Am charismatischen Nullpunkt

von Esther Slevogt und Christian Rakow, Video: Julika Bickel

Berlin, 16. Mai 2017. Das ist sie also, die lang erwartete Programmpressekonferenz der Dercon-Volksbühne. Im Publikum nicht nur die Pressevertreter*innen der einschlägigen Medien und Pressesprecher*innen anderer Berliner Kulturinstitutionen wie dem Gorki Theater oder den Berliner Festspielen, auch eine Abordnung der Castorf-Volksbühne, darunter Carl Hegemann, war gekommen.

Neue Spielstätte Tempelhof

Geladen hatte das Team um den designierten Intendanten Chris Dercon und seine Programmdirektorin Marietta Piekenbrock in den Flughafen Tempelhof, ins ehemalige Flughafenrestaurant. Tempelhof war seit der Berufung Dercons als Ort einer neuen Spielstätte der Volksbühne im Gespräch gewesen. Dann kamen 2015 / 16 erst einmal die Geflüchteten. Demnächst nun baut der Architekt Francis Kéré ein mobiles Satellitentheater für Tempelhof. Und auf dem Tempelhofer Flugfeld wird der Tänzer und Choreograf Boris Charmatz im September 2017 im Kontext seines Projektlabels Musée de la Danse Berlin-Editionen von "Fous des Danse" und "Danse de Nuit“ sowie ein weiteres als partizipative Choreographie für Laien und Profis gedachtes Projekt zeigen.

Chris Dercon über den Start an der Volksbühne Berlin: "Wow, das wird nicht einfach sein. Das ist hier so gut."
© Julika Bickel

In Zukunft soll der Theater-Komplex als "Volksbühne Berlin" firmieren und diverse Spielstätten vereinen. Eben Tempelhof, aber auch das Kino Babylon, den Roten und den Grünen Salon, die wieder unter Eigenregie der Volksbühne gestellt werden, perspektivisch – so hofft man – auch den Prater. Und die digitale Bühne ("Volksbühne Fullscreen") wird es geben, die unter anderem mit Beratung von Netz-Journalistin Mercedes Bunz das Internet als Ort für die Darstellende Kunst und neue Erzählformen erkunden will.

Eröffnung mit Beckett

16 Premieren, davon 13 Eigenproduktionen sind in der ersten Spielzeithälfte bis Januar 2018 geplant. Acht davon an der Hauptspielstätte am Rosa Luxemburg Platz, drei in Tempelhof. Der Diskurs-Performancekünstler Tino Sehgal eröffnet das große Haus mit einer mehrtägigen Bespielung zum Thema "Samuel Beckett", Becketts ehemaliger Mitarbeiter Walter Asmus wird im November drei Einakter "Nicht Ich / Tritte / He, Jo" herausbringen, mit Morton Grundwald, der einst den Benny in der aus DDR-Zeiten legendären dänischen Fernsehserie "Olsen-Bande“ spielte. Susanne Kennedy, Mette Ingvartsen, Mohammed al Attar und Yael Bartana werden sich als Künstler*innen erstmals am Rosa-Luxemburg-Platz vorstellen.

Mercedes Bunz über die digitale Bühne "Volksbühne Fullscreen": Internet künstlerisch denken
© Julika Bickel

Bei vielen Arbeiten handelt es sich um Weiterführungen von bereits etablierten Serien wie Ingvartsens "Red Pieces" oder Boris Charmatz' "Musée de la danse", teilweise um Adaptionen von bereits bestehenden Inszenierungskonzepten für Berlin (wie Jerôme Bels "The Show must go on"). Bei den Selbstmord-Schwestern von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen trat die Volksbühne bereits als Koproduzent auf.

