Die Requisiteure des Wohlstands

von Christoph Fellmann

Basel, 12. Mai 2017. "Ihr seid hässlich", sagt der Schauspieler in die Ränge hinein, "wir alle sind hässlich." Und die herausgeputzte Dame in der zweiten Reihe klatscht begeistert in die Hände: "Kaum zu ertragen, so wahr ist es!" Diese avantgardistische Theaterszene aus "Asterix und der Kupferkessel" führt direkt hinein ins Dilemma, das auch an diesem Abend am Theater Basel gespielt wird, anlässlich der Uraufführung von "Schlaraffenland", einem, so die Ankündigung, "autobiografischen Stück" von Philipp Löhle.

Es zeigt eine ganz normale westliche Wohlstandsfamilie, die sich eines Tages ihrer Verstrickung in den globalen Kapitalismus stellen muss. Ihre Schuld, die sie mit jedem Einkauf einer Erdbeere oder eines T-Shirts auf sich lädt, sie wird an diesem Abend negiert und weggelacht, aber auch als Verzweiflung herausgeschrien. Es gibt keine Rettung vor der Hässlichkeit, und es ändert sich nichts. Das Theater inszeniert die Schreie, und der Kapitalismus frisst den Protest. Wir alle bleiben schuldig, das ist wahr.

Speckig glänzende Wohlstandslarven

Aber sind wir auch begeistert? Das Problem ist ja, wie der Blick in den "Asterix"-Band zeigt, nicht ganz neu. Und doch erleben wir es jetzt über mehr als zwei Stunden hinweg noch einmal; nämlich an der Hand eines jungen Mannes im Anzug (Mario Fuchs), der das Publikum begrüßt und aus seiner Kindheit und Jugend im wohlsituierten Einfamilienhäuschen erzählt. Es war ein Leben im titelgebenden Schlaraffenland, in dem es Liebe gab und gegen Geld auch alles andere: Essen, Skateboards, Ferien.

schlaraffenland3 560 Sandra Then uEine schrecklich nette Familie im schrecklich netten Einfamilienhäuschen
© Sandra Then

Dass der Erzähler den Bezug zu seiner Familiengeschichte verloren hat, das erkennen wir allerdings daran: Im drehbar hübschen Häuschen, das Dirk Thiele auf die Bühne gebaut hat, leben nur noch Karikaturen von Mutter, Vater, Onkel, Sohn und Schwester. Unter ihren speckig glänzenden Wohlstandslarven führen sie eine ausdruckslose Existenz, was sie kompensieren, indem sie comicartig über die Szene hampeln. Das ist bildstark gezeigt von Regisseurin Claudia Bauer, das nervt aber auch in dieser Eindeutigkeit, die natürlich genauso gewollt ist wie die Nervigkeit. Der Sprudelwein zur Pause ist wenig später sozusagen Teil der Inszenierung – kaum zu ertragen, wie das sprudelt.

Schmierenkomödie mit Bio-Rührei

Der zweite Akt zeigt dann dieselbe Familie, nachdem der Sohn (Vincent Glander) seine Epiphanie erlebt hat: Eines Nachts wurde die Mauer des Häuschens durchbrochen, und sichtbar wurden die Requisiteure der Wegwerfgesellschaft, also jene "schwarzen Männer", die Erdbeeren, T-Shirts und Handtelefone bereitstellen. Das Weltbild des Sohnes ist damit zerstört. Doch Philipp Löhle und Claudia Bauer sind natürlich clever genug, um auch diesen Erkenntnisdurchbruch als abgeschmacktes Zitat – auf die "Truman Show" – zu zeigen.

schlaraffenland2 560 Sandra Then uWenn das Weltbild des Sohns (Vincent Glander, vorne) in die Brüche geht © Sandra Then 

Dass danach die restlichen Familienmitglieder auf die politische Initiation des Sohnes und sein Bestehen auf Bio-Rührei mit einer derben Schmierenkomödie antworten, leuchtet da fast schon ein. Ausgerechnet in diesen klamottenhaften Szenen erreicht der Abend denn auch seine schmerzhaftesten und wahrsten Momente. "Was ist so schlimm daran, wenn es schön ist?", heißt es einmal, und der alte Hippieonkel kommentiert die Pamphlete seines Neffen wiederholt mit: "Ist das langweilig!" Stimmt schon. Das Skandalöseste am Skandal der Ausbeutung ist ja, dass er alt und sattsam bekannt ist. Und wenn das Stück bis hierhin langweilig war, so weiß man jetzt wenigstens warum.

