Die große Ermutigung

von Julika Bickel

Bautzen im Mai 2017. Mit bunter Kreide malen die Kinder Herzen, Engelsflügel und Blumen auf die grauen Steinplatten des Kornmarkts. Die sächsische Stadt Bautzen besitzt eine wunderschöne Altstadt mit Türmchen aus dem Mittelalter. Nur der Kornmarkt, am Rand der Innenstadt, liegt meist trist und leer. "Platte", nennen ihn die Bautzener. Im Sommer letzten Jahres wurde der Kornmarkt deutschlandweit zu einem Symbol von Gewalt und Hass zwischen Neonazis und Geflüchteten. Mehrere Straßenschlachten und Hetzjagden gab es dort seit September letzten Jahres.

Eine Antwort auf Ausschreitungen

Die Kinder, die die Platte bunt bemalen, sind Teilnehmende am viertägigen Theaterfestival "Willkommen Anderswo III – sich spielend begegnen". Das Deutsch-Sorbische Volkstheater, das einzige professionelle bikulturelle Theater Deutschlands, hatte acht Projekte mit geflüchteten und einheimischen Jugendlichen aus ganz Deutschland für ein langes Wochenende eingeladen. Insgesamt 180 Theaterschaffende, darunter 130 Kinder und Jugendliche. Sämtliche Stücke entstanden an etablierten Theater, darunter renommierte Häuser wie das Maxim Gorki Theater oder die Münchner Kammerspielen. Ein Festival wie dieses, hat es in Deutschland noch nie gegeben.

anderswo2 560 Julika Bickel uStadtbild Bautzen: Die Künstlerinnen ruhen vor der Kunst © Julika Bickel Beim Sächsischen Theatertreffen in Bautzen im letzten Jahr hieß das Rahmenprogramm "Willkommen anderswo I und II". Es ging um Flucht, Asyl und Integration. Theatermacher*innen stellten mit Hilfe von Videos und Textausschnitten ihre Produktionen vor. Nach den Ausschreitungen im September 2016 entstand die Idee, das Konzept auf ganz Deutschland auszuweiten und ein eigenes Theaterfestival zu organisieren. Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, unterstützte das Vorhaben, der Antrag auf Fördermittel wurde innerhalb von nur acht Wochen bewilligt.

"Bautzen, eine Stadt, eine Gang!"

Das Theaterstück "Romeo und Julia auf Platte" der 30 Bautzener Jugendlichen zwischen elf und achtzehn Jahren aus dem Jugendclub, dem sorbischen Jugendtheater und aus der Offenen Jugendarbeit des Steinhaus e.V. beschäftigt sich mit dem Kampf um die Vorherrschaft auf dem Kornmarkt. In Shakespeares Tragödie aus dem Jahr 1597 gehen die zwei Familien Capulet und Montague aufeinander los. 2016 in Bautzen waren es Neonazis und Geflüchtete.

anders3WoRomeo082pxI David Baltzer h"Romeo und Julia auf der Platte"  © David Baltzer

In einer Szene stehen sich die zwei Gruppen gegenüber. Sie heben die Fäuste und zeigen sich den Mittelfinger. Die eine Seite ruft zur anderen: "Bautzen, meine Stadt! / Was, Konkurrenz? / Capulet, Family, die ganze Stadt brennt. / Bautzen, eine Stadt, eine Gang!" Worauf die andere zurückrappt: "Montague, Family, wie man uns kennt! / Bautzen, unsere Stadt!" Mit immer waghalsigeren Sprüngen und Drehungen versuchen sie sich gegenseitig zu überbieten. Aus dem Rap- und Dance-Battle entwickelt sich ein brutaler Kampf. Zwei der Jungen treten und schlagen sich, bis einer reglos auf dem Boden liegen bleibt.

