Sprechen, singen, beschwören und entleeren

von Sophie Diesselhorst 

Berlin, 14. Mai 2017. Harte Arbeit sei es gewesen, und "mit diesem Ergebnis hätte ich nicht gerechnet", sagt Claudia Bauer, und es klingt ehrlich. "Dieses Ergebnis" sind die vielen, vielen Beteiligten ihrer Leipziger Inszenierung 89/90 auf der Siegertreppe des Theatertreffens im Haus der Festspiele.

Ein bisschen drängeln muss er sich schon, der tolle Chor, der die Ost-Punk-Lieder, die die anarchische Wende-Stimmung in Peter Richters jugendlichem Erinnerungs-Roman antreiben, als Motetten darbot, zwischendurch aber auch mal zur chaotisch-unverständlich-bedrohlichen "Stimme des Volkes" anschwoll und eine lange Weile auf dem einen Wörtchen "Freiheit" hängenblieb, das sich ja sehr unterschiedlich sprechen und singen, sinnbeschwören und -entleeren lässt.

89 90 05 560 c rolf arnold uPuppenköpfe sind Claudia Bauers Markenzeichen, auch in "89/90" © Rolf Arnold

Überhaupt hat Claudia Bauer den Stoff wie eine Partitur hergenommen und lässt ihn in einem Raum spielen, der manchmal fast von Anna Viebrock sein könnte wie auch die Kostüme. Also denkt man – in Berlin, beim Theatertreffen wahrscheinlich mehr als in Leipzig – an Marthaler und zwischendurch auch an Castorf, wenn die Schauspieler*innen ketterauchend in Paillettenfummeln vor der Live-Kamera sitzen und ihre Erzählung antreiben, indem sie hektisch um die Aufmerksamkeit des Kameraauges konkurrieren.

Paillettenfummel und Bananenwitze

Die Stimmung im Haus der Festspiele ist gut, es wird viel gelacht, manchmal etwas zu früh, wie als der Ich-Erzähler seine kommunistische Freundin mit einem Bananenwitz aufzieht. Der Bananenwitz funktioniert immer noch. Und noch vieles andere an diesem Abend, mehr freiwillig als unfreiwillig, und die drei Stunden gehen schnell rum – am Ende war's eher gut als bemerkenswert.

Aber die diesjährige Theatertreffen-Trophäe, ein Papier-Pokal aus dem jeweiligen Stücktext, der sich zusammenfalten lässt zu einem angefressenen Buch, passt zu keiner der eingeladenen Inszenierungen so gut wie zu dieser, der einzigen Romanadaption dieses Theatertreffens, rechnet man den Hamburger "Schimmelreiter" nicht mit.

 

Alles zum Berliner Theatertreffen 2017 gibt's im Liveblog

 

Kommentare  
89/90, Theatertreffen: schwächer als Dresden
Als sich die Inszenierung langsam vom müden Vorgeplänkel des Frühjahrs/Sommers 1989 entfernt und dem Herbst der friedlichen Revolution näher kommt, erlebt der Abend seine beste Phase: der Chor übernimmt das Heft das Handelns, mixt betuliches FDJ-Liedgut mit Punk-Parolen und kommentiert das Geschehen. Dazwischen geistert eine überdimensionale Helmut Kohl-Puppe über die Bühne, die Schlagworte und Versatzstücke aus der Rede vor der Dresdner Frauenkirche im Dezember 1989 zitiert. Dieser Auftritt des „Kanzlers der Deutschen Einheit“, der angesichts der jubelnden, Deutschland-Fahnen-schwenkenden Massen den „Mantel der Geschichte“ und eine historische Mission spürte, ist ein Schlüsselmoment der Inszenierung. Es wäre spannend gewesen, wenn Claudia Bauer und ihr Ensemble einen Gedanken, den Roman-Autor, Gag-Schreiber und SZ-Korrespondent Peter Richter im Programmheft äußerte, weiter vertieft hätten. Er schlägt unter der Überschrift „Warum mich diese Herkunft nicht fortlässt“ den Bogen zu Pegida.

Der Theaterabend franst stattdessen aus: ähnlich wie schon die Dresdner Inszenierung verliert er sich in Beschreibungen der Kämpfe zwischen Neonazis auf der einen und Punks/Antifa auf der anderen Seite.

Im direkten Vergleich der beiden sächsischen Inszenierungen schneidet Leipzig schwächer ab. Die Dresdner Uraufführung war sowohl unterhaltsamer als auch stringenter.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/05/14/tt-2017-8990-aus-leipzig-claudia-bauers-karikatur-aus-dem-anarchischen-wende-jahr/
89/90, tt-Berlin: fehlender Spannungsbogen
Das 89/90 eine der bemerkenswertesten Inszenierung 2016 sein soll, kann ich nicht nachvollziehen.
Die Romanvorlage ist eigentlich unspielbar. Ein guter Chor reicht da nicht aus, um einen fehlenden Spannungsbogen, schlecht eingesetzte Schauspieler und fehlende Entwicklung der Personen auszugleichen.
Was haften bleibt, ist ein Chor, der sich im zweiten Teil erschöpft und ein teils agitierendes Textaufsagen der Schauspieler.
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