Kämpferische Zuspitzungen

Chris Dercon und Marietta Piekenbrock sprechen in ihren Begrüßungsreden immer wieder von der schwierigen Vorbereitung ihres Intendanz-Starts. Man sei eigentlich schon viermal gekündigt worden, heißt es auf Nachfragen: nach der Antrittspressekonferenz, nach Bert Neumanns Tod, nach der Berlin-Wahl und der Infragestellung durch den neuen Kultursenator Klaus Lederer. Die Unsicherheit ist greifbar. In seiner Eröffnung wirbt Chris Dercon um "Generosität", um eine faire Chance für den Neustart, er gesteht Fehler in der Kommunikation ein, will mit einer humorvollen Sottise versöhnen: Belgischer Akzent sei ja jetzt in Berlin en vogue, nicht nur bei Benny Claessens (der zuletzt in Ersan Mondtags Ödipus und Antigone zu sehen war), sondern auch bei Alexander Scheer (der Dercon in Castorfs Faust recht ätzend parodiert). Verhaltenes Schmunzeln im Publikum. Marietta Piekenbrock sucht in ihrer Programmrede kämpferische Zuspitzungen. Die Anfeindungen durch Teile der Berliner Presse und Künstlerszene hätten "dazu beigetragen, unsere Idee von Freiheit zu schärfen."

Marietta Piekenbrock über den Start an der Volksbühne Berlin: "Die Skeptiker haben dazu beigetragen, dass wir unsere Idee von Freiheit schärfen." © Julika Bickel

Der Volksbühnen-Kulturkampf der letzten zwei Jahre als Bremsklotz für den Intendanzstart – dieses Motiv zieht sich durch die Pressekonferenz. Es sei schwierig gewesen, in den zurückliegenden Monaten ein stehendes Ensemble aufzubauen. Zugkräftige Namen fürs Schauspiel konnten in der Pressekonferenz nicht präsentiert werden. Allerdings würden "Sir" Henry Nijenhuis, Silvia Rieger und Sophie Rois weiter zur Volksbühne gehören, erklärte Chris Dercon gegenüber nachtkritik.de. Geplant sei nach wie vor nicht nur, ein festes Ensemble aufzubauen, sondern auch, die Produktionen regelmäßig im Repertoire zu zeigen. Der politisch verankerte Auftrag, die Volksbühne als Repertoire- und Ensembletheater zu führen, war unlängst von Klaus Lederer unter anderem im Interview mit nachtkritik.de wiederholt unterstrichen worden. Ob und wie er erfüllt wird, muss sich erweisen. Die Pressekonferenz dient hier vor allem der Bitte um Vertrauensvorschuss.

Frostige Nachfragen

Zur Überschneidung des Volksbühnen-Repertoires mit Festivalformaten der Berliner Festspiele und dem Programm von freien Produktionshäusern wie dem HAU (wo Künster*innen wie Boris Charmatz, Susanne Kennedy oder Mette Ingvartsen für Berlin entdeckt wurden) äußerte sich Marietta Piekenbrock mit Verweis auf die besseren, weil nachhaltigen Produktionsbedingungen. Womit die Rahmenbedingungen der Arbeit an der neuen Volksbühne so weit als möglich abgeklopft wurden. "Wir befinden uns am charismatischen, durchaus lustvollen Nullpunkt", sagte Marietta Piekenbrock auf die eher frostigen, teils offen kritischen Nachfragen der Journalist*innen.

Anders gesagt: Ab Herbst gilt es. Und die Dercon-Volksbühne kann zeigen, ob dieser Nullpunkt ihr Ground Zero für einen furiosen Neuaufbau wird.

 

www.volksbuehne1718.berlin

 

Ein Video-Interview von nachtkritik.de mit Chris Dercon sehen Sie hier.

 

Presseschau

Rüdiger Schaper schreibt auf tagesspiegel.de (16.5.2017): Dercons Volksbühne wirke "wie ein Pool für die jungen Kreativen, die Berlin ohnehin anzieht". Das "ephemere Stadtverständnis" verdichte sich zum Programm. "Da werden am laufenden Band neue Formate erfunden und vernetzt und überhaupt." Andererseits solle das "nahezu klassische Erbe der Moderne gepflegt werden". Der Übergang könne, "trotz allem Wehgeschrei, so hart nicht sein", weil von 227 Mitarbeitern 206 blieben. Es liege "erstaunlich viel Kontinuität in diesem Wechsel". Andererseits bekämen die Berliner Festspiele durch dieses Programm Konkurrenz.

