"Wir müssen reden!"

von Tilman Strasser

Köln, 13. Mai 2017. "Ich hab mit Ja gestimmt. Ich steh auch dazu", sagt Ayfer Şentürk Demir. Das Publikum raunt und wie bestellt knistert ein Regenschauer übers Dach. Die Mittvierzigerin sitzt mit fünf anderen Akteuren am Tisch, es gibt türkischen Tee und klare Worte. Vor dem von Recep Tayyip Erdoğan angestrengten Verfassungsreferendum sei sie unentschlossen gewesen. In der Wahlkabine habe sie aber auf ihr Bauchgefühl gehört: "Erdoğan ist schlagfertig und stark." Und: "Ich glaub' nicht, dass in der Türkei gefoltert wird. Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaub' es nicht."

Dritter Teil der Trilogie

Die Umsitzenden bekunden teils Zustimmung – teils Fassungslosigkeit. Immerhin wurden zuvor Amnesty International-Statistiken der Verhaftungswellen präsentiert, sowie der dringende Verdacht, dass seit dem Putschversuch in türkischen Gefängnissen sehr wohl gefoltert wird. "Aber wer von uns darf Ayfer dafür verurteilen, was sie wählt? Das ist doch Demokratie!“, springt Kutlu Yurtseven bei. Und Ismet Büyük ergänzt: "Seit wir hier sitzen, sagt ihr, das System sei schuld. Da denke ich, Erdoğan hat recht. Wechseln wir das System."

Istanbul3 560 David Baltzer uCrashkurs Istanbul am Teetisch. Und vom verkleideten Video-Sultan. © David Baltzer

Demir, Yurtseven und Büyük, waren als Anwohner der türkisch geprägten Keupstraße bereits Teil der letzten Produktionen, die Nuran David Calis am Schauspiel Köln (eine Straße weiter) zeigte. Die Lücke thematisierte den Nagelbombenanschlag des NSU, Glaubenskämpfer den Dialog der monotheistischen Religionen – und "Istanbul"  war, laut Programmheft, "als eine Art dritter Teil dieser Trilogie geplant". In allen Stücken treten Laien mit Schauspielern auf. Alle nutzen theatrale Mittel sparsam und geben dem Gespräch viel Raum. Diesmal besonders viel Raum bei besonders minimalistischer Inszenierung. Doch wo die Vorgänger zwingend waren, tritt "Istanbul" auf der Stelle.

Klarheit am Teetisch

Vielleicht liegt das an den Umständen. Erdoğans Verhängung des Ausnahmezustands ließ den Regisseur das ursprüngliche Konzept verwerfen. Konsequenterweise atmet das Bühnenbild Werkstattflair: Rechts lehnen Baustellenabsperrungen, links ein Fahrrad, das niemand braucht, und in der Mitte steht ein Wandelement. Darauf und an dem Teetisch sitzen die Darsteller, filmen sich zuweilen mit Kameras, deren Bilder an die Wände geworfen werden (wobei ein erstaunlich ungünstig platzierter Stehscheinwerfer die Sicht einschränkt).

Von der titelgebenden Stadt ist nur ein Exkurs geblieben: Seán McDonagh gibt in Sultanverkleidung einen Crashkurs zur Gründung Istanbuls. Der wird erst anschlussfähig, als er in die herausgebellte Übersetzung einer Erdoğan-Rede mündet. Noch eindrücklicher, wie Ines Marie Westernströer zu Beginn des Abends Schriftstellerin Aslı Erdoğan rezitiert, die schonungslos von ihrer Haft berichtet.

Am erschütterndsten aber die Schilderungen von Doğan Akhanlı: Der Autor war politischer Häftling im Militärgefängnis, floh nach Köln und wurde, als er viele Jahre später seinen Vater besuchen wollte, erneut eingesperrt. Mit beklemmender Klarheit erzählt er von Folter und Erpressung, blickt über das projizierte Kamerabild ins Publikum, lediglich von subtil-düsteren Klängen begleitet – hier entfaltet die reduzierte Regie volle Wirkung.

Istanbul1 560 David Baltzer uHaftbericht von Doğan Akhanlı  © David Baltzer

Ratloses Schweigen

Im Mittelpunkt des Abends aber steht das Gespräch. "Wir müssen reden",  sagt Kutlu Yurtseven, "doch eigentlich versteh ich euch alle nicht." Vereinzelte Lacher im Zuschauerraum, denn zu diesem Zeitpunkt haben es alle Beteiligten schon redlich versucht. Wie bei den Vorgängerstücken greift Calis Diskussionen aus den Proben auf, als geglättetes Reenactement. Es geht um den Putschversuch und den Wandel zum autoritären Regime. Doch wenn Westernströer klagt, dass die Türkei Menschenrechte missachte, erwidert Yurtseven, dass die in Mitteleuropa auch schon verraten worden seien. Das mag stimmen, ist aber kein Gegenargument.

