Nathan der Weise - Nikolaus Habjan spielt mit seinen als österreichische Theatersensation gefeierten Puppen Lessings Ringparabel am Volkstheater Wien
Puppenmäuler klaffen Dich an
von Eva Biringer
Wien, 7. April 2017. Im Volkstheater gibt es bei jeder Premiere einen, der noch während des Schlussapplauses mit dem Rücken zur Bühne in eine Kamera spricht. Ganz sicher bin ich mir nicht, vermute aber, er gibt eine Art Kurzkritik ab. Was er sagt, ist natürlich nicht zu verstehen, dafür ist seine Mimik umso ausdrucksstärker. Augenbrauen zum Himmel, ein weit aufgesperrter Mund, so behauptet er sich gegen den ihn umgebenden Lärm.
Mit exakt dieser Art von Überagieren hat uns Nikolaus Habjan die vorhergehenden zweieinhalb Stunden gequält. Gespielt wurde "Nathan der Weise", dieses arg in die Jahre gekommene Stück von Gotthold Ephraim Lessing. Meiner Generation dürfte es noch als Pflichtlektüre im Deutschabitur in Erinnerung sein. Es ist das letzte Drama des deutschen Aufklärers, geschrieben 1779, zwei Jahre vor seinem Tod. Der pflichtbewusste Teil in einem pocht auf Nathans tagespolitische Aktualität, schließlich geht es um den Kampf der Religionen, Wahrheit, Moral. Der ungezogene Teil in einem gähnt.
Unverständlicher Dialog der Kulturen
Nathan ist Jude und verliert seine Frau und sieben Söhne bei einer Art Attentat. In derselben Nacht rettet er einen christlich getauften Säugling und erzieht ihn im jüdischen Glauben. Achtzehn Jahre später ist daraus eine junge Frau geworden, die erneut knapp dem Tod entgeht, dieses Mal gerettet von einem christlichen Tempelritter. Natürlich verlieben sich die beiden ineinander, was erst nicht koscher ist aufgrund der Glaubensdifferenz, dann weil sie Geschwister sind. Die genauen Umstände sind nicht zu verstehen, was einerseits an der zur Abschweifung verleitenden Regie liegt, andererseits an Lessings Blankversmaß.
Disput zwischen dem Patriarch (Günter Franzmeier, links) und Nathan (Stefan Suske) © Lupi Spuma
Überhaupt ist die ganze Handlung wie mit der Brechstange konstruiert, es mussten halt Vertreter der drei Religionen her und ein Sündenbock in Gestalt des Patriarchen von Jerusalem. Er gibt auch schon den witzigste Einfall an diesem heilig-ernsten Abend her, eine Greisenpuppe im Rollstuhl, authentisch zitternd wie der selige Papst Johannes Paul II. Geführt wird sie von drei vermummten Gestalten, die dem Programmheft zufolge "Anhänger von Terrorgruppen" darstellen sollen. Ein ähnlich schiefes Bild wie das einer "zerbombten" Stadt nachempfundene Bühnenbild von Denise Heschl und Jakob Brossmann. Ich sehe bloß ein Baugerüst. In Kombination mit den Kostümen, die wirken wie ein Best-of-bad-taste aus hundert Jahren Theaterfundus, leider nichts fürs Auge.
Rätselhaftes Gebahren
Abgesehen vom Patriarch klappmault eine weitere Puppe auf dieser Bühne, als Nathans bessere Hälfte, die ihm zum Beispiel die bei Licht betrachtet ziemlich lahme Ringparabel einflüstert. Für diese Klappmaulpuppen wird der 1987 geborene Habjan in Österreich als Theatersensation gefeiert. Er inszeniert landesweit, allein in Wien bereits auf acht verschiedenen Bühnen. In einem Interview mit der Zeit ehrgeizte er: "Ich will zeigen, dass man mit Puppen ein großes Haus wie das Burgtheater bis in den letzten Rang hinauf genauso bespielen kann wie mit menschlichen Darstellern."
Bei näherer Betrachtung (Zeit hat man ja genug) ist dies die Crux der Inszenierung: Dass die Schauspieler gegen die vermeintliche Puppenkonkurrenz anspielen. Anders ist deren durchweg schultheaterhaftes Gebahren nicht zu erklären. Als lautete die einzige Regieanweisung "mach ein Riesending draus" überartikulieren sie jedes Wort, führen jede plumpe Geste mit dreifacher Vehemenz aus. Wenn eine heult (Katharina Klar als Kullerauge Recha), dann wälzt sie sich dabei füßetrommelnd am Boden. Wenn einer erschrickt (unglaubwürdiger Wechsel von Gleichgültigkeit zu Liebe: Christoph Rothenbuchner als Tempelritter gibt Rätsel auf), fliegt ihm die Teetasse aus der Hand.
