Im Pathosmodus

von Georg Kasch

Berlin, 7. Mai 2017. Der erste Applaus brandet nach wenigen Minuten auf: Da flackert über die Bildschirme "Macron 65 Prozent". Gerade noch mal gutgegangen! Dass sich zu den fieseren Trump-Zitaten, die während des Abends eingespeist werden, auch eine Gratulation an Macron findet, gehört zu den vielen Bezügen in "Die Borderline Prozession" (hier die Nachtkritik vom 15. April 2016), für die der Zufall und Dramaturg Alexander Kerlin sorgen, der die Texte live einspeist.

Aber was genau ist da eigentlich passiert in den riesigen Rathenau-Hallen im tiefen Südosten Berlins? In all den hyperrealistischen Puppenstubenräumen, ein Bühnenbildner-Traum? Der erste Akt ist eine Schule des Sehens, weil zwischen den Heerscharen an Schauspielern sich Blicke, Gesten und Gänge wiederholen, dabei variieren. Der zweite wirkt überwürzt in seinem Auspinseln von Gewalt und Leid, der dritte orgelt im Pathosmodus ein orgiastisches Finale hin (mit dem Schlusssatz aus Mahlers Auferstehungssinfonie). Und ewig kreist die Kamera – dass eine derart aufwändige Inszenierung ("die komplexeste, seit ich beim Theatertreffen bin", sagt Yvonne Büdenhölzer) in solcher Perfektion in Berlin ankommt, ist wirklich bemerkenswert.

Borderline2 560 Birgit Hupfeld uLolitas in Endlosschleife: Detail aus der Bilderflut der "Borderline Prozession" © Birgit Hupfeld

In ihrer realistischen Detailverliebtheit erinnert sie an die Basler Drei Schwestern, im Chor der Lolitas an Pfusch und in ihren Masken an Vegard Vinges John Gabriel Borkman. Einmal huscht ein Goethe-Zitat vorüber, dass, wenn man das Wirken seiner Vorgänger abzöge, von seinem Genie nicht mehr viel bliebe. So ähnlich verhält es sich auch mit Kay Voges' Abend. Ist trotzdem genial, weil viel mehr als die Summe seiner unzähligen Teile und ein großartiger Gedankendurchlauferhitzer. Auch wenn nichts erklärt wird, vieles rätselhaft bleibt, geht man klüger raus, als man reingekommen ist – und glücklicher. Hätte eigentlich nur ein paar Stunden länger dauern können.

Glücklich waren auch die Dortmunder. Selten haben sich Theatertreffen-Eingeladene so schön gefreut: mit Welle und "Oh, wie ist das schön"-Gesängen. Auch wenn die einzelnen Schauspieler hier nicht so viel Raum zum Glänzen bekommen, war es trotzdem eine große Team-Leistung. Womit das Thema des diesjährigen Theatertreffens gesetzt wäre: das Lob des Ensembles.

 

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