BND - Big Data is watching you
Aber ich bin nicht ich!
von Gerhard Preußer
Bonn, 27. April 2017. Warum ist ein Theaterabend interessanter als ein Wikipedia-Artikel? Dumme Frage! Weil die Subjektivität des Autors, des Regisseurs, der Schauspielerinnen und Schauspieler die versammelten Subjektivitäten der Zuschauer in Schwingung bringen, weil der Abend in einer konzentrierten Gemeinschaft erlebt wird. All diese Vorteile verspielt Simon Solbergs Stückentwicklung "BND – Big Data is watching you" in den Bonner Kammerspielen.
Steife Belehrung zwischen Aktenregalen
Wenn ein Theaterabend mit einem nicht ausgewiesenen Wikipedia-Zitat als Verlautbarung einer fiktiven Figur beginnt, steht Schlimmes zu befürchten. Und tatsächlich müssen die Schauspieler noch öfters staubtrockene x-ist-y-Prosa als Dialogtexte von sich geben. Wir erfahren so, was das "Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik" ist, dass es in Bonn angesiedelt und Bestandteil des Bundesnachrichtendienstes ist. Für die psychologische Rechtfertigung solcher Informationssatzabsonderung dient ein Handlungskonstrukt: Ein junger Informatikabsolvent namens Francke (Benjamin Berger) wird vom BND eingestellt und nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt auf die Ermittlung eines der Helfer des Attentäters Amri angesetzt. Dieser Fluchthelfer namens Gruber soll selbst BND-Mitarbeiter gewesen sein. Gruber wird bis in den Irak und nach Marokko verfolgt und löst sich schließlich in nichts auf. Der Verräter ist nur ein Phantom.
Allzu offensichtlich dient diese Handlung der Aneinanderreihung von Informationen über die verschiedenen öffentlich gewordenen Skandale, Katastrophen und Affären des BND (Eikonal, Netbotz, Curveball usw.). Die steife Belehrung zwischen einigen grauen Aktenregalen und zwei Projektionswänden (Bühne: Ansgar Prüwer-LeMieux) wird gelegentlich durch kollektive Tanzschritte verflüssigt. Nur die private Schiene, das Verhältnis Franckes zu seiner schwangeren Berliner Freundin (Lara Waldow), bietet den Schauspielern Gelegenheit, wenigstens einige emotionale Ausbrüche zu simulieren.
Wer's glaubt wird selig
Ein "Recherche-Thriller zur allgegenwärtigen Überwachung" sei das, heißt es im Untertitel der Veranstaltung. Ein Thriller lebt von überraschenden Wendungen der Handlung. Und die gibt es hier oft. Die Freundin des BND-Neulings sei Prostituierte und Agentin des Verräters, erfährt man. Dann eine neue Sensation: der Chef der Abteilung (Wilhelm Eilers), der so die Freundin des BND-Neulings verleumdet hat, ist selbst ein Doppelagent. Ein weiterer Salto: der BND ist verantwortlich für die Entstehung des islamischen Staates, weil er an den CIA die Lügen eines irakischen Wichtigtuers über die Massenvernich-tungswaffen Saddam al Husseins weitergab. Und schließlich die finale Volte: der Verräter Gruber ist Neuling Francke selbst. In Videogroßaufnahme schält er sich die Maske vom Gesicht. Wir selbst, wir alle sind schuld, weil wir unsere Daten willig dem Internet preisgeben. Und die kindlich naive Lösung dafür ist "Rückkehr zu den Selbstheilungskräften der Natur": Der nette junge Mann wird von seiner schwangeren Freundin zurückgeholt ins wirkliche Leben. Seine Ausrede, "Aber ich bin nicht ich", gilt hier nicht. Liebe, Familie, Eintracht, Identität, Natürlichkeit. Wer’s glaubt wird selig, und wer glaubt, die Inszenatoren glaubten wirklich so einen Schmarren, der ist noch naiver als der fiktive Protagonist dieses Machwerks.
Wer aber meint, dies alles sei ja nur ironische Übertreibung, um einen Diskurs anzustoßen, muss sich fragen lassen, wo die Grenze ist zwischen Ironie und Verdummung, zwischen selbstkritischer Brechung der Aussage und gefährlicher Simplifizierung. Diese Inszenierung hat sie überschritten. Das Genre des Recherchetheaters wird diskreditiert, wenn die Recherche sich nur auf sattsam bekannte Quellen bezieht und das Theater sich auf die schlichte Dialogisierung von Informationen und die Erfindung von krude zusammengezimmerten Handlungselementen beschränkt.
Reale, ernsthafte Probleme
Die in diesem Projekt verhandelten Probleme sind real und ernsthaft: Wie kann es in einem Rechtsstaat eine Organisation geben, die rechtlich nicht überprüfbar ist? Wie kann eine möglichst öffentliche Kontrolle von Geheimdiensten durch demokratisch gewählte Gremien installiert werden, ohne die Funktion der Dienste zu verhindern? Aber das alles interessiert hier nicht wirklich. Die Recherche beschränkt sich auf Wikipedia und Spiegel-Online und der Thriller ist üble Kolportage. "Die Kolportage ist intellektuell bewusst flach gehalten, verwendet allgemein verbreitete klischeehafte Vorstellungen und Bilder und vermeidet prinzipiell neue Erkenntnisgewinne." Wenn eine Theaterkritik mit einem Wikipedia-Zitat endet, ist der Kritiker sprachlos geworden.
