Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2) - Ein Wimmelbild von Rimini Protokoll am Düsseldorfer Schauspielhaus
Anders als die Ameisen
von Martin Krumbholz
Düsseldorf, 12. Mai 2017. Die Ameisen, sagt Reiner Pospischil, der Experte für Schädlingsbekämpfung, machen es besser. Allerdings haben sie ja auch einen gewaltigen Vorsprung, sie bauen seit 80 Millionen Jahren, während der Mensch als blutjunges Wesen erst seit einigen Tausend Jahren in die Höhe und in die Tiefe baut. Aber auch die Ameisen bauen, wie der Mensch, bis zum Hundert- und Zweihundertfachen ihrer Körpergröße. Ihr großer Vorteil liegt darin, dass sie nicht diskutieren. Reiner Pospischil zeigt auf den Container im Zentrum der großen Bühne des Central, in dem Menschen um einen Tisch herumsitzen und irgendetwas verhandeln. Da geht nichts voran. Die Ameisen machen es anders, sie folgen einfach ihrer Königin, von der sie ja alle abstammen. Die Arbeiterinnen sind übrigens alle weiblich, die Männchen dienen nur der Fortpflanzung. Und sie verwenden beim Bauen ausschließlich biologisches Material, Speichel zum Beispiel. Die Ameisen sind richtig schlau.
Eine Großbaustelle und ihre Kleinbaustellen
Längst hat sich die Inszenierung von Rimini Protokoll selbst schon zu einer funktionierenden Großbaustelle entwickelt: Zu acht Kleinbaustellen insgesamt wird das Publikum in Gruppen geführt, an jeder von ihnen lauscht man über Kopfhörer einem "Experten des Alltags", während in Reichweite andere Teilnehmer einem anderen Experten zuhören. Es ist eine logistische Meisterleistung, wie hier eins mit dem anderen verzahnt ist, wie der Mann auf dem Kran im richtigen Moment Geldscheine in den Container wirft, wo die Leute immer noch um den Tisch sitzen, einer Finanzberaterin lauschen und sich angesichts der heiklen Zinssituation nicht entscheiden können, ob sie lieber in Abu Dhabi oder am Stadtrand von London investieren. Der Mann auf dem Kran deckt inzwischen Korruptionsfälle in der näheren Umgebung (Nordrhein-Westfalen) auf, er gehört der Gruppe "Transparency International" an. Die Beraterin im Container sagt: "Glauben Sie ihm nicht! Verschwörungstheorien!"
Am liebsten würde man auf einer Drohne über diesem Wimmelbild kreisen und mal hier, mal dort zusehen und zuhören. Aus der Vogelperspektive eben. Faktisch ähnelt der Mensch in diesem Fall aber doch eher der Ameise, er folgt einem festgelegten Parcours. Und er versucht dabei zu lernen, was ihm trotz angeblicher Intelligenz schwerer fällt als der Ameise, denn das "Gesellschaftsmodell Großbaustelle" fügt sich nicht zu einem organischen Ganzen. Es steckt voller Widersprüche. Irgendwann werden die meisten Projekte beendet, nur viel langsamer und viel teurer als gedacht. Das ist bekannt. Aber woran liegt es? Die branchenübliche Korruption ist dabei nur ein Haken. Sie soll, sagt der Mann von "Transparency International", ein Prozent der Auftragssumme ausmachen. Aufgedeckt wird sie in der Regel nicht. Sie ist ein lohnendes Geschäft.
Korruption und Sündenbock
Der Mensch als solcher neigt aber auch dazu, bei Fehlentwicklungen Sündenböcke zu suchen. Alfredo di Mauro, der am Berliner Großflughafen für die Entrauchungsanlage zuständig war, bis er gefeuert wurde, sieht sich als ein solcher. Das Wort "Entrauchungskanal" hat er vermutlich schon so oft in den Mund nehmen müssen, dass man es kaum noch versteht, es ist wie früher bei Honecker und der "Deutschen Demokratischen Republik". Da kommt nur noch ein Genuschel heraus. Die Entrauchung wurde zum Skandal und zum Alptraum in di Mauros Leben. Er ist seitdem arbeitslos. Dabei wurde die Entrauchung, sagt er, nie getestet. Sie hätte funktioniert. Man hat nur einen Schuldigen gesucht. Der Zuschauer möchte ihm glauben, wenn er im Video in die (Pardon) dümmlichen Gesichter der Politiker und Vorstände bei der Pressekonferenz sieht.
Stefan Kaegi und sein Team haben für diese Koproduktion mit dem HKW Berlin, den Münchner Kammerspielen, dem Staatsschauspiel Dresden und dem Zürcher Schauspielhaus als zweiten Teil ihrer "Staat"-Serie (Teil 1 kam im September 2016 in München heraus) einen packenden, informativen, im besten Sinn aufklärerischen Abend zustande gebracht. Zum Schluss ist absolut verständlich, warum ein Anwalt für Baurecht die Auseinandersetzungen zwischen Unternehmern und öffentlicher Hand sinnfällig in ein Kampfsport-Ritual übersetzt, an dem die "Zuschauer" sich symbolisch beteiligen dürfen/sollen. Bevor es in den Kampf geht, legt man dabei kurz die Hände aneinander und betet, dass man den Gegner nicht verletzen muss.
Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)
von Rimini Protokoll
Konzept, Regie, Text: Stefan Kaegi, Szenografie: Dominic Huber, Video: Mikko Gaestel, Musik: Fabian Schulz, Licht: Konstantin Sonneson, Dramaturgie: Robert Koall, Third Eye, Dramaturgie Staat 1 – 4: Imanuel Schipper, Recherche: Wilma Renfordt, Projektkoordination: Jessica Páez.
Mit: Sonja-Verena Breidenbach, Dieter Läpple, Fang-Yun Lo, Alfredo di Mauro, Jürgen Mintgens, Marius Ciprian Popescu, Andreas Riegel, Reiner Pospischil.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.dhaus.de
"Die Bühne im Central, dem Probenzentrum des Schauspielhauses, ist Container, Sandberg, Minikran und Arbeitsmaterialien gewichen. Die Zuschauer tragen Helme mit eingebauten Kopfhörern und werden über die Baustelle geführt, wo sie unterschiedlichen Menschen begegnen", schreibt Sema Kouschkerian in der Westdeutschen Zeitung (15.5.2017). "Auf beklemmende Weise werden die obszönen Mechanismen der Baubranche offengelegt: die Eitelkeiten und Vergehen der Architekten, die Macht der Investoren, die Regelbrüche der öffentlichen Hand." Am Ende stehe der Zuschauer vor der Frage: Wie wäre es, wenn ihr selbst eingreift und eure Städte plant? Eine ungeheuer dynamische Inszenierung gehe nach zwei Stunden zu Ende, aufklärerisch und fordernd. Ironisch, manchmal lustig. "Ein Kunstwerk, das sich aus der Realität speist und auf sie zurückverweist. Ein großer Theaterabend, den das Publikum zu Recht bejubelt."
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Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/03/05/eine-frage-der-perspektive/