cottbus, 1. April 2017. Vor einigen Monaten ist die Schauspielsparte des Staatstheaters Cottbus ins Gerede gekommen, als das Ensemble auf die Nicht-Verlängerung seines Schauspieldirektors Mario Holetzeck mit einem Offenen Brief reagierte. Die Unterzeichner*innen zeigten sich von der Entscheidung des Intendanten Martin Schüler "tief getroffen" und versicherten, auch über 2017 hinaus mit Holetzeck arbeiten zu wollen. Geändert hat das nichts mehr: Nur wenige Wochen später wurde mit Jo Fabian der kommende Schauspieldirektor vorgestellt. Dem Ensemble und Holetzeck blieb nichts weiter übrig, als erhobenen Hauptes dessen Abschiedssaison anzugehen, die unter dem recht dehnbaren Spielzeitmotto "Glauben! Lieben! Hoffen!" steht.
Achtung Tugendpathos
Der scheidende Direktor hat mittlerweile mit "Mamma Medea" von Tom Lanoye eine letzte – und wenn man etwa Hartmut Krug Glauben schenken darf: sehr überzeugende – Produktion vorgelegt. Mit Jan Jochymski inszeniert in Cottbus nun einer, der den Schritt vom Schauspieldirektor ins freie Regisseursdasein schon hinter sich hat: Jochymski allerdings hat 2014 in Magdeburg gänzlich freiwillig den Hut genommen. Sein Cottbuser Auftrag lautet jetzt: "Emilia Galotti". Natürlich im Großen Haus, denn Lessings "Emilia" ist – keine Frage – ein All-Time-Klassiker, zur immer-und-ewigen Schullektüre verdammt. Warum letzteres so ist, das könnte man freilich die Bildungsministerien schon einmal fragen: Vielleicht gibt ja eine junge Frau, die sich lieber von ihrem Vater erstechen lässt als sich verführen zu lassen, für 17-Jährige ein gar nicht so attraktives Role Model ab? Jedenfalls hat sich jede Inszenierung dem Problem zu stellen, ob man das in "Emilia" auch waltende Tugendpathos als ein großes Fremd-Gewordenes belässt oder ob man es irgendwie ins Heute zu holen sucht.
Jan Jochymski schlägt deutlich den zweiten Weg ein. Die von Simone Steinhorst erdachte korkfarbene Drehscheibe, auf die es zuerst – Achtung: Intrige! – zahlreiche Briefe und später – Achtung: Tragödie! – blutrote Kügelchen regnet, lässt junge Leute von heute umeinander rotieren, durchaus charakteristische Typen, die man zu kennen meint. Da ist der Prinz Gonzaga, ein vergnügungssüchtiger und wohlstandsverwahrloster Schönling, der keine Arbeit, die schalen Freuden des nie versiegenden Geldstroms seiner Erzeuger aber umso besser kennt. Johannes Kienast – der bejubelte Cottbuser Hamlet, der das Ensemble zum Ende der Spielzeit in Richtung Braunschweig verlassen wird – spielt diesen Prinzen mit silbenverschluckender, lümmeliger Arroganz, unter der er immer wieder jungenhafte Unsicherheit aufscheinen lässt: Er stolpert dann über den Rand der Drehscheibe oder zieht verlegen an seinen Fingern. Wenn er nicht gerade zum Selbstschutz seine pinke Hipsterbrille aufsetzt.
Milieustudie heutiger jeunesse dorée
Da ist Marinelli, ein gegelter Ehrgeizling, gewissermaßen der Consultant des Prinzen, den Henning Strübbe mit aalglatt unverbindlichem Lächeln und mal stechendem, mal unstet flackerndem Blick ausstattet. Oder Orsina, die in dieser schnelllebigen Partygesellschaft dummerweise aus der Gunst des hübschen Prinzen-Schnösels fällt: Lisa Schützenberger lässt diese Zurücksetzung sehr glaubhaft in exaltierte Übersprungshandlungen umschlagen, die sie sogar lasziv sich an die Brust Marinellis werfen lassen. Und da ist Emilia Galotti, bei Lucie Thiede ein püppchenhaft rosa gekleidetes Mädchen, das süß kichernd die Hand vor den Mund schlägt, wenn sie so geschmeichelt wie aufgeregt von den Nachstellungen des Prinzen berichtet.
