Loriot in der Spiegelphase

von Georg Kasch

Berlin, 22. April 2017. Wo ist der Hügel? Also jener Erdhaufen, in dem Winnie anfangs bis zur Hüfte, später bis zum Hals steckt und der ikonografisch geworden ist für Samuel Becketts "Glückliche Tage"? Sonst ist doch alles da, die Zahnbürste, der Sonnenschirm, die Spieluhr, der Revolver, hervorgeholt aus den Untiefen einer Sack genannten Tasche. Warum also fehlt gerade der Hügel?

Eingegraben auf einem Stuhl

Man weiß es nicht. Man weiß allerdings so vieles nicht in dieser Inszenierung am Deutschen Theater Berlin. Warum steht auf der Bühne eine riesige Spiegelwand? Ein paar Zuschauer sind darin zu erkennen, sonst vor allem Dunkelheit. Weil wir gemeint sind? Wäre ja ganz was Neues bei Beckett.

Dessen 1961 in New York uraufgeführter Zweiakter (der sogleich in Berlin mit Bertha Drews nachinszeniert wurde) zeigt ja nichts weiter als die in ihren Ritualen erstarrte Winnie, die sich mühsam durch den Tag hangelt. Beobachtungen, Zitate, Erinnerungen werden angerissen, zerbröseln Winnie aber noch beim Sprechen. Willie, der in einem Erdloch lebt und sich auf allen Vieren fortbewegt, ist ein ziemlich einsilbiger Gesprächspartner. Ein Endspiel.

glueckliche tage 560 arno declair u 9509Dagmar Manzel und Jörg Pose  © Arno Declair

Dagmar Manzels Winnie hockt also nicht in einem Hügel, sondern sitzt auf einem Stuhl. Mit den Füßen hat sie sich an den Stuhlbeinen verankert. Hier putzt sie sich die Zähne, schminkt sich die Lippen und plappert vor sich hin. Wie sie so plappert, das müsste eigentlich ein Ereignis sein, schließlich ist Manzel einer der großartigsten Schauspielerinnen überhaupt, eine Meisterin der Nuancierungen zwischen verletzlicher Frau und Ironieschleuder. Ihr freundliches Säuseln kann jederzeit in einen Kasernenhofton umschlagen oder in bissige Ironie. Und aufrichtig kann Manzel sein, so hinreißend aufrichtig, dass ihr alle Herzen zufliegen.

Hände zucken, Lippen beben

Statt Aufrichtigkeit gibt’s in diesen "Glücklichen Tagen" allerdings nur eine verschrobene Alte in Strickjacke und Negligee, bei der die Verzweiflung nicht irgendwo tief unter der Oberfläche hockt, sondern direkt unter der Haut pulst. Jede Handlung wirkt übergroß ausgestellt, als wolle Manzel Winnie parodieren. Dazu beben ihre Lippen, verkrampfen sich die Hände im nervösen Zucken. Ihr Gesicht blüht in der Glückselbstbeschwörung kurz auf, um sofort wieder in Verhärmtheit zusammenzufallen.

Später, als sie bis zum Hals in grauen Stoff eingewickelt ist, wirkt sie noch protestantisch freudloser und die Nicht-Beziehung zu Willie wie Ehekleinklein: Jörg Pose lehnt sich zeitunglesend schräg in die Türöffnung der Spiegelwand, später kriecht er auf allen vieren um Winnie herum und schaut reptilienhaft. Steht bis auf die Spiegelwand und den fehlenden Hügel alles so bei Beckett, wirkt hier aber wie Loriot in Zeitlupe.

Beziehungsparodie

Christian Schwochow, der Filmregisseur, der mit Manzel 2010 "Die Unsichtbare" drehte und später mit ihr und Ulrich Matthes am Deutschen Theater den Dauerbrenner "Gift" inszenierte, macht aus Becketts absurder Endzeitvision eine psychologisierende Studie irgendwo zwischen Beziehungsparodie und "Wunschkonzert". Dabei zerbröselt jeder Spannungsbogen.