Stellvertretend in den Ruinen dieser Welt in "Nathan der Weise" © Lupi Spuma
Von allen guten Geistern verlassen scheint Claudia Sabitzer, deren Daja jeden Satz so inbrünstig spricht, als stehe ihr der Leibhaftige gegenüber. Dass Steffi Krautz in ihrer Rolle als Sultanschwester eine Anspielung sein könnte auf die deutsche Bundeskanzlerin, kommt einem erst, als sie ihre Hände zur Merkelraute formt. Der Sultan (Gábor Biedermann) steht, Stichwort Hierarchie, immer ein wenig erhöht und hört sich wie alle Figuren gerne beim Reden zu. Und Nathan? Rauft sich die Haare, greift sich ans Herz, oh Gott, oh Gott.
Alles viel zuviel
In einem Vorabbericht gab Günter Franzmeier zu, die Konkurrenz der Habjan'schen Puppen zu fürchten. "Früher hieß es auf dem Theater: Keine Kinder, keine Tiere, die spielen Dich an die Wand. Jetzt muss man noch die Habjan-Puppen dazu nehmen." Mag sein, dass sich dieses Unbehagen auf das gesamte Ensemble übertragen hat.
Hat all das etwas mit uns zu tun? Der pflichtbewusste Teil in einem bemerkt anerkennend die arabische Übertitelung, mit der offensichtlich der im Stück angelegte Dialog der Kulturen auf das Publikum übertragen werden soll. Der ungezogene Teil findet das alles so staubig wie der permanent durchs Bühnenbild rieselnde Bauschutt.
Am Ende deckt Nathan alle Beteiligten mit Leintüchern zu, tragende Choräle erschüttern den Raum, es schneit. Vorhang, Applaus. Dann tritt der Kurzkritiker auf den Plan, um noch mal daran zu erinnern, dass zu viel von allem manchmal einfach zu viel ist.
Nathan der Weise
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Nikolaus Habjan, Puppenbau: Nikolaus Habjan, Brigitte Kopriva, Marianne Meinl, Bühne: Denise Heschl, Jakob Brossmann, Kostüme: Denise Heschl, Licht: Paul Grilj, Dramaturgie: Heike Müller-Merten.
Mit: Gábor Biedermann, Günter Franzmeier, Katharina Klar, Steffi Krautz, Christoph Rothenbuchner, Claudia Sabitzer, Stefan Suske.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.volkstheater.at
Ein "bleiernes, verschlossenes, biederes Theater" hat Margarete Affenzeller vom Standard (online 9.4.2017) am Volkstheater erlebt. "Welche Welt zeigt sich hier eigentlich? Eine historische Kreuzzugszene, eine philosophische Fallstudie, ein lehrreiches Märchen? Habjan neigt zu Letzterem, zumindest baut er eine deutliche Distanz zum Realen auf."
"Nur große Darsteller sichern die rechte Balance zwischen Tragik und Humor beim Handelsherrn Nathan, zwischen frommer Einfalt und Dogmatikereifer auf christlicher Seite, zwischen Herrschaftspragmatismus und Seelentiefe auf islamischer. Dafür fehlen, pardon, dem Volkstheater die großen Kaliber", schreibt Hans Haider in der Wiener Zeitung (10.4.2017). Aber dafür hat es Nikolaus Habjan und seine Puppen – so Haider: "Nichts leichter als den Patriarchen – der in Lessing Toleranzdreier das Pummerl hat – als Klappmaulpuppe im Rollstuhl auf die Bühne zu schieben: ein greiser Fanatiker mit Raubvogelgrimasse und toten Augen." Das funktioniere "fein", doch bleibe es "eher aufgesetzte Koloratur als innere Notwendigkeit".
Habjan fokussiere auf politische Machtkämpfe und ihre religiöse Vorschubleistung, schreibt Norbert Mayer in Die Presse (10.4.2017). Infolgedessen wirke der Schluss seines "Nathan" nicht versöhnlich, sondern nihilistisch. Der Abend beeindrucke durch seine Strenge. Und doch bleibe Raum für eine sehr individuelle Charakterzeichnung der Darsteller*innen.
