Man kommt zu schauen, man will am liebsten sehen

von Gabi Hift

Schwedt, 8. April 2017. "Scheidender Schauspieldirektor wuchtet zum Abschied Faust 1 und 2 an einem Abend auf die Bühne." Nein, diese Meldung ist nicht veraltet, sondern frisch aus der Palmsonntagsnacht. Aber nicht um Berlin geht's, sondern um Schwedt. Nicht um Frank Castorf, sondern um Olaf Hilliger – und um eine Stadt, die ihren "Faust" einfordert, der ihr nach 20 Jahren doch per Gewohnheitsrecht zustehen muss.

Schwedt hat ein Publikum, für das andere Stadttheater wer weiß was geben würden. Die heidnischen Schwedter feiern Ostern seit 20 Jahren statt in der Kirche im Theater. 2015 hieß es, irgendwann müsse Schluss sein. "Faust"-Regisseur Gösta Knothe war im Ruhestand, die meisten Schauspieler weg. Ostern ohne "Faust"? Die Schwedter fanden: es möcht' kein Hund so länger leben – und haben sich von Hillinger einen neuen Faust gewünscht. Auch Gösta Knothe ist nicht ganz entkommen – wie in allen früheren Jahren spielt er auch diesmal den Erdgeist –, eine Hommage der "Neuen" an den alten "Faust", von dem noch alle sprechen und gegen den sie es natürlich nicht leicht haben.

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten

"Wie haltet ihr's mit der Geistersphäre?" ist eine wichtige Frage in jedem Faustuniversum. Hier ist die Schauerromantik sehr ernst genommen und gebiert wunderschöne und unheimliche Bilder (Bühne und Kostüm: Andrea Eisensee). Wenn es in die Geisterwelt geht, spannt sich vor dem Bühnenrachen ein durchsichtiger Gazevorhang auf, auf den psychedelische Filme projiziert werden. "Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt", so scheinen die Figuren in trüben Fluten, in Rauch und öliger Schlacke zu schwimmen, tasten durch blitzende Irrlichter und riesige Geistergesichter. Anders als gewohnt, sind die Filme schwarzweiß, das Geisterreich ist eine wabernde, flackernde, zitternde Grauzone, als schwebte man im Inneren der Lavalampe eines Dr. Caligari.

FAUST1 560 Uckermaerkische Buehnen Schwedt uWunderschöne und unheimliche Bilder aus der Geistersphäre © Udo Krause / Theater Schwedt

Während das Schaurige ebenso zu seinem Recht kommt wie Tanz und Gesang, ist die Tragödie im Zentrum merkwürdig schaumgebremst, als habe man dem Publikum so Drastisches nicht zumuten wollen. Daniel Heinz als alter Faust ist eher ein larmoyanter Schnösel als ein verzweifelter Sinnsucher. Und auch der/die Teufel ist nicht gerade mit Feuereifer bei der Faust-ins-Verderben-reiten-Sache. Dass der Teufel in doppelter Gestalt auftritt (Saskia Dryer und Conrad Waligura) macht den Pakt noch undurchsichtiger. Man versteht nicht, was die Doppelung soll. Weder ist es eine formale Verfremdung – die beiden sprechen (fast) nie im Chor – noch sind es zwei psychologisch klar unterschiedene Wesen. Mal ist die weibliche Teufelin genervt von dem, was ihr männlicher Widerpart einfädelt, dann gibt es wieder gar keine Beziehung zwischen den beiden. Und weil Faust meist in der Mitte zwischen den beiden ist, gerät er in die Sphäre wattiger Unschärfe, die zwischen ihnen entsteht.

Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen

Frischen Wind bringt Michael Kuczynski als Wagner. Dem kocht, im Gegensatz zu Faust, das Hirn fast vor Gedanken über, und man kann sie ihm vom Gesicht ablesen; es zerreißt ihn fast vor Anstrengung, in Fausts Geschwätz tieferen Sinn zu finden. Weil es ihm nicht gelingt, fehlt ihm das Material für seine Schmeicheleien. Das ist sehr lustig. Ebenso scharf pointiert und komödiantisch ist Kuczynski auch als geile Hexe, als byronesker Sohn von Faust und schöner Helena sowie als gealterter Wagner, der im zweiten Teil im Doc Brown-aus-"Zurück in die Zukunft"-Look auftaucht.

Fabian Ranglack hat als junger Faust mehr Schwung und Seele als der alte. Allerdings ist er mehr naiver Tölpel als skrupelloser Verführer. Er scheint nicht recht zu begreifen, wieso all diese Leichen seinen Weg pflastern. Sabrina Pankrath ist ein klares, gradliniges Gretchen, aufrichtig, verliebt, ohne Harm. Sie hätte das Publikum durchaus zu Tränen rühren können, leider gehen die Striche im ersten Teil auf ihre Kosten. Nur eine Zeile vom König vom Thule und gar kein "Neige, du Schmerzenreiche".