Am Ende singt Manzel texttreu "Lippen schweigen..." aus Franz Lehárs "Die lustige Witwe", und das ist deshalb großartig, weil sie an der Komischen Oper ein paar Blöcke weiter südlich seit Jahren in Operetten und Musicals überwältigende Triumphe der Schauspielkunst feiert. Hier aber beugt sie sich danach sehr, sehr langsam Poses Willie entgegen wie zum Kuss, bis das Licht erlischt. Das steht so nicht bei Beckett. Das ist Kitsch.

 

Glückliche Tage
von Samuel Beckett
Deutsch von Erika und Elmar Tophoven
Regie: Christian Schwochow, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Aslı Bakkallar, Licht: Cornelia Gloth, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Dagmar Manuel, Jörg Pose.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Christian Schwochow setze, "freundlich ausgedrückt, auf konzentrierten Minimalismus und versucht sogar noch nihilistischer zu sein als die Vorlage", gibt André Mumot im Deutschlandradio Kultur Fazit (22.4.2017) zu Protokoll. "So wenig wie möglich wird inszeniert, stattdessen vertraut Schwochow ganz auf das zart psychologische Spiel seiner verlässlich brillanten Hauptdarstellerin", das "dann und wann durchaus ergreifend" sei, aber "ihr darstellerisches Feingefühl kann (…) nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Inszenierung ansonsten auf fast erschreckende Weise ohne Ideen, ohne szenischen Gestaltungswillen bleibt, ohne jedes erkennbare ästhetische Konzept", so Mumot: "So ist hier der seltene Fall zu bestaunen, dass eine Inszenierung, beinahe 60 Jahre nach der Uraufführung, weitaus biederer und simpler daherkommt als im Original angedacht. Becketts wilde, ironische Komik, seine radikale poetische Zuspitzung zwischen Kitsch und Wahn und Tod wird ersetzt durch einen bierernsten, müden Betroffenheitsgestus, der auf die Dauer kalt lässt."

"Becketts Stück wird von einem Fluss von zu sagenden Worten und zu tuenden Aktionen vorangetrieben", sagt Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (23.4.2017). "Natürlich darf jeder Regisseur damit machen was er will, aber weiß Filmregisseur Christian Schwochow, was er da will?" Die Schlussszene legt Spreng dann einen Grund nahe, "warum das Rendezvous von Stück und Regie einfach nicht stattfindet": Schwochow halte Beckett einfach nicht aus "und beendet die Meditation über die existenzielle Unerreichbarkeit mit flachem Versöhnungskitsch. Dieses Küsschen überlebt Beckett bestimmt nicht."

Manzel "beherrscht ohnehin jede Silbe, jedes Fingerkuppenzittern und Augenblitzen. Das ist, paradoxerweise, das Problem dieses Abends", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (24.4.2017). Manzel spiele und spreche alles, als würde sie sich beim Spielen und Sprechen aus sicherer Distanz beobachten. "Nie ist sie vom Text überrascht, immer weiß sie schon, was sie denken und assozieren wird, wie die Hände nach oben und die Lippen nach unten zu gehen haben. Bald weiß es auch der Zuschauer – und hakt seine Erwartungen ab", so Pilz. "Die Figur verliert jede Spannung, sie glitzert, aber sie bleibt stumpf, seltsam blass." Das sei einer "Pseudo-Regie" geschuldet, "die von der Bühne bis zur Gesamttemperatur des anderthalbstündigen Abends Tiefsinn simuliert, aber nur Oberflächenschimmer zulässt".

"Winnie ist das weibliche Pendant zu Krapp, dem sentimentalen Greis in Becketts 'Letztem Band', der darauf brennt, 'endlich zu enden'", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.4.2017). Christian Schwochow verweise darauf "mit seltsamer Zurückhaltung". Und auch Dagmar Manzel als Winnie spiele die Tragik ihrer Figur über lange Strecken "auf lakonisch-komödiantische Weise herunter", so Strauss: "Angesichts ihres nuancenreichen, zuweilen auch etwas nervigen Plappertons überhört man fast die Traurigkeit, die sich im Laufe des anderthalbstündigen Abends in ihre Rede mischt" – bis zum Schlussgesang, dessen Innigkeit Strauss preist.

