Und täglich grüßt das Blümchenhemd

von Christian Rakow

Berlin, 6. April 2017. Eigentlich hätte es mal eine entspannte Nachtkritik werden können. Vorstellungsbeginn um 19 Uhr, mit einem Text, der für gute zehn Minuten Spiel reicht. Okay, er wird wiederholt, und zwar oft. Heißt also: Ein paar Varianten einfangen, nach Hause und Bericht erstatten, und dann zu christlicher Uhrzeit ins Bett. So hätte es laufen können. Wenn es nicht so schön und schräg gewesen wäre.

Also wurde es wieder ein Volksbühnen-Abend bis nach Mitternacht. Wenn auch nicht mit tausend Minuten Spieldauer, auf die die Unternehmung wohl ursprünglich angesetzt war, wie mir der Kollege der Berliner Zeitung vor Beginn erzählte, woraufhin wir mutmaßten, dass das Bühnenpersonal aus den Erfahrungen mit Vinge/Müllers 12-Stunden-"Borkman" schlau geworden sei und jetzt schon vorab verträgliche Maßstäbe einziehe.

Ragnar Kjartansson, Bildender Künstler und als solcher Venedig-Biennale-Teilnehmer 2009, hat sich an der Volksbühne mit erratischen Bühnen-Stillleben einen Namen gemacht, zuletzt mit dem einstündigen, wortlosen Sterbetableau "Krieg". In seiner neuen Bildschöpfung "Raw Salon: Ein Rohspiel" bringt er einen Text der kanadischen Lyrikerin Anne Carson zur Uraufführung, den er auf Endlos-Loop stellt.

Verdichtetes Konversationsstück und Variationen

Lord Lesley Updown und Lavinia Molson-Beck haben sich im Salon eines prächtigen Herrenhauses eingefunden, offenbar verfrüht für eine Party. Und nun smalltalken sie ein wenig: über den Krieg in Sierra Leone und die Ignoranz der Leute im Fitnessstudio, über die Arbeitsbedingungen von Bediensteten und über unser aller Medienkonsum ("Sag mal, denkst du, die meisten Menschen glauben, die Dinge, die sie im TV sehen, passieren nur dort?"). Eigentlich genug Stoff für ein abendfüllendes Konversationsstück, aber Carson hat die Screwball-Szene derart verdichtet, dass sie, wie gesagt, gerade so zehn Minuten dauert und dann eben zig Mal wiederholt werden muss, damit's auf Castorf'sche Länge kommt.

raw salon2 560 Thomas Aurin uBesuch im Herrenhaus: Lavinia Molson-Beck (Kathrin Angerer), Lord Lesley Updown (Bernhard Schütz) empfangen den peinlichen Nachbarn (Ragnar Kjartansson) © Thomas Aurin

Fürs Schaulaufen im Gutsherrensitz (Bühne: Kjartansson himself) konnten Kathrin Angerer und Bernhard Schütz gewonnen werden, die man unlängst in Castorfs Alle-Volksbühnen-Lieblinge-sind-dabei-"Faust" noch sehr vermisste und die hier nun mehr als die halbe Miete einfahren. Das Stück lebt von Variationen des Immergleichen (so viel Texttreue war selten an der Volksbühne!). Und der Variantenreichtum der beiden ist schier unerschöpflich, ohne dass sie dabei in bloß schillerndes Virtuosentum abglitten. Im distinguierten Ton der Adels-Schmonzette legen sie los, wagen nach zwei, drei Durchläufen erste romantische Annäherungen, streuen die Szene auch mal als Zimmerschlacht ein. Und Updown/Schütz umgarnt oder traktiert wiederholt den Zimmerservice (wacker unberührbar: Martha von Mechow).

Lehrstück der Werktreue

Nach gut drei Stunden schlägt der Volksbühnen-Stil durch, wenn die Dialoge in herrlicher Opernparodie eingesungen werden oder das Treffen als Gemäldediebstahl in Peter-Sellers-Manier inszeniert wird, wobei die Dialoge dann plötzlich so kunstvoll abwegig und kontrafaktisch klingen wie in einem Tarantino-Film. In der Tendenz aber halten sie einen ironisch angeschrägten realistischen Grundton, über Mikroport verstärkt. Alles Augenmerk fällt auf die Nuancen der Szenen, auf den Wechsel der Betonungen, auf winzige Verschiebungen. Mal heißt es "Hör auf, diesen Knopf ein- und ausrasten zu lassen" – und niemand ist angesprochen. Im nächsten Durchlauf steht an genau dieser Stelle einer, an den der Satz ganz direkt adressiert wirkt. Wer je verstehen will, wie das Theater bei allerhöchster "Werktreue" Texte gravierend unterschiedlich in Szene setzen kann, der findet hier ein Lehrstück allererster Güte.

raw salon1 560 Thomas Aurin uAdelsschmonzette im Dauerloop: Kathrin Angerer und Bernhard Schütz © Thomas Aurin

Derjenige, der das besagte Rumknöpfen sein lassen solle, ist übrigens John James Jellico III., der stets nach gut zwei Dritteln der Szene hereingeschneit kommt wie der peinliche Nachbar von nebenan in amerikanischen Sitcoms: im argen Retro-Blümchenhemd über der beigen Bundhose. Jüngst traf er auf einem Bankett Isabelle Huppert, wovon er länglich zu berichten weiß. Ragnar Kjartansson übernimmt die Rolle höchstpersönlich, in herrlich kantigem Isländer-Deutsch. Zum Finale setzt er sich ans Klavier und croont kaminwarm: "Can you ask the waiter for more champagne" (Komposition: Kjartan Sveinsson). Wieder und wieder, bis der nächste Durchlauf startet.