Man redet mal knapp, mal weniger knapp aneinander vorbei, und die Kritik am "Ja" zum Referendum wird abgebügelt: Das könne nicht verstehen, wer nicht zwischen Türkei und Deutschland aufgewachsen sei. Die Diskussion zerfasert in Monologe über Nationalstolz und Streitereien über Historie. Nicht verwunderlich, dass hier und da jemand den Raum verlässt: Natürlich lässt sich auch verhinderte Kommunikation darstellen, aber ohne Zuspitzung ist das nur begrenzt spannend. Spannender wären ohnehin Ideen gewesen, die an den festgefahrenen Positionen rütteln. So aber sitzen zum Schluss Demir, Büyük und Yurtseven im Wandelement, Westernstöer, Akhanlı und McDonagh am Tisch – und dazwischen herrscht ratloses Schweigen.

 

Istanbul
von Nuran David Calis
Inszenierung: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Amelie von Bülow, Musik: Vivan Bhatti, Video und Recherche: Karnik Gregorian, Licht: Jan Steinfatt, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Doğan Akhanlı, Ismet Büyük, Ayfer Şentürk Demir, Seán McDonagh, Ines Marie Westernströer, Kutlu Yurtseven.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schausspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

"Calis' inszenatorische Mittel bleiben bescheiden und sind kaum mehr als Vehikel, um überhaupt etwas szenisch zu bewegen", findet Andreas Wilink auf Spiegel online (15.5.2017). Auf die installative Situation mit Kamera, Leinwänden und projiziertem historischen Fotomaterial komme es eh nicht nicht an. denn "gegen das Authentische lässt sich formal-ästhetisch ohnehin schwerlich argumentieren". In Redebeiträgen, Berichten und Fallbeispielen werde anschaulich, "wie sich Haltungen und Überzeugungen aus massiven Brocken und winzigen Splittern von Biografie fixieren". Fazit: "Der Abgrund zwischen laizistischer Republik und religiös autoritärem Staat scheint unüberbrückbar. Was bleibt, ist betretene Ratlosigkeit."

"Türken, Deutschtürken und Deutsche, Erdogan-Anhänger, -sympathisanten und -gegner sitzen zwar gemeinsam an einem Tisch und trinken Tee, aber zwischen ihnen tun sich Gräben auf", schreibt Susanne Schramm in der Kölnischen Rundschau (15.5.2017). "'Also ich versteh' euch nicht - dass ihr diesen Staat nicht mal hinterfragt', ruft Westernströer aus. Und hadert gleichzeitig mit ihrer Rolle als Mahnerin: 'Ich bin die Scheissdeutsche, die euch wieder anklagt.'" "Euch", das seien Menschen wie Büyük, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt, aber die Türkei mit Waffengewalt verteidigen würde "oder Demir, die beim Referendum dafür gestimmt habe: 'Ich finde mich bei Erdogan wieder, weil ich wieder als gläubige Frau akzeptiert werde.'" Akhanli erzähle von der Folter, die er 1980 in Istanbul erlitt. "Einer Stadt, die für ihn nicht länger Heimat war, 'sondern eine der hässlichsten Städte der Welt.' In diesen Momenten ist die Uraufführung am stärksten."

"Es ist ein Abend der Argumente, der langen Monologe und des offensiven Weghörens," schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung  (30.5.2017). "Ein Abend, der quälend auf der Stelle tritt – und gerade darin paradoxerweise seine Qualität offenbart: Hier werden Differenzen ausgehalten statt aufeinander loszugehen, was ja deutlich medienwirksamer wäre." Am Ende blieben tiefe Gräben "und als Hoffnungsschimmer nur, dass diese sechs sturen Menschen den Dialog nicht aufgeben."

Akhanli von der Folter, die er 1980 in Istanbul erlitt. Einer Stadt, die für ihn nicht länger Heimat war, "sondern eine der hässlichsten Städte der Welt." In diesen Momenten ist die Uraufführung am stärksten. – Quelle: http://www.rundschau-online.de/26903854 ©201
"Also ich versteh' euch nicht - dass ihr diesen Staat nicht mal hinterfragt", ruft Westernströer aus. Und hadert gleichzeitig mit ihrer Rolle als Mahnerin: "Ich bin die Scheissdeutsche, die euch wieder anklagt." "Euch", das sind Menschen wie Büyük, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt, aber die Türkei mit Waffengewalt verteidigen würde oder Demir, die beim Referendum dafür gestimmt hat: "Ich finde mich bei Erdogan wieder, weil ich wieder als gläubige Frau akzeptiert werde." – Quelle: http://www.rundschau-online.de/26903854 ©201
"Also ich versteh' euch nicht - dass ihr diesen Staat nicht mal hinterfragt", ruft Westernströer aus. Und hadert gleichzeitig mit ihrer Rolle als Mahnerin: "Ich bin die Scheissdeutsche, die euch wieder anklagt." "Euch", das sind Menschen wie Büyük, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt, aber die Türkei mit Waffengewalt verteidigen würde oder Demir, die beim Referendum dafür gestimmt hat: "Ich finde mich bei Erdogan wieder, weil ich wieder als gläubige Frau akzeptiert werde." – Quelle: http://www.rundschau-online.de/26903854 ©201

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