Mauser - Oliver Frljić denkt im Marstall des Münchner Residenztheaters Heiner Müllers Lehrstück weiter
Die Leiber zerschmettern
von Willibald Spatz
München, 27. April 2017. In Heiner Müllers "Mauser" geht es viel ums Töten und getötet werden. Wer andere umbringt, wird zwangsläufig selbst umgebracht, weil er irgendwann seinen Wert verloren hat – ein ständiger Kreislauf, von dessen Unterbrechung erst mal nicht die Rede ist. Revolutionär A will als Henker zurücktreten, nachdem er seinen Vorgänger hat hinrichten lassen. Die Partei lehnt seine Bitte ab. Da wird er zum lustvoll Mordenden – und soll am Ende seiner eigenen Auslöschung zustimmen.
Schockierendes, Poetisches, Süffisantes
Heiner Müller hat das 1975 uraufgeführte "Mauser" als Lehrstück geschrieben und gleichzeitig gefordert, dass jedes Lehrstück eine Auseinandersetzung mit und eine Kritik an den Lehrstücken von Bertolt Brecht zu sein habe, in diesem Fall "Die Maßnahme", wo ebenfalls das Schicksal eines Einzelnen einer Ideologie untergeordnet werden muss. Anders als Brecht hinterfragt Müller die Mittel der Revolution.
Oliver Frljić arbeitet sich nun, ein knappes halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung, an Müllers Lehrstücks ab, und zwar ebenfalls, indem er es ernst nimmt und doch kritisch befragt. "Das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt" – bestimmte Sätze wiederholen sich in einem fort und erreichen so eine Brachialität, dass die Körper irgendwann wirklich nur noch Material zu sein scheinen, die einem höheren Zweck zugeführt werden. Und zunächst sieht es auch so aus, als wolle Frljić dieses Stück als großes Leibertheater inszenieren. Schon zu Beginn werden regungsglose Schauspieler auf die Bühne geschleift, auf Tische gewuchtet. Zum Absondern ihrer Sätze erheben sie sich über die anderen, steigen auf die Liegenden und versuchen mühsam, die Balance zu halten.
Mit einer gewissen Stumpfheit wechseln sich laute und leise Momente ab, im dringenden Bemühen, Worte mit möglichst viel Pathos zu bebildern, wahrhaftige Augenblicke zu schaffen, um irgendeine Form von Relevanz zu erreichen. In einer Erschießungsszene wird den Schauspielern der Lauf der Pistole so weit in den Rachen geschoben, dass sie würgen müssen. Marcel Heuperman zieht sich nackt aus, geht an den Zuschauern entlang, sucht Blickkontakt und haut sich dann mit schmerzverzerrter Miene auf den Po. Später gibt es eine Würgeszene. Das ist alles einigermaßen derb anzusehen, berührt oder schockiert aber nur mäßig. Wenn das Frljićs Versuch ist, das Publikum – wie Müller es fordert und wie es ihm selbst mit seiner Waterboarding-Szene in Balkan macht frei gelang – zum Mitmachen, Eingreifen, Handeln zu bewegen, dann geht das schief.
Zwischendrin gibt es durchaus Poetisches und Schönes, wenn zum Beispiel eine Leiche ausgiebig gewaschen wird. Oder Süffisantes: Franz Pätzold stellt sich vor mit den Worten "Mein Name ist Oliver Frljić. Ich komme aus Kroatien, diesem faschistischen Land." Er zieht eine SS-Uniform und erzählt, dass er in Deutschland lebe um zu arbeiten und anschließend von einer Rückkehr nach Hause, bei der er seine Familie ermordet. Da spielen dann die massiven Anfeindungen mit hinein, denen er als Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka, aber auch als Regisseur in Polen ausgesetzt ist.
Mit großer Lust und kleiner Axt
Über allem schwebt buchstäblich Heiner Müller als riesiges Foto auf einem die komplette Rückwand abdeckenden Vorhang. Der reichlich wabernde Nebel erweitert das Bild hervorragend als Zigarrenrauch. Zusätzlich steht Alfred Kleinheinz als Heiner-Müller-Stellvertreter am Bühnenrand, die meiste Zeit stumm und ohne einzugreifen. Ein kritischer Beobachter des Geschehens, dem Zweifel kommen dürfen, ob das, was da vor seinen Augen passiert und für sich beansprucht, Kunst zu sein, irgendeinen Sinn haben kann oder einen Zweck erfüllt. Mittlerweile sind alle nackt. Drei Männer wälzen sich ineinander verschlungen über den Boden, was sichtbar eine Herausforderung an Kondition und Koordination darstellt. Höhepunkt der Aktionen: das Holzhacken im Turnschuh. Da splittert das Holz und ästhetisch ist es allemal, aber das ist in dem Fall gar keine Kategorie mehr.
Dabei lässt er seine Zuschauer nicht allein mit dem Gesehenen nach Hause gehen: Nach dem Abspielen des Stücktexts kommt Heiner Müller leibhaftig zu Wort in Form eines nachgespielten Interviews. "Krieg ist Kontakt", heißt es da. Ewiger Friede könne gar nicht das Ziel sein, denn das sei ja dann das Ende. Eigenartig leer klingt das aus dem Mund des nun ebenfalls fast entkleideten Alfred Kleinheinz am Boden. Groß gemeinte Dichterworte, deren Wirkung jenseits der Theaterbühne schnell verpufft. Dadurch wird auch die Relevanz des eben Gezeigten noch mal zur Disposition gestellt, was in dem Kontext eine schöne Geste ist.
