Die Liebe der Mütter

von Eva Biringer

Berlin, 15. Mai 2017. Mara und Milan küssen sich. Sie tun das auf einer öffentlichen Toilette in Belgrad, an deren Wände sich schon andere Liebende verewigt haben. Milan wird bald sterben oder ist bereits tot, sein Grab eine Badewanne voller gefälschter Markensneaker. Mara ist Milans Mutter. Auf der Seitenbühne des Festspielhauses wiegt Ursina Lardi Christian Wagner in ihren Armen wie die heilige Maria den Jesus in einer Pietà-Darstellung, bevor sie sich an seinem Schoß reibt. Tanja Šljivars "We are the ones our parents warned us about" ist ein betörend schönes Stück über Erinnerungen an Kirschkuchen und die erste Periode, die Trauer um ein ungelebtes Leben und eine inzestuöse Liebe, die, so pathetisch das klingt, stärker ist als der Tod.

Alle Probleme der Welt aufessen

Die 1988 in Banja Luka geborene Autorin erzählt von der Ungeheuerlichkeit, als Mutter den Leichenschmaus des eigenen Sohns kochen zu müssen und später Trost zu suchen im Schoß eines Fremden, halb so alt wie sie. "Mara and Milan are kissing on the mouth" heißt es im Text, weil Šljivars Stück aus dem Serbischen lediglich ins Englische übersetzt wurde. Nicht deswegen, sondern trotzdem übertrumpft "We are the ones our parents warned us about" die anderen Beiträge des Stückemarkts bei weitem. Nach vier Tagen lautet die Bilanz: Es war ein verhältnismäßig schwacher Jahrgang, den die aus Mona el Gammal, Christina Zintl, Felicia Zeller, Armin Petras und Hakan Savaş Mican bestehende Jury ausgewählt hat.

tt17 p stueckemarkt jury c alexander janetzkoDie Jury des Stückemarkts 2017: Mona el Gammal, Christina Zintl, Hakan Savaş Mican, Felicia Zeller, Armin Petras © Alexander Janetzko

Einigen können sich die sechs Stücke auf drei Themenkomplexe: Mutterschaft / Feminismus, osteuropäische Identität und gesellschaftliche Utopien. Auf letztere setzt der 1987 in Berlin geborene Bonn Park. Anstelle einer Handlung tritt ein Potpourri aus Google-Suchergebnissen in der Geisteshaltung eines Digital Natives. Kim Jong-Un trifft auf Donald Trump, ein "Vielleicht-Nicht-Manuel-Neuer" auf die "manisch depressive Kassandra", einen fiesen Kinderchor und 12.000 Babykatzen. Abgesehen davon ist "die fette Heidi Klum" dazu verdammt, alle Probleme der Welt aufzuessen. "Das Knurren der Milchstraße" ist wie ein Babykatzenvideo: Obwohl man es gerne mögen würde, nervt es. Weniger in seiner Form der Publikumsbeschimpfung ("Ihr seid so dumm und so scheiße") als in der Beliebigkeit seiner Mittel.

Die Crux eines vergessenen Ladekabels

Es reicht eben nicht, Personen des öffentlichen Interesses in einen dem digitalen Zufallsprinzip verhafteten Kontext zu setzen, vor allem, wenn man sich über das Klum-Trump-Jong-Un-Feindbild so einig ist wie die Angehörigen der Theatertreffen-Bubble. "Heidi Klum geht in den Supermarkt und kauft nichts" – das ist einfach nicht besonders lustig. Ganz im Gegenteil zu Parks Idee, sich selbst als "im Körper eines elfjährigen Mädchens Gefangenen" zu den Vorlesenden Silvia Rieger und Thomas Schmidt auf die Bühne zu setzen. Sympathisch ist auch sein Eingeständnis des eigenen "Recherchezwangs". Auf die Frage, was ihn gerade am meisten beschäftige, antwortet Park "das Internet", wahrscheinlich im positiven wie im negativen Sinn. Sein Stück versteht er als Aufruf, seine Zeit mit politischen Utopien statt YouTube-Videos zu verbringen.

tt17 p bonn park c niklas vogtDer Gewinner des Werkauftrags Bonn Park © Niklas Vogt