"Eine Sitzriesin der Schauspielkunst" hat Patrick Wildermann gesehen und verneigt sich im Tagesspiegel (24.4.2017) tief vor Dagmar Manzel: "Sie versteht sich aufs rasante Switchen zwischen den Tonarten, fällt vom Rotzigen ins Verklärte, von angestrengter Zuversicht in angriffslustige Leichtigkeit. Mal ist sie Halsstarrige, mal Gutwütige." Allein, das alles bleibe oft "virtuose Spiegelfechterei", so Wildermann. "Zu oft." Denn Christian Schwochow zeige einen "schmerzlos konsumierbaren Beckett. Ohne drohende Abgründe. Ohne Dringlichkeit. Ohne zwingende Lesart."

Dagmar Manzel spiele Winnie mit größtmöglicher Eleganz und einer Heiterkeit, die in jedem Moment um das mit grausamer Langsamkeit nahende Ende weiß, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (25.4.2017). Die Verzweiflung sei dazu da, überspielt zu werden, und "Manzels strahlendes Spiel hat nichts mit Verdrängung und viel mit dem Wissen darum zu tun, dass Selbstmitleid der Restlebenszeit die Würde nehmen würde." Das habe in Schwochows Regie eine tolle Grandezza und gleichzeitig eine schöne Lebensklugheit. 

 

Kommentare  
Glückliche Tage, Berlin: seltsam
An Loriot fühlte ich mich gestern auch erinnert - nur in Zeitlupe und ohne Spannungsbogen.

Für den Zuschauer ist dieser tragikomisch-absurde Beckett-Monolog ziemlich quälend. Erträglich wird er nur, weil ihn mit Dagmar Manzel ein Publikumsliebling und eine Ausnahmeschauspielerin spielt. Von 1983 bis 2001 war sie festes Ensemble-Mitglied des Hauses und machte sich in den vergangenen Jahren als Gast recht rar. Häufiger war sie in Operetten und Musicals bei Barrie Kosky einige hundert Meter weiter an der Komischen Oper zu sehen und natürlich seit 2015 an der Seite von Fabian Hinrichs im „Tatort“ aus Franken.

Sie wieder einmal im Deutschen Theater Berlin sehen zu dürfen, ist ein Glück des Tages. Mit Würde spielt sie die Winnie, die ihrem Ende entgegendämmert und vergeblich versucht, sich am nächsten Strohhalm festzuklammern. Das Glück wäre aber noch viel größer gewesen, wenn sie sich für ihr Comeback einen anderen Text ausgesucht hätte. Seltsam.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/04/22/glueckliche-tage-christian-schwochow-inszeniert-beckett-mit-dagmar-manzel-am-deutschen-theater-berlin/
Glückliche Tage, Berlin: oberflächliche Kritik
So eine oberflächliche Kritik! Ich fand auch, dass der Abend nicht funktioniert, aber dass der Hügel deshalb gestrichen wurde, weil Winnie eine heutige, zeitgenössische, bodenständige Frau sein soll, ist doch wohl klar. War außerdem in jedem Vorbericht zur Inszenierung zu lesen, sogar auf der Homepage des Deutschen Theaters. "Man weiß so vieles nicht in dieser Inszenierung"? Man versteht doch alles viel zu genau! Ein bisschen die Augen aufmachen – oder recherchieren. Eins von beidem hilft immer.
Glückliche Tage, Berlin: Kritiker haben recht
Ob die Kritik nun oberflächlich ist oder nicht: ich kann ihr im Grunde beipflichten. Meinen Sie, Uwe, dass man sich umfassend informieren müssen sollte, um ein Theaterereignis zu verstehen? (Und dann noch durch werbende Publikationen?) Die Ausstattungsästhetik hat sich mir zwar ungefähr erschlossen, aber gelungen finde ich sie absolut nicht. In jedem Fall ein etwas enttäuschender Abend, wenn auch Dagmar Manzel sehenswert ist..der Rezensent von Deutschlandradio Kultur hat es gut auf den Punkt gebracht, finde ich...es fehle einfach das Spiel...
Glückliche Tage, Berlin: Nachfrage
Stimme der Kritik voll und ganz zu: nix gewagt, deshalb nicht mal im Scheitern interessant. Aber mal ehrlich: "Georg Kasch sah die opening night." heißt es hier auf der Titelseite. Opening night? Jetzt ernsthaft?