Konsequenterweise findet Frljić zum Abschluss noch mal ein passendes Bild: Auf einem Sockel wird eine Eisbüste Heiner Müllers hereingefahren. Nora Buzalka zertrümmert sie mit großer Lust und einer kleinen Axt. Alfred Kleinheinz hat inzwischen wieder was an, in der linken Hand hält er die Zigarre, in der rechten das Whiskyglas. Das Eis für den Whisky hebt er vom Boden auf, von der zerschmetterten Büste. Das Denkmal ist zwar zerstört, das Werk aber wird konsequent weitergedacht.
Mauser
von Heiner Müller
Regie, Bühne, Musik: Oliver Frljić, Kostüme: Sandra Dekanić, Licht Gerrit Jurda, Dramaturgie: Marija Karaklajić, Sebastian Huber
Mit: Franz Pätzold, Alfred Kleinheinz, Marcel Heuperman, Nora Buzalka, Christian Erdt.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
"Oliver Frljic zeigt, was bei Müller unter der dicken Pathos-Decke steckt, und er erzählt davon, wie wenig ihm selber dieser Text der Widersprüche, in dem mit Menschen über Gräbern jongliert wird, aus seinem Denk-Dilemma hilft", schreibt Bernd Noack auf Spiegel online (28.4.2017). "Wie die herausragenden Schauspieler Franz Pätzold, Alfred Kleinheinz, Marcel Heuperman, Nora Buzalka und Christian Erdt hier die Erniedrigung spielen, die jede Kreatur erleidet, wenn sie gequält wird; wie sie den Triumph der Erniedriger mit grausamer Gier zelebrieren: Das hat eine schockierende Wirkung. Völlig ohne berechnende oder plumpe Provokation."
Als "Provokation" hat Christine Dössel den Abend erlebt, die zum Teil in der über weite Strecken offensiven Nacktheit sämtlicher fünf Darsteller liege, zum Teil in den vorgeführten Grausamkeiten, "vor allem aber in der grundlegenden Frage nach der Gewalt als Mittel zur gesellschaftlichen Veränderung". Der Abend habe etwas Widerständiges, "was eine Qualität ist", schreibt Dössel in der Süddeutschen Zeitung (29.4.2017). "Auch dass sie mit sich selbst und ihren Fragestellungen ringt und sich ernsthaft durch Dilemmata quält, spricht für die Inszenierung."
Patrick Bahners schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.5.2017): Die ersten Worte, die Müllers Chor an den namenlosen Protagonisten, den Kommissar für Tötungsangelegenheiten, richte, der selbst zum Todeskandidaten wird, seien ein "Echo der Johannespassion". Und gibt noch einige gelehrte Hinweise mehr, sich dabei auf Heinrich Deterings Erwägungen zur "Liturgie der Barbarei" stützend. Weil aber Müller keine Kritik übe an der revolutionären Gewalt, gehe Oliver Frljić in seiner Münchner Inszenierung davon aus, "dass nur die Körper der Schauspieler dem ideologischen Gehalt des Stücks 'Widerstand bieten' können". Frljić habe eine "ganze Serie drastischer Exerzitien erfunden", um den "im Stück verkündeten revolutionären Grundsatz" ins Bild zu setzen, dass das Töten eine körperliche Arbeit wie jede andere sei. Wie im Tanztheater bildeten die Akteure Knäuel aus Leibern, die alles mit sich machen ließen: "Revolution heißt hier Herumwälzung". "Antisozialistischer Realismus" konterkariere das "klassische Decorum der Verse". Doch komme der Aufführung leider die "rituelle Konsequenz" abhanden.
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Zu elegischen Klavierklängen, der verfremdeten Marseillaise und russischen Volksliedern performen Nora Buzalka, Christian Erdt, Marcel Heuperman und Franz Pätzold die Geschichte des Soldaten A, der vom Chor den Auftrag bekommt, in den Wirren des russischen Bürgerkriegs das Revolutionstribunal in Witebsk zu leiten und alle konterrevolutionären Elemente sowie die sonstigen Feinde zu liquidieren.
Frljić reichert ihn durch weitere kurze Müller-Passagen an: er lässt O-Töne aus einem Gespräch von Elfriede Jelinek mit Heiner Müller aus dem Jahr 1987 nachspielen. Den Text des Orakels aus Ost-Berlin spricht Alfred Kleinheinz, der sich bis dahin meist vornehm am Rand hält, während sich seine vier Mitspieler über die Bühne zerren, die Pistole gegenseitig in den Mund schieben oder die Schlinge um den Hals legen.
Einen Exzess wie die Waterboarding-Szene, die bei jeder „Balkan macht frei“-Aufführung polarisiert, gibt es diesmal nicht. Aber auch in der zweiten Hälfte von „Mauser“ verlangt Frljić seinen Schauspielern wieder sehr viel ab: Nora Buzalka dirigiert ihre nackten Kollegen wie Puppen, rollt sie als Bündel von Leichen über die Bühne und performt mit ihnen gemeinsam eine lange Holzhacker-Szene.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/07/21/mauser-oliver-frljics-heiner-mueller-inszenierung-im-marstall-zwischen-meditation-und-vollem-koerpereinsatz/