Der ungeheuerliche Mensch

von Simone Kaempf

Berlin, 22. Mai 2008. Ein Ballon rollt nach vorne. Oder doch eine Fruchtblase? Scheinwerfer projizieren Schatten, mehrere Schatten auf die milchig-weiße Ballonhaut, und der Eindruck täuscht nicht. Wenn der mannshohe Ballon platzt, kommt nicht nur ein Mensch zum Vorschein, sondern deren zwei. Ein Paar, so nackt wie bei der Geburt. Oder wie die ersten Menschen: Adam und Eva, Ubu und seine Frau, die Schauspieler Wolfram Koch und Samuel Finzi. Vor allem aber doch Vater und Mutter Ubu, Finzi klemmt sich das Geschlecht zwischen die Schenkel nach hinten, stiftet den Gatten zum Mord am Kronen-Besitzer an und spricht mit weiblicher Fistelstimme: "In acht Tagen bin ich Königin von Polen, Gottseidank und mir selbst."

Wenn auf der Bühne dieser Riesen-Fruchtblasenballon platzt, dann gellt das berühmte "Scheiße" über die Bühne. Berühmt, weil die Uraufführung von Alfred Jarrys "Ubu Roi" im Jahr 1896 bereits nach diesem ersten Wort wegen Tumulten unterbrochen werden musste, weil da auf der Bühne ein mieser, kleiner Tropf die Macht an sich reisst, wie in der Realität dann viele Diktatoren nach ihm. Berühmt auch, weil Ubu Roi als Geburtsstunde des sprachlichen Schockmoments auf der Bühne gilt, die kaum noch zu übertreffen war.

Mörderischer Stillstand der Geschichte

Auch Gotscheffs Inszenierung könnte nach dieser Anfangs-Szene enden, weil sie einfach nicht zu toppen ist. Der ungeheuerliche Mensch ist mit einem Schrei geboren, rottet bald seinesgleichen aus. Und selbst wenn die Frau dem Mann nicht beiflüstern würde, bliebe er bestimmt nicht brav im Paradies – alle Motive des Abends sind damit gelegt, alle Mittel so rasant ausgebreitet, dass sie nur erlahmen können. Aber so schlau ist man erst neunzig Minuten später, wenn Ubu ein wenig gemordet hat, der alte Hofstaat den neuen Herrscher beklatscht, und die Ubus jetzt faul von Luxus reden können.

Aber von wegen Luxus. Die Bühne ist so leer, wie man es von Gotscheff kennt: da sind die Schauspieler, da ist der Text, der Raum ist nach hinten aufgerissen bis zu den Mauern - Platz für den atmosphärischen Stillstand von Geschichte und die ewig verpuffenden Kräften des Umschwungs. Und vor allem aber ist da noch das Bühnenbild von Katrin Brack, das immer wieder für Überraschungen gut ist. Nach Konfetti, Nebel, Regel und Schaumbergen sind es nun bunte Luftballons in unterschiedlichen Größen und unterschiedlichen Funktionen: Wenn Ubu endlich König wird und den Thron besteigt, sitzt er auf einem Ballon. Wenn ein Mord geschieht, schwebt schon mal ein Ballon wie eine Seele gen Schnürboden. Beim Feldzug pirscht das Heer hinter den Ballons.

Lauter Ballons: stumm und doof

Und die ruhig in Gruppen liegenden kleinen und großen Ballons erinnern an einen Volksstaat, der stumm und doof den Reden ihres neuen Herrschers lauscht. Starke Mitspieler also diese Ballons, neben denen Samuel Finzi und Wolfram Koch im Laufe des Abends erstmal bestehen müssen. Anfangs noch zankendes Ehepaar, geben sie dann die Zwillings-Politiker in schwarzen Anzügen und roten High-Heels, Zwitterwesen zwischen Macht und privaten Gelüsten. Aber Finzi und Koch sind auch gefährlich nah an der Selbstkarikatur und am ausgewalzten Spaß, nicht nur ein erneutes Mal mit Gotscheffs Theaterfamilie auf der Bühne zu stehen, sondern sogar endlich mal verheiratet zu sein.