Der rechte Stumpfsinn

Michelle Bray, die 30-jährige Leiterin des Bautzner Theaterprojekts, war bei einer Demo gegen Rechts Anfang September auf dem Kornmarkt dabei. Zunächst ging es friedlich zu, alle tanzten, doch dann sei die Lage eskaliert. Plötzlich prügelten viele Menschen aufeinander ein. Die etwa dreißig Linken und Geflüchteten fanden sich von den Neonazis eingekesselt, Polizei musste sie vom Platz eskortieren. "Das Bedrohlichste, was ich je erlebt habe", sagt Bray. Für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen, die am Projekt teilnehmen, gehören Anfeindungen zum Alltag. Sie werden beleidigt, beschimpft und bedroht. Viele von ihnen sagen, es sei okay, Bray erzählt von Morddrohungen.

 Demonstration der Festivalteilnehmer durch die Bautzener Altstadt © Julika Bickel

Lutz Hillmann, der Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters, will mit dem Festival dem Hass und den negativen Schlagzeilen ein Zeichen entgegensetzen. "Wir müssen das Problem anerkennen, müssen es ansprechen, aber auch zeigen, dass es kein reines braunes Bautzen gibt, sondern die Stadt sehr vielfältig ist." Seine größte Angst ist, "dass ein paar Idioten das Festival vermiesen".

Zeichen setzen

So beginnt das Festival am Donnerstagnachmittag mit einer ausgelassenen Demo durch die Stadt. Eine Band führt mit Trompeten und Trommeln an, alle tanzen und feiern auf der Straße. Fahrzeuge der Polizei begleiten die Demo vom Großen Haus des Theaters, über den Kornmarkt zum Burgtheater, der zweiten Spielstätte. Die wenigen Bautzner Bürger*innen, die zu dieser Zeit unterwegs sind, schauen neugierig zu oder filmen mit ihren Smartphones. Nur einer steht am Fenster und zeigt die "Scheibenwischer"-Geste.

Michelle Bray glaubt fest daran, dass die Mehrheit der Stadt die Menschenfeindlichkeit der Neonazis ablehnt. Sie erzählt von den Demonstrationen am 1. Mai. Zum ersten Mal sei die Demo gegen Rechts größer gewesen. Auch viele ältere Menschen sind auf die Straße gegangen. Das hatte sie sich schon lange gewünscht. Und auch das Theaterfestival mache sie unglaublich glücklich, "wie alles gefeiert wird und die Gruppen sich gegenseitig supporten".

Der helle Wahnsinn

Die Energie, Lebendigkeit und gegenseitige Unterstützung beim Festival ist beeindruckend. Die Kinder und Jugendlichen besuchen gegenseitig ihre Produktionen, beklatschen und loben sich in den Nachgesprächen. In Workshops am Samstag fechten sie, improvisieren und spielen Pantomime. "Es gibt nichts Sozialisierenderes als Theater", sagt Lutz Hillmann. Theater versteht er als ein Mittel, um Situationen in einem ungefährlichen Raum durchzuspielen, was schief läuft und wie es in der Realität funktionieren könnte. Daher auch der Untertitel: sich spielend begegnen. Im Spiel können die jungen Laiendarsteller*innen aus verschiedenen Kulturen sich selbst und den anderen kennen lernen, sich ausprobieren und austauschen. Hillmann ist davon überzeugt, dass es kaum einen besseren Weg gibt, um Integration zu erzeugen. "Theater ist die Hochzeit der Künste! Der helle Wahnsinn! Wenn man das nicht macht, ist man total bekloppt!"

anders3WoGorki423ApxI David Baltzer h"Du kannst nicht mehr warten"  © David Baltzer