Dass die Politik Ehrengast ist beim diesjährigen Stückemarkt, betont die Jury im Gespräch, Stichwort: Welthaltigkeit. Eingereicht wurden 286 Arbeiten, davon 201 Texte und 85 Projekte, viele davon aus dem europäischen Ausland. Von den sechs Gewinnerstücken ist Rainer Merkels "Lauf und bring uns dein nacktes Leben" das am ehesten szenische, soll heißen mit einer Einheit von Ort (Sierra Leone) und Handlung (critical whiteness, die brüchige Moral von NGO-Mitarbeitern und die Crux eines vergessenen Ladekabels). Das Stück des 1964 geborenen Schriftstellers basiert auf dessen Erfahrungen in einem liberianischen Krankenhaus. Präsentiert wird es auszugsweise in Form einer szenischen Lesung. Nach eineinhalb Stunden ist erst ein Drittel durch und man kapiert nichts, auch nicht bei der erneuten Lektüre. Ein brav gezimmertes play, dabei nicht mal well made, dessen Figuren einen so kalt lassen wie die Klimaanlage in der den weißen Samaritern – Ehrenamt Ehrensache! – vorbehaltenen Apartmentanlage.

In Hůlovás Zelle

Ähnlich wenig Zugang findet man im wahrsten Sinn des Wortes zu den drei Käfiginsassinnen in Petra Hůlovás "Zelle Nummer". In wechselnden Rollen erörtern Jule Böwe, Svenja Liesau und Anja Schneider die tschechische Gegenwart zwischen Prager Partytourismus und kafkaesker Schwermut. Während szenische Lesungen per se ein höheres Maß an Konzentration erfordern (nicht umsonst ermahnt Thomas Schmidt das Publikum bei "Das Knurren der Milchstraße" nicht einzuschlafen), sind Sätze wie dieser wahre Rausschmeißer aus dem eigenen Kopfkino: "Wir pressen bittere Beeren zu blauen Bächen moralischer Montagen monothematisch mondäner Mores, moderner Machtgefüge der Morgengebete mährischer Monsterprozesse, momentaner Monologe." Auch bei der Lektüre bleibt "Zelle Nummer" so blass wie seine Figuren nach 58 Tagen freiwilliger Isolationshaft. Oder liegt es an der nationalistischen Perspektive, die es Nicht-Tschechen schwermacht, den zahlreichen Referenzen zu folgen? Wer seinen Manderscheid nicht gelesen hat, bekommt jedenfalls das Gefühl, in Hůlovás Zelle höchstens geduldet zu sein.

Auch die Berliner Autorin Tine Rahel Völcker seziert die osteuropäische Identität, allerdings auf weitaus zugänglichere Weise. Aus Selbstfindungsgründen sammelt die Hauptperson ihres "Traumspiel" genannten Stücks im deutsch-polnischen Grenzgebiet Betrunkene auf. Adam ist polnischer Jude, Henriette und Rudi sind Deutsche. Adams Mutter hält die Erinnerung an den Holocaust wach und die Privatsphäre ihres Sohns klein: "Jetzt seht euch die zwei an verbeißen sich ineinander wie's sich für ihre Art gehört." Auch in "Adam und die Deutschen (Die Mühle)" klingt eine latent inzestuöse Mutter-Sohn-Beziehung an, jedenfalls eine ungesund-innige. Gelesen wird das Stück beglückend intensiv von Sven Fricke, Daniel Fries, Juliane Korén und Sina Martens, während eine Windmaschine die Seiten durch die Kassenhalle des Festspielhauses pustet.

Das zwickt wie Muttis zu heiß gewaschenes Hemd

Für frischen Wind würde die 1979 geborene Autorin auch gerne am Theater Karlsruhe (in ihren eigenen Worten: "Karls Unruhe") sorgen, das den Werkauftrag des diesjährigen Stückemarkts vergibt. Die Entscheidung darüber liegt zum einen bei einer dreiköpfigen Jury (die Theaterwissenschaftlerin Azadeh Sharifi, Axel Preuß, Chefdramaturg am Badischen Staatstheater, und der Chefideologe des politischen Theaters Falk Richter), zum anderen beim Karlsruher Publikum und den Zuschauern des Berliner Stückemarkts, die herrlich basisdemokratisch am Ende jeder Inszenierung per Stimmzettel um ihre Meinung gebeten werden. Dass Verwertbarkeit aka Bühnentauglichkeit kein Kriterium ist, beweist das Gewinnerstück "Das Knurren der Milchstraße". Bonn Park, stilbildend mit Pinguinmütze, freut sich schüchtern über den mit 7000 Euro dotierten Werkauftrag.