(Liebe*r Sich Fragender, opening night = Premiere. Oder wo liegt das Problem? Freundlich, sd/Redaktion)
Glückliche Tage, Berlin: gehört das zum Sprachgebrauch?
Vielen Dank, das ist mir schon klar. Gehört "opening night" mittlerweile zum Sprachgebrauch oder beschreibt das mehr als der ziemlich zutreffende Ausdruck "Premiere"? Ist Dagmar Manzel dann nicht auch eine "Actress" und wir Zuschauer eine "audience"?...
Glückliche Tage, Berlin: Selbstausstellung
Worum es geht, ist Manzel selbst. Vor einer Spiegelwand sitzend – ja, ja, das hier meint natürlich uns, verstanden – gibt sie eine exemplarische Lektion in der Variabilität schauspielerischen Ausdrucks, selbst wenn am Ende nur noch Gesicht und Stimme bleiben. Sie deklamiert, posiert (vor allem mimisch und stimmlich), klagt, trauert, resigniert, freut sich wie ein Kind, leidet, genießt – und was sonst noch in ihrem reichen Repertoire liegt. Jeder Ausdruck, jede mimische Regung, jeder stimmliche Wechsel wirkt wie angekündigt, ist überdeutlich ausgestellt, sagt: Seht her, ich kann das alles! Ihre Winnie ist eine Rollenspielerin oder besser: Manzel spielt eine Rollenspielerin und weist immer wieder auf ihr eigenen Spiel hin. Das ist letztlich mehr Virtuostätsvorführung als Rolleninterpretation. Die auch eher eigen zu nennen ist. Denn diese Winnie leidet nicht, stellt sich nicht widerwillig dem eigenen Vergehen – sie plappert. Vor allem im ersten Akt rauscht ihr leicht affektierter, immer an der Karikatur schrammender Konversationston, der mehr Daily Soap ist als Beckett, immer wieder mit der Fomelhaftigkeit, den Wiederholungen, der Kreisbewegung von Becketts Text aneinander, dessen Sprache seine eigene Geschichte von der leeren Mechanik des Weitermachens, vom Eigenleben der Sprache nach abschütteln jeder Bedeutungsbehauptung erzählt, aneinander. Beckett zieht dabei stets den Kürzeren. Manzel plaudert einfach über seine Sprachstruktur zurück (unterstützt von der neutralen Beiläufigkeit von Jörg Poses Winnie). In Becketts Werk geht es immer auch um die Sprache und ihre Rolle – hier ist sie Mittel zum Zweck.

Also kippt der Fokus in Richtung Eheklamauk, erfreut man sich an ein wenig Slapstick und blendet die Spiegelwand die dahinter vielleicht gähnende Leere wirksam aus. Andere Rezensenten haben mehr Loriot als Beckett in diesem Abend gefunden, was auch dem Meister der Absurdität des Alltags gegenüber kaum gerecht ist. Stattdessen ist dieses Dauergeplapper, das Beckett vom Blatt spielt, sich um das jenseits der Worte jedoch nicht im mindesten schert, nicht viel mehr als ein Vehikel, die Hauptdarstellerin zu feiern, ihre Fähigkeiten auszustellen, ohne sie je fordern zu müssen. Alles hier ist Vorführung, überdeutliche Selbstausstellung, was vor allem dem zweiten Akt schadet. Da wirkt Manzels zunehmend krampfhaftes Weiterplaudern noch aufgesetzter als die vielseitigere Dampfplauderei des ersten. Die Trennung von Ausdruck und Inhalt ist fast vollständig, die Ablösung von der Rolle weitgehend gelungen. Das Spiel verselbständigt sich, reflektiert aber weder auf sich selbst noch aufs Stück. es ist Selbstzweck, zuweilen fast ein wenig eitel. Natürlich ist es großartig anzuschauen, was Dagmar Manzel aus fast nichts machen kann. Doch bleibt dabei eben jeglicher Blick auf die Welt, die Beckett zeichnet, auf der Strecke. Die Sinnlosigkeit jeder Existenz und die Absurdität menschlichen Lebens finden nicht statt. Stattdessen plaudert eine Großschauspielerin 80 Minuten lang unterhaltsam gen Publikum. Reicht das?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/05/12/wenn-beckett-plappert/
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