Sie alle sprechen und spielen den Lessing'schen Text sehr lässig, sehr im Hier und Jetzt, mit Interjektionen, die von "wow" über "puh, mal überlegen" bis "hobbeldi-bobbeldi" reichen. Lessing hält das locker aus, und das Ganze geht über weite Strecken als Milieustudie schöner und reicher Jugendlicher durch. Bis – ja: bis der Dolch ins Spiel kommt. Und die Tugend. Und das Pathos. Es ist nicht so, dass Lucie Thiede Sätze wie: "Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt" nicht mit Wahrhaftigkeit sprechen könnte. Doch dem harmlos-heutigen Mädel, das sie vorher gezeichnet hat, nimmt man diese Wandlung nun einfach nicht mehr ab. Der Dolchstich des Vaters (Rolf-Jürgen Gebert), seine aufgereckte, mit drohendem Zeigefinger den ewigen Richter anrufende Gestalt sind am Ende nur angeklebter Tragödiendonner. Das ist der Preis, den Jochymski entrichtet: Je plausibler er vier Akte lang die Figuren im Heute verankert, umso tiefer bleibt das sich erfüllende Trauerspiel des fünften Aktes im Gestern stecken.
Emilia Galotti
von Gotthold Ephraim Lessing
Fassung von Jan Jochymski
Regie: Jan Jochymski, Bühne und Kostüme: Simone Steinhorst, Dramaturgie: Bettina Jantzen.
Mit: Lucie Thiede, Rolf-Jürgen Gebert, Sigrun Fischer, Johannes Kienast, Henning Strübbe, Heidrun Bartholomäus / Susann Thiede, Michael von Bennigsen, Lisa Schützenberger.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-cottbus.de
Der "schwergewichtige Bühnenstoff" komme in Cottbus "leicht und leidenschaftlich daher", schreibt Ida Kretzschmar in der Lausitzer Rundschau (3.4.2017). "Lessings philosophische Gedanken, seine raffiniert ausgeklügelten Wortgefechte, sind in jeder Zeile wiederzufinden. Unpathetisch und dennoch mit der ihm eigenen Hitzigkeit füllen sie den Theatersaal." Es gebe "so manchen Regieeinfall und zeitlose Kostüme, die das Stück ganz gegenwärtig wirken lassen, ohne es auf Krampf zu modernisieren." Alles in allem sei es "eine tolle Ensembleleistung, bei der die Drehbühne, sparsam von Simone Steinhorst dekoriert, fast zu einem weiteren Mitspieler wird." Zur Kritik sind auch Zuschauerstimmen gesellt, unter anderen sagt Friedrich Helke (15): "Mich hat es sehr beeindruckt. Ein Klassiker, der mir was zu sagen hat."
Oliver Kranz sagt auf rbb-Kulturradio (3.4.2017), Jan Jochymski setze auf "Abstraktion und Verknappung und vor allen Dingen auf einen sehr heutigen Sound". Das Ganze habe "Drive und Schwung". Die Figuren trügen "schon in ihrer Kleidung Coolness, Glamour oder Spießigkeit zur Schau", trotzdem seien sie "keine leicht durchschaubaren Typen". Das schauspielerische Pfund der Inszenierung sei Henning Strübbe als Marinelli, dagegen hätten es Rolf-Jürgen Gebert und vor allem Lucie Thiede als Vater bzw. Tochter Galotti schwer, da sie heutige Figuren zeigen sollten, die "Moralvorstellungen verkörpern, die von gestern sind". Da fehle "die letzte Konsequenz." Dies sei aber das einzige Manko einer bildstarken, frischen und spannenden Inszenierung.
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