Alles aus Liebe

von Katrin Ullmann

Hamburg, 21. Mai 2008. Gleich am Anfang, bevor das Theaterlicht angeht, ruft er die Polizei. Leise spricht er in ein Mikrofon, stottert und stockt. Erstattet Anzeige. Mit einem knappen Telefonat denunziert Heinrich die jahrzehntelang untergetauchten (Ex)-Terroristen, verrät ihr Versteck in der "Villa Stahl". Sein Motiv? Die Liebe. Doch die ist danach weg. Mit einer Szene, die in Christian Petzolds Film "Die innere Sicherheit" gegen Ende vorkommt, beginnt Frank Abt den Theaterabend und erzählt die Ereignisse rückwärts.

Die Idee ist so einfach wie genial. Sie zieht den Zuschauer sofort in diese verstörende Geschichte, von der man sich kaum vorzustellen vermag, dass sie auf der Bühne einen ähnlichen Sog ausüben kann, wie auf der Kinoleinwand. Christian Petzold erhielt für seinen Film – mit Barbara Auer, Richy Müller und Julia Hummer als Terroristenfamilie – im Jahre 2001 nicht weniger als den Deutschen Filmpreis in Gold. Die Erwartungen sind hoch gesteckt.

Das dunkle Leben der Eltern

Doch Frank Abt gelingt mit seiner Inszenierung – die er in einer kleinen Spielstätte, der Thalia-Theaterbar "Nachtasyl" zeigt – eine absolut fesselnde und berührende Umsetzung, die ohne große Effekte auskommt. Es ist eine sehr klare, sehr ruhige und reduzierte Version der Geschichte. Eine, die sich auf Jeannes Sehnsucht nach der Abgrenzung von den Eltern, nach einem normalen Leben und einer ersten Jugendliebe konzentriert.

Eigentlich will diese Jeanne nicht mehr und nicht weniger als andere 15-Jährige. Doch eingesperrt in das verdunkelte Leben ihrer Eltern, werden ihre Sehnsüchte zur Bedrohung. "Andere Kinder können wenigsten abhauen", brüllt Jeanne (Olivia Gräser) einmal. Das Leben zwischen Komplizin-Sein und Hausunterricht ist ihr zu eng geworden.

Olivia Gräser ist eine großartige Besetzung für die Rolle der Jeanne. Zerbrechlich und zäh, schnippisch und schnell und die tellergroßen blauen Augen immer weit offen ist sie lebenshungrig und altklug zugleich, ist ungelenkes Kind und doch schon fast erwachsen. Etwa wenn sie Heinrich nach ihrer ersten Nacht aus "Romeo und Julia" rezitiert. Dann sitzt sie, in ein Federbett gewickelt auf dem Fenstersims, und kichert vor Verlegenheit und schlägt für Shakespeare dann einen ernsten, pathetischen Ton an. Alles aus Liebe.

Die Strandbekanntschaft aus Portugal. Doch Thorsten Hierse spielt nicht nur den "wellenreisenden" Heinrich, sondern auch Onkel Klaus, einen weiteren Hoffnungsträger aus alten Zeiten und sogar Jeannes Großvater. Hierse spielt diese Rollen völlig unbekümmert, scheinbar ungerührt: mit einer großen Ruhe, einer ungeheuren Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit. Was ihm hilft, ist die Bühne, die genauso Behauptung ist, wie sein Spiel.

Eigenes Leben, eigenes Glück

Mit wenigen Mitteln hat Anne Ehrlich die gesamte Bar als Spielraum definiert: Die Eingänge sind mit Holz ausgeschlagen, die Sitzreihen stehen einander gegenüber. Die Schauspieler agieren hinter dem Tresen und auch mal zwischen den Zuschauern. Der ganze Raum ist Fluchtort. Das "Nachtasyl" ist die "Villa Stahl" aus Petzolds Film. Dorthin ist die Familie nach einer langen Zugreise, einer Taxifahrt und nach über 100 Stufen hinauf ins Dachgeschoss des Thalia Theaters – so zeigt es ein kurzer Film (Torsten Bruch) – geflüchtet. Dort ist endlich ihr Versteck. Doch dieses ist nicht sicher. Zumindest nicht vor der Liebe.

Die Mutter (großartig: Sandra Flubacher) versucht es mit Disziplin und Strenge, der Vater (knapp und kalt: Markus Graf) mit Verständnis. Beide scheitern, denn Jeanne will ihr eigenes Leben, ihr eigenes Glück. Am Ende spielen sie den Schluss noch mal. Dann nimmt Heinrich wieder das Telefon und erstattet Anzeige. Doch Jeanne geht nicht – wie in Petzolds Film – zurück zu ihren Eltern.

Sondern, das zeigt eine weitere Videoprojektion, rennt mit Heinrich Hand in Hand die Treppen runter, raus aus dem Theater und nimmt den nächstbesten Zug durch die Nacht. Die Haare im Wind, steht sie mit ihm am Fenster, schreit ins Dunkel, küsst Heinrich. Küsst ihn wieder und dreht sich weg. Dann tritt sie raus aus dem Filmbild und steht wieder da. Im Nachtasyl, in der "Villa Stahl". Eine Weile sieht sie ihrem Heinrich, ihrem Glück noch beim Zugfahren zu, doch dann ist der Film aus. Und Jeanne zutiefst erschrocken.

 

Die innere Sicherheit
nach dem Film von Christian Petzold
Regie: Frank Abt, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Julia Nielsen, Video: Torsten Bruch. Mit: Sandra Flubacher, Olivia Gräser, Markus Graf, Thorsten Hierse.

www.thalia-theater.de 

 

Kritikenrundschau

Ausgesprochen zufrieden zeigt sich ein mit FK kürzelndeR KritikerIn in der Tageszeitung Die Welt (23.5.2008) mit dieser Aufführung, deren Hauptqualität für ihn darin besteht, dass Frank Abt gar nicht erst versucht habe, mit Christian Petzolds Filmbildern in Konkurrenz zu treten. Statt auf Tempo und visuelle Effekte setze er "auf äußerste Langsamkeit, auf das möglichst genaue Austaxieren von Gesten und Mimik vierer Menschen, die mit dem Rücken zur Wand stehen." "Tragend und also überzeugend" findet er dabei besonders die Schauspieler Sandra Flubacher, Markus Graf, Olivia Gräser und Thorsten Hierse.



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