Muss da nicht ein Buh her?

von Wolfgang Behrens

18. April 2017. Seit einigen Wochen erst ist Oliver Mears im Amt, doch der neue Intendant des Royal Opera House Covent Garden hat schon eine wichtige Botschaft an das Publikum. Im Telegraph und in einigen anderen englischen Medien konnte man sie vernehmen: "Oliver Mears said ticketholders should applaud even if a performance is not to their liking. It is simply a question of manners." [Oliver Mears sagte, Zuschauer sollten auch dann applaudieren, wenn ihnen die Aufführung nicht gefallen hat. Es sei schlicht eine Frage des Benehmens.] Und vor allem sollten die Zuschauer nicht buhen.

"Applaudieren Sie doch ruhig"

Oja, dachte ich, das lesend, und erinnerte mich an die Zeit, als ich noch ein Zuschauer war. Als ich in Mainz eine Repertoire-Aufführung der Oper "Jesu Hochzeit" von Gottfried von Einem besuchte. Das Werk war in den Fokus irgendwelcher kirchlichen Organisationen geraten, weil Jesus darin die sogenannte "chymische Hochzeit" mit der Tödin (wer immer das sein mag) vollzog, was einigen eher fundamentalistisch gesinnten Christen nicht hundertprozentig mit der Bibel im Einklang zu stehen schien. Sogar zu Protesten gegen die Aufführung hatte man aufgerufen. Ich hingegen fläzte mich bildungsbürgerlich tolerant in meinem Sessel, als ich gewahr wurde, dass die Dame neben mir in ihrer Handtasche kramte und daraus nicht etwa das obligatorische Hustenbonbon oder einen Taschenspiegel, sondern eine Trillerpfeife zutage förderte. Ich war entsetzt.

kolumne 2p behrensZwei Akte und ein Nachspiel lang verharrte die Trillerpfeife ungenutzt im Schoß der Dame, unmittelbar nach den Schlussklängen der Oper aber kam sie durchaus lautstark zum Einsatz. Auf diesen Moment hatte ich mich innerlich zwei Stunden lang vorbereitet, und sogleich stellte ich meine Sitznachbarin zur Rede – was ihr einfalle, was das solle, wie könne sie nur. Sie antwortete lakonisch: "Applaudieren Sie doch ruhig, ich pfeife."

Später habe ich mich manchmal gefragt: Was hätte sie tun sollen? Was, bitte, soll ein*e Zuschauer*in tun, wenn sie/er mit dem Inhalt der Darbietung oder der Leistung einer Künstlerin oder eines Künstlers auf der Bühne unzufrieden ist? Ich gestehe zwar, dass ich es etwa bei den Bayreuther Festspielen, bei denen das Publikum sein Missfallen gerne ausgiebig kundtut, mitunter als sehr hart empfand, wenn einzelne Sänger*innen oder Regisseure erbarmungslos ausgebuht wurden. Andererseits: Da hat jemand vielleicht acht Jahre auf seine Karte gewartet, viel Geld bezahlt, sich Reise- und Hotelkosten ans Bein gebunden – und dann mutet einem die Festspielleitung überforderte Sänger*innen zu? Oder gar Frank Castorf? Mit einem Leserbrief ist es da wohl nicht getan. Muss da nicht ein Buh her?

"Was sollen wir denn tun?"

In den 90ern verreiste die Deutsche Oper Berlin einmal nach Israel (wo ein Kontrabassist wenig Takt bewies und eine Hotelrechnung mit "Adolf Hitler" unterschrieb – aber das nur am Rande) und ließ sich zu Hause von der Staatsoper Plovdiv vertreten. Weil die Bulgaren ein Gastspiel gaben, erhöhte die Deutsche Oper sogar noch einmal kräftig die Preise. Die Zuschauer*innen bekamen dann in der Tat ein Exklusiverlebnis, nämlich originales Operntheater des 19. Jahrhunderts. Die Regie hatte in Verdis "Ernani" sowohl für den Chor als auch für die Darsteller drei Positionen parat: 1. strammes Stehen, 2. strammes Stehen und Hand am Schwertknauf, 3. strammes Stehen und nach oben gerecktes Schwert. Die sängerische Qualität der Produktion war mit derjenigen der Regie durchaus vergleichbar.

Das Publikum begann seinen Unmut bereits vor der Pause mit vereinzelten Buhs zu äußern. Was die Aufführung jedoch gänzlich aus dem Rahmen des Üblichen hob, war das, was zu Beginn des zweiten Teils passierte. Der Dirigent hob gerade den Taktstock, da rief ein Zuschauer: "Es ist ein Gebot der Höflichkeit, dass wir unsere Gäste nicht ausbuhen." (Meinen Informationen zufolge handelte es sich nicht um Oliver Mears). Applaus und neuerliche Buhs waren die Folge. Als man sich wieder beruhigt hatte, rief ein anderer: "Aber es ist ein Skandal, uns das hier einfach so vorzusetzen. Was sollen wir denn tun?" Applaus. Buhs. So zog es sich minutenlang mit Rede und Gegenrede hin.

Was also, Herr Mears, sollen die enttäuschten Zuschauer*innen tun? Mit gutem Benehmen allein ist dem Theater doch nicht geholfen. Ein wenig Emotion darf schon auch dabei sein, und da ist ein kräftiges Buh allemal kathartischer als ein fatalistisches Schweigen. Bei der Düsseldorfer Premiere der "Salome" von Einar Schleef hielt es einen Zuschauer hinter mir nicht auf den Sitzen. Er buhte nicht, sondern er bellte mehrfach wütend das Wort "Scheiße" hervor. Mir hat das gefallen. Ich habe ein paar Bravos dagegen gehalten. Und ich bin der festen Überzeugung, dass wir beide adäquat reagiert haben.