tt17 p who cares c david rittershaus 01Die Performance "Who Cares" © David Rittershaus

Etwas weniger freut sich Falk Richter, der im Anschluss an die Preisverleihung den Performerinnen von Swoosh Lieu seine Bewunderung versichert. Deren "Who cares?! – eine vielstimmige Personalversammlung der Sorgetragenden" war der politischste Beitrag von allen, mehr Demo als Drama. Während sie Wäsche aufhängen und Posen bekannter Frauenfiguren von Queen Elisabeth bis Catwoman einnehmen, leihen Johanna Castell, Katharina Kellermann und Rosa Wernecke all jenen Frauen ihre Stimme, die unsere Gesellschaft durch schlecht- oder unbezahlte Lohnarbeit am Laufen halten. O-Töne von Altenpflegerinnen und Prostituierten wechseln sich ab mit Texten großer Theaterfiguren wie Medea und Effi Briest. Gefordert wird eine "Care-Revolution" und natürlich auch die Auflösung der Geschlechter. Dass es diese so ganz und gar nicht stadttheaterhafte Performance in die Auswahl des Stückemarkts geschafft hat, ist begrüßenswert, zwickt in der fahrigen Umsetzung aber leider wie Muttis zu heiß gewaschenes Hemd.

Um Mütter geht es nämlich auch hier und um deren selbstlose Liebe, die weit über das Kochenwaschenbügeln hinausgeht. "Die Liebe zum Kind ist eine Offenbarung. Denn als Mutter ist plötzlich erlaubt, was man als Geliebte nie darf! Grenzenlos lieben. Man nennt das Mutterliebe", heißt es bei "Adam und die Deutschen". Tanja Šljivar (die anlässlich der Preisverleihung als von der Jury erbetenen Symbolgegenstand ein natürliches Verhütungsmittel mitbringt, als Boykottaufruf der Anti-Baby-Pille) schert sich nicht um familiäre Anstandsgrenzen und lässt Mutter und Sohn vollends verschmelzen, auf eine so ungeheuerliche wie berührende Art. Ihr Stück schließt mit dem Satz "Everything is still a bit sad, but a bit pretty as well." Hoffentlich wird er auch ohne Werkauftrag seiner Autorin bald ins Deutsche übersetzt.

Stückemarkt

Das Knurren der Milchstraße
von Bonn Park (Szenische Lesung)
Einrichtung: Markus Heinzelmann, Dramaturgie: Diana Insel, Musik: Viktor Marek.
Mit: Silvia Rieger, Thomas Schmidt, Johannes Schäfer.

Lauf und bring uns dein nacktes Leben
von Rainer Merkel (Szenische Lesung)
Einrichtung: Friederike Heller, Dramaturgie: Ralf Fiedler.
Mit: Jule Böwe, Andreas Köhler, Christoph Gawenda, Andreas Schröders, Katrin Wichmann.

Zelle Nummer
von Petra Hůlová (Szenische Lesung)
Einrichtung: Armin Petras, Dramaturgie: Maria Nübling, Musik: Jörg Kleemann.
Mit: Jule Böwe, Svenja Liesau, Anja Schneider.

We Are the Ones Our Parents Warned Us About
von Tanja Šljivar (Szenische Lesung)
Einrichtung: Johannes von Matuschka, Dramaturgie: Nils Haarmann.
Mit: Ursina Lardi, Christian Wagner.

Adam und die Deutschen (Die Mühle)
von Tine Rahel Völcker (Szenische Lesung)
Einrichtung: Alice Buddeberg, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Sven Fricke, Daniel Fries, Juliane Korén, Sina Martens.

Who cares?! – eine vielstimmige Personalversammlung der Sorgetragenden
von Swoosh Lieu (Performance)
Konzept, Performance: Johanna Castell, Katharina Kellermann, Rosa Wernecke, Performance, Text: Katharina Speckmann, Bühne, Kostüm, Performance: Lani Tran Duc, Bühne, Kostüm: Anika Marquardt, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki.

www.berlinerfestspiele.de