Neben der Parodie auf herrschende Paare wie auf den Thronadel – die abzusetzenden Blaublüter sind betont debil – wirkt die Inszenierung wie eine Karikatur aufs meinungweisende Theater selbst. Schon Alfred Jarry verstand seinen "Ubu Roi" als Parodie auf die klassischen Königsmorddramen. Gotscheffs Eröffnungsszene mit den weggeklemmten Hodensäcken erscheinen wiederum wie eine Anspielung auf Jürgen Goschs "Macbeth". Der Ubu-Bote tritt mit den Worten des Angestellten aus Heiner Müllers "Der Auftrag" auf, der im Fahrstuhl zur Chefetage vor Angst vergisst, warum er unterwegs ist.

Psychedelisch verzerrt

Das weiße Bärenkostüm am Ende des Abends tauchte dagegen in Gotscheffs "Iwanow" schon mal auf. Wahrscheinlich ist auch noch die eine oder andere Anspielung wie ein Osterei in der Inszenierung versteckt. Aber ob man den Sinn der Selbstbezüglichkeit besser verstehen würde, fände man sie alle? Die Unabwendbarkeit der Geschichte, der ewige Lauf der Dinge, in Schach gehalten durch den Größenwahn des Menschen, schält sich als Motiv aber jedenfalls deutlich aus dem Text. Und wird gleichzeitig kalauernd strapaziert.

"Wer soll denn jetzt für Gerechtigkeit sorgen", fragt Mutter Ubu nach der Verurteilung des Richters zum Tode. "Ach das wird schon irgendwie klappen", weiß Vater Ubu, und Finzi strahlt dabei, wie die ganze Inszenierung auch etwas Buntes hat. Sir Henry entlockt dem Keyboard psychedelisch verzerrte Töne, als ob die Luftballons kleine Schreie ausstießen. Wenn Krieg ausbricht, die Ballons in der Luft zu tanzen beginnen, dann jault das Keyboard auch lauter, und es siegt der schale Eindruck, dass Gotscheff doch nichts anderes tut, als mit den Las Meninas einen großen Kindergeburtstag zu veranstalten, an dem man nicht mitfeiern kann.

 

Ubukoenig
nach Alfred Jarry
Fassung der Volksbühne nach einer Bearbeitung von Maurici Farré
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Ellen Hofmann, Musik: Sir Henry, Licht: Torsten König, Dramaturgie: Maurici Farré. Mit: Stephan Baumecker, Frank Büttner, Samuel Finzi, Michael Klobe, Wolfram Koch, Sebastian König, Nele Rosetz, Axel Wandtke.

www.volksbuehne-berlin.de

 

 

Kritikenrundschau

In der Frankfurter Rundschau (24.5.) schreibt Petra Kohse: "Mit Schock, Verballhornung und Säftelehre haben Gotscheff und der Dramaturg Maurici Farré, in dessen straffer und selbstredend mit Heiner Müller angereicherter Fassung des Textes gespielt wird, nichts im Sinn." Der Abend werde sofort existenziell und bleibe fast klinisch formbewusst. Am Anfang spielen Koch und Finzi "mit lustiger Geziertheit, noch immer nackt" den Sündenfall nach. "Die Partitur der Grausamkeit", die Koch und Finzi als "charmant-clowneske Profischlawiner" in dieser Inszenierung intonieren, "gipfelt im Nirwana des Konzeptkünstlerischen, in dem jeder Recht hat, der das Wort erhebt, weil alles nur immer auf ein anderes verweist." "Ein ästhetizistischer Kommentar zum Thema Machtergreifung" sei das, "dessen Wert sich nach der Qualität der Inszenierung selbst bemessen muss. Und die ist nicht nur soweit es das Duett von Koch und Finzi betrifft zwingend."

Peter Laudenbach hat, Süddeutsche Zeitung (24.5.), der "maroden Volksbühne" einen so "tollen Abend gar nicht mehr zugetraut" mit "vor hellwacher Spielfreude leuchtenden Schauspieler" und einer "Inszenierung, die in ihrer großen Leichtigkeit ziemlich gute Laune macht." Herr und Frau Ubu seien bei Koch und Finzi "sehr kultivierte Steinzeitmenschen in schwarzen Anzügen und roten Highheels." Sie stellen "übertriebene Gesten aus, aalen sich in ihrer neuen Königswürde", würden mal "Charlys Tante" spielen, mal "eine groteske Raubkopie des großen, alten Tragödientheaters". Echte oder falsche Bedeutungstiefe komme da nicht auf, "stattdessen: pures Vergnügen am zweckfreien Spiel." Dafür sorge auch die Bühnenbildnerin Katrin Brack, die "große, bunte Luftballons auf die leer geräumte Bühne gekippt habe", womit klar ist, "dass wir hier in einem sinnfreien Fun-Zoo sind und nicht im Museum der Avantgarde."