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.

 

Zuletzt schrieb Wolfgang Behrens in seiner Kolumne über unwahrscheinliche Gründe, Kunst zu machen.

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Kommentare  
Kolumne Buh: mit der Trillerpfeife
Ich höre immer von unseren (den bürgerlichen) Werten und weiß immer nicht, wo ich sie suchen und finden soll. Jetzt bin ich weiter gekommen: Lügen ist
ein Bestandteil des guten Benehmens. Auch applaudieren, wenn eine Aufführung nicht gefallen hat ...
Ich habe noch nie ausprobiert, ob meine Stimme ein "Buh" bis an die Rampe trägt; aber nun ist mir Hilfe geworden: eine Trillerpfeife!
Freilich sollte man auch begründen können, warum eine Sache nicht gefällt.
Mit Dank und Gruß Peter Ibrik
Kolumne Buh: schwindeln
Lieber Herr Ibrik - Lügen ist kein Bestandteil des guten Benehmsn, aber Schwindeln mitunter schon. Ich habe - obwohl ich so oft nicht ins Theater gegangen bin und eigentlich nicht mehr gehe, weil ich da guten, Erfolg eher garantierenden Ersatz habe dafür - noch nie das Gefühl gehabt zu lügen, wenn ich da auch dann geklatscht habe, wenn mir eine Inszenierung partout nicht gefallen hat. Das ist schon zweimal vorgekommen und ich hab diese Vorstellungen dann verlassen, ehe ich all zu laut vernehmlich "welch eine scheiße" sage... Da bin ich also nicht aus Missachtung, sondern aus Höflichkeit mittendrin gegangen. Ansonsten finde ich aber es nicht verlogen zu applaudieren, denn normalerweise gibt es immer eine Detail, das von irgendeinem der Beteiligten beigesteuert wurde, das eben doch gefallen hat, auch wenn es sich alles zusammen genommen zu einem bravorösen Ganzen nicht fügen wollte - Und: ich kann eigentlich immer begründen, warum eine Sache mir nicht gefällt. Das kann ich dann meistens so genau begründen, dass die Begründung gründlicher ausfällt und daher länger dauert, als so manche Inszenierung - deshalb mag mich das Theater als Betrieb nicht und wer will sich schon aufdrängen...
Kolumne Buh: üben
Warum schreiben die meisten anonym?
Danke für den Hinweis.
Ich werde das "Buh" üben UND mir eine Trillerpfeife kaufen. Ich fühle mich unwohl, wenn ich nur wegen einiger Details applaudieren sollte; und wenn ich mitten in der Vorstellung gehe (habe ich schon mehrfach gemacht), wie sollen die anderen oben und unten begreifen, daß ich es auch Höflichkeit tue?
Ibrik
Kolumne Buh: unwohl
Warum s o l l e n andere außer Sie das begreifen müssen, wenn Sie etwas aus Höflichkeit tun?
Sie fühlen sich unwohl, wenn Sie nur wegen einiger Details applaudieren sollten, ich mich, wenn ich trotz einiger schöner, gelungener Details gar nicht applaudieren oder alles ausbuhen sollte... Und jeder hat das Recht das zu tun, womit er sich am wenigsten unwohl fühlt.
So kommt das sicher auch mit den Anonymen hier zustande.
Kolumne Buh: Trillerpfeifen finde ich doof!
Das "BUH !" gehört wie das "BRAVO !" zu den Publikumsäusserungen, die ich nach einer Vorstellung jederzeit mit Freuden entgegen nehme. Wahre Tumulte
wie bei Zadek, Castorf oder Gotscheff sind erfrischend, aber leider kommen sie immer seltener vor. Für mich sind das Theatermomente, die nicht durch Höflichkeit zu ersetzen sind.
"Was sollen wir denn tun?" die berechtigte Frage aus dem Publikum.
Buhen Sie ! Rufen Sie Bravo !
Kolumne Buh: Liefergenossenschaft
Es gibt ja auch Theaterinhalte und -Formen, die so typisch für Theater allgemein geworden sind, dass sie einem auch das Theater nicht ersetzen können, in das man gern gegangen ist. Die angenehm erfrischend buhenden und Bravo rufendenden Zuschauer sind offenbar nicht mehr vorhanden, um Theatermacher durch Tumulte angesichts ihrer wahren Inszenierungen zu erfreuen. Sie wissen also durchaus, was zu tun ist, wenn sie sich und ihr Leben in Gänze nicht mehr wiederfinden im Theater. Höflichkeit gegen u n b e k a n n t e s Publikum ist nur durch Theatermachen nämlich auch nicht zu ersetzen... Und ein Theater, das nur für bekanntes Berufs-Publikum gemacht wird, ist eben kein Theater, sondern eher eine Einkaufs- und Liefergenossenschaft. Im besten Fall...
Ansonsten gibt es eine Vorhangsordnung und eine Verbeugungshierarchie, da kann man sehr gezielt mehr oder weniger bis einen Moment gar nicht applaudieren - oder halt buhen, wenns denn Freude macht und behagliches Castorf-Feeling beim Personal verbreitet-
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