Der Zeiger fällt, es ist vollbracht

Das alles wirkt wie eine seltsam funkelnde Theaterschrulle und steht doch nahe an dem, was derzeit viele Künstler*innen umtreibt: das Bildhafte, Installatorische und Geloopte dominiert, wo die Erzählbarkeit von Wirklichkeit infrage gestellt ist. Kjartanssons "Raw Salon" ist ein Zwilling im Geiste von "Real Magic", mit dem Forced Entertainment beim diesjährigen Theatertreffen aufschlagen werden. Es sind neo-absurde Ansichten einer stillgestellten Wirklichkeit, in Erwartung einer Erlösung, die nicht eintritt.

"Diese Uhr auf dem Kaminsims hat sich nicht bewegt, seit wir reingekommen sind", sagt Kathrin Angerer mit einer immer wieder mauligen Beiläufigkeit und Tiefe, wie nur sie es kann. Und Kjartansson kontert: "Diese Uhr auf dem Kaminsims hat sich nicht bewegt, seit du auf der Welt bist." Darauf Angerer, fast weggehuscht: "Was irgendwie eine Leistung für eine Uhr ist." Fürwahr, auch meine Uhr hat sich nicht bewegt, ich habe gewacht, gelitten, gelacht, dämmerte weg, war wieder ganz da, lauschte, schaute. Und dann Punkt Mitternacht, als sich der Vorhang mitten in der Szene schloss, fühlte es sich an, als sei erst eine Minute vergangen und alles Leben läge noch offen voraus.

 

Raw Salon: Ein Rohspiel
nach einem Text von Anne Carson
Deutsch von Angela Rosenberg
Regie & Bühne: Ragnar Kjartansson, Text: Anne Carson, Kostüme: Tabea Braun, Komposition: Kjartan Sveinsson, Maler: Christoph Fischer, Camilla Hägebarth, Julia Krawczynski, Anda Skrejane, Künstlerische Mitarbeit: Ingibjörg Sigurjonsdottir, Organisation Island: Lilja Gunnarsdóttir, Mitarbeit Bühne: Axel Hallkell Jóhannesson, Licht: Johannes Zotz, Ton: Jörg Wilkendorf, Dramaturgie: Henning Nass.
Mit: Kathrin Angerer, Ragnar Kjartansson, Bernhard Schütz, Martha von Mechow.
Dauer: maximal 5 Stunden, Pausen jederzeit möglich, Kommen und Gehen ebenso

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Zum Ereignis dieses vordergründig naturgemäß sehr langweiligen Fünf-Stunden-Abends würden werden "Volksbühnen-Muse" Kathrin Angerer und der noch einmal, kurz vor Toresschluss, an die Volksbühne zurückkehrende Bernhard Schütz, so Michael Laages auf Deutschlandradio Kultur (6.4.2017). Schütz, der vielleicht "wichtigste Extrem-Schauspieler", den es an diesem Hause je gegeben habe, erfinde immer neue und häufig extrem komische Variationen für den kleinen Text. Die nie vorhersehbaren Spiel-Phantasien dieses einzigartigen Schauspielers noch mal zu erleben, mache den Abend "unvergesslich".

"Man beginnt in den Sätzen zu wohnen, muss sie akustisch gar nicht mehr verstehen, um Sinnversickerungen und Sinninterferenzen wahrzunehmen", schwärmt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (7.4.2017). Was für ein schönes Wunder sei es, dass wir uns bei der Fülle von Deutungsmöglichkeiten verstünden."„Oder wenn nicht, dass wir uns doch weitgehend folgenlos auf die Illusion des gegenseitigen Verstehens verlassen dürfen. Und dass wir dennoch darüber reflektieren können ohne durchzudrehen, dass wir also theaterfähig sind."

Mit den "Ikonen der Castorf Ära" Angerer und Schütz ist Kjartanssons Abend ein "Riesenspaß" für Christine Wahl vom Tagesspiegel (8.4.2017). "Wie die beiden – in absoluter Topform – von Szene zu Szene Wortbedeutungen, Möbel und Auftrittswege verschieben, wie sie mal den hohen Salonton imitieren, , dann wieder den 'Vintage'-Hemdträger im Krimi-Stil auf seinem Klavierhöckerchen festhalten, wie sie die zehn Minuten mal runterrocken, mal durchpiepsen und schließlich als Opernparodie durchsingen, das hat nicht nur Klasse. Sondern es demonstriert auch sehr unterhaltsam die extreme situative Anpassungsfähigkeit verbaler Bedeutungsproduktion."

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