Zum guten Schluss: Der richtige, heftige Scheiß

Der nicht langweilige Teil kommt da erst noch. Die Regie choreografiert im dritten Akt einfach, aber effektiv die Wut und Verzweiflung, die am Schluss eines solchen Textes wohl folgerichtig zurückbleiben müssen. Die Wut und die Verzweiflung nämlich darüber, dass man nicht viel tun kann – wie auch darüber, wie bequem es doch ist, nicht viel tun zu können. "Der Liberalismus fickt uns in den Arsch", schreibt Löhle in dieser letzten Szene und meint gerade die Protestler, deren Slogans und Songs auf dem Weltmarkt zuverlässig zu profitablen Produkten umgedeutet werden.

Diese letzten Minuten sind hart und dringlich. Man merkt, hier soll zum Schluss der richtige, heftige Scheiß verhandelt werden. Doch hat man nach den postdramatischen Kunstgriffen und Lustigkeiten der ersten zwei Akte eher Mühe, die Provokationen auch wirklich zu glauben. Sie sind zu kunstvoll arrangiert, zu sehr selbst ein Produkt geworden. So möchte man dem Schlusswort des Autors beipflichten: "Und auf einem Stuhl auf einer Theaterbühne saß ein junger Mann und glaubte, er könne ernst machen und wirklich etwas verändern." Im Publikum zuckten die Damen und Herren ebenfalls mit den Schultern, aber zuvor noch klatschten sie in die Hände.

 

Schlaraffenland
von Philipp Löhle
Uraufführung
Regie: Claudia Bauer, Bühne und Kostüme: Dirk Thiele, Musik: Peer Baierlein, Licht: Cornelius Hunziker, Dramaturgie: Sabrina Hofer.
Mit: Mario Fuchs, Vincent Glander, Leonie Merlin Young, Florian von Manteuffel, Nicola Kirsch, Pia Händler, Ingo Tomi.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Viel lautes Theater für den gut gemeinten Denkanstoss", beschreibt Verena Stössinger den Abend in der Basellandschaftlichen Zeitung (15.5.2017). Das Stück habe "trotz wohlfeiler Scherze" ein ehrliches Anliegen. "Auch wenn es zu absehbar umgesetzt wird." Claudia Bauer treibe es von Anfang an mit hampelnder Grand-Guignol-Derbheit in die Klamotte. "Die Familien-Darsteller tragen dümmliche Maskenköpfe, rudern mit den Armen und spielen auf Pointe."

Was im ersten Teil in einer Mischung aus Farce, Satire und Karikatur noch Esprit entwickele, stürze nach der Pause ziemlich ab, schreibt Michael Baas in der Badischen Zeitung (18.5.2017). Löhles Stück entwickele eine ebenso wütende wie holzschnittartige Kritik des westlichen Konsumismus und seiner pseudobewussten Protagonisten, die einen Hauch des Bürgerschreckgestus des 20. Jahrhunderts verströme. "Doch jenseits des Bürgerschreckgestus und einem so schrill wie skurril verpackten Thesentheater, das keinerlei neue Erkenntnisse vermittelt, kommt da diesmal wenig rüber."

Inhaltlich komme der erste Teil des Abends über die Zustandsbeschreibung der übersättigt-wohlstandsverwahrlosten Gemeinschaft nicht hinaus, sodass sich diese ersten rund 50 Minuten immer zäher werdend dahinzögen, so Dominique Spirgi in der Tageswoche (16.5.2017). Der zweite Teil gerät "leider erneut arg, ganz arg zerdehnt, auch wenn der Autor wiederum aufblitzen lässt, dass er eigentlich eine schöne Sprachfertigkeit an den Tag legen kann." Inhaltlich präsentiere sich das Ganze ausgesprochen uneindeutig. "Man fragt sich, was der Autor Löhle und die Regisseurin mehr in den Senkel stellen möchten: die übersättigte Wohlstandsgesellschaft oder das als hysterisch dargestellte Gutmenschentum? Oder gar beides?"

"Nicht gering die Selbstkasteiung, auf einen lauen Sommerabend zu verzichten. Keine Kleinigkeit, sich stattdessen eine Vorstellung zuzuführen, die ein larmoyantes, immerhin zum Teil selbstironisches Ohnmachtsbekenntnis eines Autors ist angesichts des grassierenden Neoliberalismus", ätzt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (17.5.2017) über einen "schrecklich banale(n) Abend".

 

 

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