BND - Big data is watching you
Uraufführung von Simon Solberg
Regie: Simon Solberg, Bühne: Ansgar Prüwer-LeMieux, Kostüm: Linda Tiebel, Licht: Sirko Lamprecht, Dramaturgie: Johanna Vater, Male Günther.
Mit: Benjamin Berger, Wilhelm Eilers, Glenn Goltz, Lara Waldow, Manuel Zschunke.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.theater-bonn.de
"Kein Dokumentarstück, sondern ein hochspannender Psychokrimi" ist der Abend für Elisabeth Einecke-Klövekorn. "Die Aufführung zeigt mit sinnlicher Intelligenz und spielerischer Energie ein brandaktuelles Problem", schreibt Einecke-Klövekorn im Bonner General-Anzeiger (29.4.2017). "Wer sind wir, wenn das Netz jeden kennt und daraus schließt, was passiert?" Im Theater stelle sich die Frage nach Sein und Schein sowieso. "Hier sind jedoch alle Akteure Schauspieler in einem verwirrenden Lügenkonstrukt, das bösartig amüsiert und aufregt."
"Schnelle Dialoge und das ironische Spiel mit Genre-Stereotypen garantieren gute Unterhaltung", schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (8.5.2017). Das große Problem des Abends sei aber, "dass die Vermischung von Fiktion und Fakten den Recherchepart diskreditiert. Sogar handfeste Skandale verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn die Story um den flüchtigen Agenten Gruber in Richtung Verschwörungstheorie abbiegt."
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Ich sah einen an Informationen überbordenden Theaterabend mit dramaturgisches Schwächen aber mit viel Mut und grandiosen Schauspielern.
"Wir selbst, wir alle sind schuld, weil wir unsere Daten willig dem Internet preisgeben. Und die kindlich naive Lösung dafür ist 'Rückkehr zu den Selbstheilungskräften der Natur': Der nette junge Mann wird von seiner schwangeren Freundin zurückgeholt ins wirkliche Leben. Seine Ausrede, 'Aber ich bin nicht ich', gilt hier nicht. Liebe, Familie, Eintracht, Identität, Natürlichkeit. Wer’s glaubt wird selig, und wer glaubt, die Inszenatoren glaubten wirklich so einen Schmarren, der ist noch naiver als der fiktive Protagonist dieses Machwerks."
Die Frage lautet:
Inwiefern ist Recherche-Theater Theater.
Oder, genauer: Ist die mit theatralen Mitteln (Schauspieler-Einsatz, Auftrittsraum, begrenztes Zeit-Fenster, erfundene Dialoge/Gespräche und Situationen, in denen sie gesprochen werden) DARGESTELLTE/VORGEFÜHRTE Recherche in der Tat THEATER? Oder ist sie einfach eine Art immersiv ineszenierter Journalismus, der in bisher üblichen Medien - aus welchen Gründen, wäre interessant extra zu bedenken - keinen Platz mehr findet/erhält???
In jedem Staat kann es geheimdienstliche Unternehm(ung)en geben, die an seinem Recht vorbeiagieren. Dass sie rechtsstaatlich nicht bis ins Letzte kontrollierbar sind, ist ihr Ausweis als GEHEIMdienste überhaupt irgendwem Informationen liefern zu dürfen und damit Kohle machen zu können... Das kann man jetzt gut finden oder schlecht finden, es ist einfach eine Lebenswahrheit - und zwar überall auf der Welt - die man akzeptieren muss. Was man nicht akzeptieren muss, ist, dass Geheimdienste
a) beansprucht werden, um gezielt Bevölkerungen dadurch zu schädigen, dass sie ihre jeweilige Volkswirtschaften gezielt schädigen oder gegen Bezahlung schädigen helfen
b) dass man wissentlich für diese Geheimdienste in der Form a) arbeitet und damit seinen Lebensunterhalt verdient
c) dass man aufgrund der heutigen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung von jedem Geheimdienst der Welt missbraucht werden kann im Sinne von a) und es dagegen keinerlei Schutz mehr gibt. Und zwar, weil durch diese Möglichkeiten die M e h r h e i t der auf der Erde lebenden Menschen in naher Zukunft bereits im Sinne von a) informelle Mitarbeiter von Geheimdiensten sind. Und zwar unbezahlte.
Deshalb ist es dringend notwendig, dass Geheimdienstmitarbeiter, die für ihre Arbeit bezahlt werden, darüber nachdenken, was sie da eigentlich tun und ob das überhaupt noch einen Sinn hat, was sie da machen und als eine ihr ganz persönliches leben mit Sinn erfüllende Arbeit begreifen. Weil sie durch ihre Dienste weder bezahlt noch unbezahlt heute weder einen Staat noch ein Großunternehmen mehr überhaupt nachhaltig und garantiert schützen können.
Wenn die technischen Möglichkeiten heute so beschaffen sind, dass potentiell JEDER Mensch in naher Zukunft geheimdienstlich - wissentlich ODER unwissentlich - tätig werden kann, kann man eine Welt denken, in der KEIN Mensch mehr geheimdienstlich tätig sein muss.
Das Recherchetheater wird durch diese Inszenierung nicht mehr dikreditiert wie das klassisch auf Inszenierung von Dramatik als Dichtung basierende Theater vom Recherchetheater. Insofern hat diese Inszenierung möglicherweise für eine theaterbetriebliche Patt-Situation gesorgt.
Als jemand der eher Literatur als Spielvorlage schreibt, und nicht inszeniert wird, kann ich das im Moment nur begrüßen.