Umrahmt von zwei Bildern "von geradezu poetischer Größe und entsetzlicher Schönheit" verbreite Nikolaus Habjans Lessing-Inszenierung ansonsten eher Trostlosigkeit, schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.4.2017). Die Schauspieler*innen fänden "kein rechtes Mittelmaß". Die Entscheidung, den Patriarchen von einer menschengroßen Puppe, darstellen zu lassen, findet Lhotzky noch nachvollziehbar – weniger schlüssig dieselbe Idee für Nathan. "Zwar flüstert dieser jenem bisweilen etwas ein oder reizt als Advocatus Diaboli zum – richtigen – Handeln, aber Mehrwert fürs Schauspiel ergibt sich daraus leider nicht", so Lhotzky: "So bleibt man etwas gedämpfter Stimmung, aber nicht wirklich bewegt zurück. Schade."
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Als "bekennender Peymann-Fan" und Kritiker der "Auslöschung des Berliner Ensembles" kann ich mir wirklich nicht verkneifen, um den "BE Nathan" mit Martin Schwab zu weinen, Sehnsucht nach dem Witz, nach der Spielfreude aber auch der Ernsthaftigkeit der Peymann-Inszenierung zu entwickeln.
Meine zwei Begleiterinnen im Volkstheater meinten: "Gott ist das fad". "Wie in der Schule, einfach zu vergessen." Und da werden jetzt die Wiener Schulkinder hineingeschickt. Texttreue muss man auch können!
Danke an Nikolaus Habjan und sein Team für diesen Beweis, dass modernes Theater auch so geht, dass man große Texte nicht unter dümmlich-schrillen Regiekonzepten zu ersticken braucht (wie kürzlich ebenso am Volkstheater zu erleben in "Kasimir & Karoline" in der Regie von Philipp Preuss)!
(… Die Kritikerin) lässt an dem Abend ja kein einziges gutes Haar. Kostüme, Bühne, Musik, Regie - alles soll eine Qual gewesen sein? Sollte eine Kritik nicht ausgewogener sein? Oder wollte sie hier auf Biegen und Brechen verreißen? Das wäre traurig. Ich kann mich diesen harten Worten, die geistig aus der Feder eines "patriarachen" stammen könnten (verzeihen Sie, ich habe mich hinreißen lassen) keinesfalls anschließen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Paula Mischitz
Wenn ich mich richtig erinnere, hat Herr Habjan kürzlich in einem Interview gesagt, der Holzhammer sei nicht sein Instrument - und das ist gut so, damit wird als man TheaterbesucherIn ohnehin viel zu oft traktiert.
Umso höher ist es Nikolaus Habjan anzurechnen, dass er sich für das Gegenteil entschieden hat, obwohl sich gerade dieses Stück und gerade jetzt in unserer Zeit - freilich nur oberflächlich und kurzsichtig betrachtet, wie es manche KritikerInnen so gerne tun - vielleicht ganz besonders dafür anbieten würde. Aber das selbstständig denkende Publikum, unsere leider immer wieder schwer unterschätzte Jugend mit eingeschlossen, wird es dem genialen jungen Regisseur danken!
youtu.be/Elp0hFl03R8
Besser als Herr Sichrowsky könnte man den Abend wohl kaum beschreiben - wie auch die Wahrnehmung des Publikums. Ich war in der 2. Vorstellung, und da gab es nicht enden wollenden, sogar rhythmischen Applaus! Auf quälende Langeweile, wie hier auf nachtkritik beschrieben, reagieren ZuschauerInnen in der Regel anders, möchte ich meinen.
Aber es wird bei vielem geklatscht was einem nicht gefallen kann.
Ich sah eher eine Operninszenierung als eine Theateraufführung.
Eine Bühne wie ein Wetterhäuschen und die Figuren wurden am Zuschauer vorbeigefahren. Aufsagetheater ohne Konflikte, Figuren aus Klischees zusammen gepappt, in verstaubten Märchenkostümen.
Die Aufführung tut nicht eine Sekunde weh.
Nathan ist ein armes Opfer, gleich zu Beginn, und wie in der Oper, oder Operette, tritt er dann in einen Lichtkegel um von Schrecken der Verfolgung zu berichten.
Kitsch, nicht Schmerz!
Das kann gefallen, ja, wenn es alleine darum geht.
Das Ganze soll ja wohl der Traum von Nathan sein; erstaunlich, dass er einen rührseligen Kitsch aus dem Theaterfundus träumt.
Aufwachen bitte.