An To-Do-Listen denken

von Eva Biringer

9. Mai 2017. "Ich dachte, wir gehen ins Theater", raunt die Begleitung, als nach fünfzehn Minuten das Saallicht noch immer nicht erloschen ist. Selbst für das allen möglichen Erscheinungsformen sehr aufgeschlossene Theatertreffen ist dieser Abend etwas Besonderes. Wegen Erkrankung des Hauptdarstellers Jens Harzer kann der "Schimmelreiter" nicht gezeigt werden. In den Worten des Thalia-Intendanten Joachim Lux: "Ein Theater ist keine Autofabrik." Stattdessen reisen fünf der sieben Ensemblemitglieder für eine szenische Lesung an.

Unkonventionelles Sitzen

Es ist aber auch verflixt, dieses 53. Theatertreffenjahr! Von den zehn Inszenierungen können nur acht in ihrer Originalfassung gezeigt werden. Bei den Münchner "Räubern" scheiterte es am Bühnenbild, beim "Schimmelreiter" am Hauptdarsteller und im Prinzip muss man die "Borderline Prozession" aufgrund deren Minikartenkontingent auch noch dazu zählen. Anders heute: Den vielen freien Sitzen im Berliner Festspielhaus nach zu urteilen, nutzten viele Käufer das Angebot, ihre "Schimmelreiter"-Tickets zurückzugeben. Die Anwesenden hingegen nutzen die legere Atmosphäre für unkonventionelle Sitzpositionen (Kopf auf der Sessellehne, Schulter auf dem Kopf des Nebensitzers, Theaterschlaf). Vorsichtige Vermutung: Viele hören eher zu als dass sie hinschauen.

Keine Auskünfte zur Ermittlung

Vier Mal fällt der Satz "Das Jahr, von dem ich erzähle, ist das Jahr 1756, das in unserer Gegend nie vergessen wird", das sind drei Mal weniger als auf der Thalia-Bühne, aber noch immer drei zu viel. Susanne Meisters spröde Fassung von Theodor Storms Novelle machte schon die Originalinszenierung zu einer Herausforderung oder, nach Meinung der Presse, Qual (Nochmal zur Erinnerung: Prämiert werden beim Theatertreffen nicht die besten, sondern die "bemerkenswertesten" Inszenierungen eines Jahres). Als Lesung versickert jeder Spannungsrest wie ein Meeresrinnsal bei Ebbe. Dass die mit Microports ausgestatteten Darsteller die Rollen wechseln, kommt erschwerend hinzu. Viel interessanter, ihnen zuzuschauen, wie unterschiedlich sie mit der Situation umgehen. Mancher wirft seine abgelesenen Seiten hinter sich wie ein Russe sein leeres Wodkaglas. Andere stapeln bürokratisch. Wie ein Beamter, genauer ein Kriminalhauptkommissar bei einer Pressekonferenz, der leider keine genauen Auskünfte zu den laufenden Ermittlungen geben kann, wirkt Rafael Stachowiak, wenn er das Gesicht in den Händen vergräbt oder sich fahrig durch die Haare streicht. Kristof van Boven schaut gelegentlich in die Runde. Auch spannend: Sebastian Rudolphs Denkerpose. Wer nicht spricht, fällt sofort aus der Rolle, dämmert oder geht vielleicht die To-Do-Liste für den nächsten Tag durch. Am engagiertesten liest Birte Schnöink, am meisten Autorität verströmt Barbara Nüsse, die aufsteht, wenn sie vom "Gerippe eines Pferdes" spricht.

Schimmelreiter tt 2017 560 piero chiussiKristof Van Boven, Rafael Stachowiak, Igor Levit, Barbara Nüsse, Birte Schnöink, Sebastian Rudolph
© Piero Chiussi

Anders als im Thalia Theater befindet kein solches auf der Bühne, stattdessen Plüschhunde und ein Kleiderständer, mutmaßlich mit Teresa Verghos Kostümen behangen. Und ein Flügel. An diesem sitzt der Pianist Igor Levit fünfzig Minuten lang in Warteposition, bevor er zu spielen beginnt. Ursprünglich klingt am Ende der dreistündigen Inszenierung Jimi Hendrix’ Voodoo Child. Ob Beethovens Klaviersonate Nr. 32 in c-moll Fontanes Text die auf dem Programmheft angekündigte "außergewöhnliche Note hinzufügt", kann die Autorin als Musiklaie nicht beurteilen. Schön ist es allemal, eine knappe halbe Stunde genau wie das Ensemble mit geschlossenen Augen im Theatersaal zu sitzen. Am Ende gibt es, anders als bei der Premiere, wohlwollenden Applaus. Auch die Begleitung ist beeindruckt: "Und der Pianist hat die Noten nicht mal vom Blatt abgelesen!" Das ist dann doch wieder ein wenig wie im Theater.

 

Der Schimmelreiter
von Theodor Storm
Bühnenfassung von Susanne Meister
Regie: Johan Simons, Bühne: Bettina Pommer, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Warre Simons, Dramaturgie: Susanne Meister
Szenische Lesung mit:
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 
Hier geht's zur Nachtkritik zu Der Schimmelreiter im Thalia Theater Hamburg im November 2016.

Alles zum Berliner Theatertreffen 2017 gibt's im Liveblog.

 

Kommentare  
"Schimmelreiter"-Lesung: Schnapsidee
Und was an dieser Lesung "szenisch" - abgesehen, dass die Schauspieler mit Micrroports versehen waren und die "Rollen" gewechselt haben? War Simons überhaupt anwesend? Was für eine Schnapsidee, eine ohnehin total dröge und ermüdende Inszenierung auch noch als sogenannte "szenische Lesung" zum Theatertreffen einzuladen. Das ist ja noch weniger nachvollziehbar als die Einladung selbst.
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