Eine "leichthändige, zum Lachen abgründige Inszenierung" sah Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.5.). "Hinreißend närrische Exegeten der entlarvenden Absurditäten" seien Koch und Finzi. Eine "Atmosphäre von bezauberndem Surrealismus" verbreiten die Ballons von Katrin Brack. Hinter einer solchen Kugel erscheinen am Anfang Wolfram Koch und Samuel Finzi, "und es sieht aus, als steckten sie noch in der Fruchtblase." Mit Jarrys Verbalakrobatik, die "Ohren" zu "Ohnen" und "Finanzen" zu "Phynanzen" verbog, haben sie in Gotscheffs "stark gekürzter, frei ergänzter und klug auf eine allgemein politische Lesart gebrachter Fassung nichts im Sinn." Sie würden hier mit Heiner Müller in die Welt ("Arbeiten und nicht verzweifeln") kommen und "entwickeln dazu als Ehepaar Ubu so witzig wie präzise die Klischees" von einer Männer- und Frauenrolle.

Katja Oskamp, Berliner Zeitung (24.5.), teilt die Begeisterung nicht. "Die Vorführung eines skrupellosen Charakters im Sinne einer pädagogischen Maßnahme" locke heute keinen mehr hinterm Ofen hervor. "Luftballons und Heiner-Müller-Texte" würde die schlappe Antwort lauten. Koch deute mit "stumpfem Gesicht und grollender Stimme" manchmal Vater Ubu an, Finzi mit "rollenden Augen und pikierten Seufzern" manchmal Mutter Ubu. Das Männerpaar "schlendere und schlenkere" vor sich hin, "ein so eingespieltes wie abgenutztes Team, das allgemeinen und gegenseitigen Überdruss zelebriert." Am Ende Krieg, "die Luftballons geraten mächtig in Aufruhr." Spätestens hier frage man sich, was ohne sie von der Inszenierung noch übrig wäre. Fazit: "Nach schmerzfreien eineinhalb Stunden ist der Abend vorbei. Jeder Kindergeburtstag wäre gefährlicher gewesen. Weit und breit kein 'König Ubu' in Sicht. Schoiße."

"Der Regisseur Dimiter Gotscheff tut in jedem Fall das Bestmögliche", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (24.5.), und lege das Stück seinem Schauspieler-Traumpaar Finzi und Koch zu Füßen. "Die Fähigkeit, ziemlich komplexe Sachverhalte mit szenischer Fantasie mal eben in zwei, drei zielsicheren Bewegungen, Gesten, Posen zusammenschnurren zu lassen...beherrschen Gotscheff, Finzi und Koch zum Niederknien!" Dennoch sei nicht übersehen, dass textliche Schwergewichte wie "Die Perser" oder "Iwanow" das Trio zu gewaltigeren Höhenflügen inspiriert hätten. Die "bedeutungsschweren Müller-Zitate um Macht- und Mordmechanik", die Gotscheff einflicht, "hieven den Schwank nicht in gehaltvollere Regionen." Dennoch, so Wahl, "aus weiter Flur mal wieder ein Grund", die Volksbühne zu besuchen.

"Gotscheff habe es geschafft, das Brauchbare des Stücks herauszuarbeiten", findet Jörg Sundermeier in der taz (24.5.), "er lässt sein Ensemble mit den Ballons und ihrem Können spielen." Die ans "Kindliche appellierende Schönheit der Ballons" und die "brachiale Rohheit des Ubu-Königspaars beglücken zunächst." Doch die Groteske wirke, "nach und nach wird das Lachen immer weniger erleichternd." Die Frage nach der Aktualität von Jarrys Groteske sei zwar eine Frage, die nur im Theatersaal wirkt und schon an der Garderobe vergessen sei. "Doch die Überprüfung eines klassischen Textes der Moderne ist wichtig. Und Gotscheff beschert seinem Publikum in wenigen Minuten alles, was das moderne Theater ausgemacht hat."

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