Theatertreffen 2017 – Mit Five Easy Pieces von Milo Rau am "Als-Ob"-Prinzip des Theaters zweifeln
Vergesst die "Drei Schwestern"!
von Wolfgang Behrens
Berlin, 13. Mai 2017. Manchmal treffe ich noch eine*n von ihnen, von den alten Recken, mit denen ich die ganzen 90er Jahre hindurch und länger wartend in der Theatertreffen-Schlange verbracht habe, um Karten für Aufführungen mit Jutta Lampe, Gert Voss oder wem auch immer zu erwerben. Ich frage sie dann: "Und? Gehen Sie in diesem Jahr wieder zum Theatertreffen?" Und sie antworten, den umflorten Blick in die ferne Vergangenheit gerichtet: "Ach, warum denn? Da ist doch in diesem Jahr gar nichts dabei, keine richtigen Stücke, nur Installationen, Dokumentartheater, auch noch mit Kindern ... naja, für die 'Drei Schwestern' hab' ich mir eine Karte besorgt."
Die Lust, in Rollen zu schlüpfen
Was diese Recken vermissen, ist das gute alte Als-ob. Träfe ich morgen eine*n von ihnen, so würde ich allerdings sagen: "Sie haben etwas verpasst!" Denn in Milo Raus "Five Easy Pieces" erstrahlt es aufs Neue, das gute alte Als-ob. Und es wird darin eine Geschichte erzählt. Ja, zugegeben, eine ungeheuerliche, die des belgischen Kindermörders Marc Dutroux. Aber "Titus Andronicus" ist auch eine ungeheuerliche Geschichte. Doch noch ungeheuerlicher: In "Five Easy Pieces" wird Dutroux' Geschichte von Kindern dargestellt, neun bis 14 Jahre sind sie alt. Wenn sie das hörten, würden meine alten Recken vielleicht plötzlich einen Widerwillen gegen das Als-ob entwickeln: "Mit Kindern? Das geht zu weit. Wie sollen die denn mit so einem Stoff umgehen?"
Es ist freilich genau das, was den anderthalbstündigen Abend vom Campo Gent (koproduziert mit den Berliner Sophiensälen, an die er nun zurückgekehrt ist) so groß macht: Dass er uns zwingt, unsere Haltung zum Als-ob zu überdenken. Wir sehen Kinder, die mit Lust in Rollen schlüpfen wie die des Polizeipräsidenten. Ja klar, denkt man, es sind Kinder, sie wollen nur spielen. Wir sehen Kinder, die verzweifelte Eltern spielen, deren Kind entführt wurde. Wieso können die das? Aus welchem Gefühlsrepertoire schöpfen sie die Intensität, ja, die Wahrheit ihrer Darstellung? Eine Sequenz wird wiederholt, der 14-jährige Junge (Pepijn Loobuyck) soll zu einem Satz weinen und verwendet dazu einen Tränenstift. Und das Eigenartige passiert: Man weiß um die Künstlichkeit der Tränen und ist doch zutiefst erschüttert.
Wir sehen ein neunjähriges Mädchen (Rachel Dedain), das eines der Opfer Dutroux' im Kellerverlies spielt. Und nun beginnt man am Als-ob zu zweifeln: Ist das nicht zu nah? Beginnt der Missbrauch nicht dort, wo das Mädchen auf Geheiß des erwachsenen Performers Peter Seynaeve sein T-Shirt ausziehen soll? Die Kinder spielen aber auch Kinder, die auf einer Probe sind, auf der sie die Geschichte von Dutroux spielen. Und spielen, wie sie sich übers Schauspielen unterhalten. Und so hält Milo Rau zum Als-ob auch ständig die Reflexion über das Als-ob präsent. Und es gibt keinen Moment, bei dem das Gefühl überwöge, die Kinder seien dieser Reflexion nicht gewachsen.
Etwas spielen, wie es nicht ist
Kurz vor Schluss sagt Rachel auf die Frage, ob ihr das Schauspielen gefallen habe: "Ich hätte gerne einiges anders gemacht, aber weil alles wirklich so passiert ist, war das nicht möglich." Ein trauriger Satz. Einer, über den man nachdenkt. Auch, weil er so nicht stimmt: Man kann etwas natürlich so spielen, wie es nicht ist. Aber das ist ein anderes Spiel, spätestens dann wird das Als-ob porös.
Im Anschluss an die Vorstellung bekam Milo Rau den 3sat-Preis verliehen. Und meinen alten Recken rufe ich zu: "Völlig verdient! Vergesst die 'Drei Schwestern'. Für 'Five Easy Pieces' hättet ihr euch in die Schlange stellen sollen: ein Höhepunkt des Theatertreffens, auch über dieses Jahr hinaus!"
Hier geht's zur Nachtkritik der Uraufführung beim Kunstenfestival Des Arts in Brüssel im Mai 2016
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"An den von ihm (wenn auch nur latent) reproduzierten Mechanismen der strukturellen Gewalt mit den Mitteln des Theaters ändert dies leider nichts."
Aber es schafft ein Bewusstsein für diese Mechanismen hier und anderswo, wo es nicht ständig in unserem Blickwinkel steht. Was der einzelne Zuschauer dann damit anfängt, ist ganz allein sein Problem.