Noch sind sie gleich bereit, zu weinen und zu lachen

Im zweiten Teil, der von Weltteil zu Weltteil, von einer Ära zur anderen springt, muss sich die Inszenierung so sehr beeilen, dass man das ohnehin sperrige Monster kaum noch verstehen kann. Wunderschön allerdings wieder die Bilder. Die Architektur entsteht durch Projektionen auf eine zwölfwürfelige Hinterwand – dort, wo bei Goethe die immer wechselnden Prospekte hingen. Fluchtlinien suggerieren veränderte Perspektiven wie in den Traumstädten de Chiricos.

Inmitten dieser surrealen Schwarzweißwelten steigt ein buntkostümiertes Maskenfest. Die Hexenbrut trägt riesige Pappmacheköpfe, im Dunkeln fluoreszieren Picasso-Strichgesichter. Stabmasken mixen Commedia dell'arte mit griechischer Antike. An Stangen in der Luft Tanzende vereinen sich zu einem Dali-Gespenst. "Man kommt zu schauen, man will am liebsten sehen!", sagt der Direktor im Vorspiel. Und man bekommt einen wahren Augenschmaus.

FAUST3 560 Uckermaerkische Buehnen Schwedt uWer immer strebend sich bemüht … © Udo Krause / Theater Schwedt

Aber das gedanklich Halbherzige kann auch enttäuschen. Ist es denn wahr, dass in den Metropolen Zyniker sitzen, die man mit immer schärferen Reizen ködern muss, während das Publikum an den Rändern vor allem Extremen behütet werden muss, wenn man es nicht verjagen will? Bewahrt werden sie hier vor allzu viel Sex und Gewalt. Vor allem aber vor der Raserei der Sinnsuche, die andere ins Verderben reißt. Kann das Publikum den extremen Ernst der Fragen im "Faust" wirklich nicht ertragen? Ist es nicht eher so, dass die Menschen (die Deutschen) das Stück gerade dafür lieben? Jene angeblich abgebrühten Zyniker in den Metropolen ebenso wie die angeblich Naiven in der Peripherie?

Aber man zögert auch, überhaupt etwa zu kritisieren. Denn es ist wahr: die Leute sind da, sie hören zu. "Noch sind sie gleich bereit, zu weinen und zu lachen, / Sie ehren noch den Schwung, erfreuen sich am Schein." Und das ist schön, das ist das Schwedter "Faust"-Wunder, das, so steht's zu hoffen, nun noch einmal zwanzig Jahre dauern wird.

 

Faust
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Olaf Hilliger, Bühnenbild und Kostüme: Andrea Eisensee, Musikalische Leitung: Tilman Hintze, Choreographie: Krzysztof Gmiter, Video: Ina Hurry, Dramaturgie: Sandra Zabelt.
Mit: Saskia Dreyer, Katarzyna Kunicka, Sabrina Pankrath, Daniel Heinz, Michael Kuczynski, Simon Mehlich, Fabian Ranglack, Conrad Waligura , Klara Gmiter, Patryk Durski, Weronika Giźycka, Krzysztof Gmiter, Anna Kamińska, Maciej Kosteczka, Tabea Gabriel, Gösta Knothe.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-schwedt.de

 

Kritikenrundschau

Hilliger habe den Faust gestrafft, verjüngt und verschlankt. "So radikal, dass beide Teile in einen Abend passen", schreibt Matthias Bruck vom Uckermarkkurier (10.4.2017). Das führe allerdings zu einer sehr hastigen Erzählweise. "Die Geschichte von Fausts und Mephistos Auftritt beispielsweise auf 30 Sekunden einzudampfen, ist grenzwertig." Ausstatter Eisensee biete ein Fest fürs Auge. Dieser Faust sei sicher vorrangig etwas fürs junge Publikum, so Bruck.

Dieser Faust sei eine moderne, jugendtaugliche Fassung, "ohne sich anzubiedern", schreibt Eva-Martina Weyer von der Märkischen Oderzeitung (10.4.2017). Die Videoeinspielungen verteidigt Weyer: "Das ist keine modernistische Effekthascherei, sondern erschließt sich aus der Handlung, ergänzt sie." Die Tanzszenen seien poetische Bilder, sie "raffen die Handlung, fassen zusammen". Der zweite Teil des Abends falle im Spannungsboden ab. "Doch das ist, padon Herr Goethe, auch im Original so."

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