Die Produktionen waren besonders dann gut, wenn die Kinder und Jugendlichen viel Freiheit bekamen, das Stück selbst zu gestalten und ihre persönlichen Geschichten erzählten. Ein Höhepunkt war das Stück "Du kannst nicht mehr warten?" der Aktionist*innen vom Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Ihre intimen Erzählungen von Selbstzweifeln und der Suche nach Liebe und Anerkennung waren zutiefst ehrlich und berührend. Eine erzählt, dass sie seit Monaten so traurig sei, so dass sie nicht mal weinen könne. "Alles, was bleibt, ist die Leere." Andere Szenen sind tragisch und urkomisch zugleich, zum Beispiel als eine Darstellerin erzählt, wie sie ständig ins Krankenhaus muss: Sie tritt auf einen giftigen Fisch in Barcelona. Oder steigt aus dem Bus und bricht sich beide Beine. Die jungen Erwachsenen spielten auf so hohem Niveau, dass es schwer ist, das Stück mit den anderen Laientheaterstücken zu vergleichen. Das Stück endete in einer riesigen Party. Zum Song "Black or White" von Michael Jackson kommen die Zuschauenden auf die Bühne und tanzen mit. Seit dieser Aufführung wurde es zu einer Art Tradition, dass das Publikum im Anschluss der Inszenierung gemeinsam mit den Darsteller*innen auf der Bühne feierte.

Löwe auf Weltreise und Mädchen beim Fußball

Die Gruppe "New Hamburg" vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg hat den Untertitel des Festivals "sich spielend begegnen" wörtlich genommen. In ihrem "Ich, rum um die Welt!" gehen fünf Freundinnen zelten und erzählen sich eine Fantasiegeschichte über einen Löwen, der von einer Weltreise zurückkommt und nun in seinem Tierreich Vorurteile abbauen will. Zusammen überlegen sie sich, was sie sich wünschen: "Fußball für Mädchen! Alle sollen gleichberechtigt sein!" Das Format erlaubt Improvisationen, und gerade das Nicht-Perfekte bringt das Stück zum Glänzen und bietet viele Ebenen der Interpretation. Lustig die Kommentare und Korrekturen der Leiterin Paulina Neukampf, die nachfragt, wenn sie etwas nicht verstanden hat, was als fester Bestandteil zur Inszenierung gehört.

anders3WoWunder037pxI David Baltzer h"Zeit für Wunder"  © David Baltzer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weniger gut funktioniert Laientheater, wenn Stück und Figuren bereits feststehen und die Darsteller*innen kaum Mitspracherechte haben. Der syrische Regisseur Ali Ismail hat das wunderbare Stück "Bahnhof West Side" geschrieben. Die Sprechrollen wirken jedoch, als hätte man sie den Laiendarsteller*innen übergestülpt.

Ohne Feen geht es nicht

Wie Verständnis füreinander entstehen kann, zeigen auf besonders rührende Weise die Grundschüler*innen aus dem sächsischen Plauen. In "Zeit für Wunder" erzählen sie von ihren Zweifeln, Ängsten und dem Streit auf dem Schulhof. "So viele neue Gesichter und neue Sprachen", wundert sich ein Kind, das von den anderen auf Arabisch angesprochen wird. "Häh? Was willst du?" Die Sieben- bis Zwölfjährigen schubsen, treten und boxen sich. "Deutsche Kinder spielen nicht mit arabischen Kindern!", schreien sie. Dann taucht eine Fee auf und schenkt ihnen Zeit mit den anderen. Bald merken sie, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als sie dachten. Auf der Bühne führen sie auf, was sie in ihrer Projektwoche im Januar 2017 erlebt haben: Akrobatische Figutren, den Inhalt ihrer Brotbüchsen, neue Wörter, die sie gelernt haben, dazu singen sie Lieder von Rolf Zuckowski. "Wo ist eigentlich das Wunder?", rufen sie. "Na wir sind das Wunder!"

Das gesamte Stück ist unglaublich kitschig und funktioniert doch. Man spürt förmlich, dass die Kinder sich tatsächlich angefreundet haben und wie viel Freude ihnen ihre Bühnenauftritte bereiten. Entstanden ist das Ganze aus Interviews und Improvisationen. Weil es die eigenen Worte und Geschichten sind, wirkt der Auftritt so authentisch. Auch Hillman ist sichtlich gerührt. Beim Musikvideo zu Zuckowski, wo zu der Zeile "eine Zeit bricht an" tatsächlich eine tickende Uhr zu sehen ist, habe sich alles in ihm gesträubt. Das kann man nicht machen, habe er sich gedacht und trotzdem bei der Aufführung geweint.

anders3woTanzen0001pxI 560 David Baltzer hDie "Neue Bautzener Tradition": das Publikum tanzt mit den Darstellern nach der Vorstellung auf der Bühne
© David Baltzer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es müssen mehr Theaterprojekte an Schulen stattfinden, in denen Kinder mit und ohne Fluchterfahrung zusammen spielen. Das ist eine Forderung, die immer wieder und von vielen verschiedenen Teilnehmer*innen des Festivals gestellt wurde. Alle sind sich einig: Je früher Vorurteile überwunden werden, desto besser. In den Theaterprojekten lernen die geflüchteten Kinder außerdem schneller Deutsch. Bei "Zeit für Wunder" wurde eine DaZ-Klasse in das Projekt integriert, also Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erlernen. Ihre Lehrerin fordert mehr Geld für Grundschulen, um mehr solcher Projekte verwirklichen zu können. Hillmann geht noch einen Schritt weiter und fordert, Darstellende Künste als verbindliches Schulfach einzuführen.

Forderungen

Strukturelle Veränderungen fordern die Studierenden der Theaterwissenschaften aus Leipzig, die das Festival mitgestaltet haben. An den Stadttheatern arbeiteten zu wenig Menschen mit Migrationshintergrund. "Wenn ein Teil der Gesellschaft ausgeschlossen wird, kommen bestimmte Themen nicht vor." Ähnlich einer Frauenquote fordern die Studentinnen daher eine Quote für Menschen mit Migrationshintergrund.

Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin, ist beeindruckt von dieser Quotenforderung. "Die sind ja radikaler als ich!", staunt sie. Sie hält es allerdings für eine Utopie, die totale Gleichberechtigung bald zu erreichen.

Bei der abschließenden Podiumsdiskussion unterbrechen die Aktionist*innen aus Berlin die Veranstaltung. Sie erzählen, wie sie am Vorabend von Neonazis auf dem Kornmarkt beschimpft wurden und wie sie in der Nähe des Theaters Graffitis wie "Nazi Kiez" und "Ausländer raus" entdeckt hätten. Der Rassismus sei beim Festival nicht genügend thematisiert worden. Außerdem säßen bei der Podiumsdiskussion nur weiße Menschen.

So berechtigt diese Kritik sein mag, die Art und Weise, in der sie vorgetragen wurde, war weder konstruktiv noch besonders fair gegenüber dem Theater und den vielen Bautzner Bürger*innen, die sich aktiv gegen Diskriminierung einsetzen. Michelle Bray versteht die Ungeduld, aber in Berlin seien sie einfach an einem anderen Punkt als in Bautzen.

Sie macht sich Sorgen, wie es mit dem Theaterprojekt weitergeht. Manche Jugendlichen droht, abgeschoben zu werden. Die Verabschiedung der Gruppen aus den anderen Städten ist sehr emotional. Nicht nur die Kinder, sondern auch manche Erwachsene fangen an zu weinen. Einer der Bautzner Jugendlichen sagt: "Morgen wird wieder alles normal sein." - "Aber es waren Momente, die du nie vergessen wirst", antwortet Bray.

 

JulikaBickelJulika Bickel, geboren 1989 in Freiburg im Breisgau, studierte Philosophie, Englisch und Kulturjournalismus in Berlin, arbeitet seit 2016 als Regieassistentin bei der Theatergruppe lunatiks und als freie Journalistin in Berlin.


 

Offenlegung: Das Theater Bautzen ist für die Unterkunft der nachtkritik-Autorin in Bautzen aufgekommen.

 

 

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