Wolfgang Höbel war nach der Pressekonferenz echt sauer. Auf Spiegel Online (16.5.2017) schreibt er: Die Pressekonferenz von "Chris Dercon und sechs Frauen und Männer, die mit ihm arbeiten," sei eine "Show des Schreckens" gewesen und eine "Orgie des hochtrabenden, aber kaum wirklich bedeutsamen Geschwafels". Dabei seien Stoffe und Namen für das erste Halbjahr "nicht sensationell, aber durchaus interessante Versprechen für all jene, die sich für Theaterkunst auf der Höhe der Zeit begeistern". Dercon habe die Programmpräsentation offensichtlich zu einer "Charmeoffensive, zu einer Werbeshow um öffentliche Sympathie" nutzen wollen. Es sei eine "Inszenierung der Zerknirschtheit" gewesen, in der Dercon und seine Mitstreiter erst gestanden, "dass sie nicht immer glücklich kommuniziert" hätten, um sodann "noch unglücklicher weiter" zu kommunizieren. Das "Spießrutenschwafeln" sei "80 erschöpfende Minuten lang unerbittlich durchgezogen" worden.

Schon seit Monaten habe man im Groben gewusst, wohin "die Reise an der neuen Volksbühne gehen" werde, kommentiert Susanne Burkhardt auf Deutschlandfunk Kultur (16.5.2017, zum Nachhören). Aber auch nach der Pressekonferenz warte man auf "etwas, von dem man sich vorstellen kann, dass es die 800 Plätze füllt, die das große Haus bietet. Etwas, das man so eben nicht auf den Bühnen der vielen Theaterkombinate des Landes oder den üblichen Festivals finden könnte." Ein ausführliches Gespräch von Chris Dercon mit Vladimir Balzer und Axel Rahmlow auf Deutschlandfunk Kultur (16.5.2017) gibt es hier zum Nachhören.

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutsche Zeitung (17.5.2017): Chris Dercon habe sich, "nach den heftigen Auseinandersetzungen" für "einige ungeschickte Äußerungen" entschuldigt. Er, Dercon, habe "die Stimmungen und die politische Gemengelage in der Stadt unterschätzt und sicher auch bestimmte Sachen falsch gesagt". Sichtlich bemüht, sei das Team gewesen, "die Wogen zu glätten". Die "Bitte um Fairness" sei für den Neubeginn einer Intendanz "ungewöhnlich", die Nervosität unübersehbar. "Die Frage einer Journalistin, ob denn neben all den Tänzern, Video- und Internet-Künstlern auch Schauspieler engagiert seien, beantwortet Dercon mit einer gewaltigen Zahl: Rund 250 Schauspieler würden in der ersten Saison auftreten". Weil jeder "Regisseur und Choreograf" seine Darsteller mitbringe. "Nach und nach" wolle Dercon "ein Ensemble aufbauen". Die "schwierigen Rahmenbedingungen" hätten es schwer gemacht, "bestimmte Schauspieler fest ans Haus zu binden". In der Süddeutschen Zeitung (17.5.2017) gibt es außerdem ein Interview, das Christine Dössel und Jörg Häntzschel mit Chris Dercon und Marietta Piekenbrock geführt haben. Wir fassen es hier zusammen.

Ulrich Seidler schreibt in der Berliner Zeitung (17.5.2017), es sei "weiterhin unfair, die Künstler an ihren Plänen, statt an ihren Werken zu messen." Auf dem Papier bleibe in der neuen Volksbühne erstmal alles wie es ist. "Das Haus werde weiterhin mit einem 'gemischten Ensemble' arbeiten". Es gebe lediglich eine "Verschiebung von einem Repertoire-Betrieb mit täglich wechselnden Vorstellungen hin zu wiederkehrenden En-suite-Blöcken, wie ihn ähnlich und zunehmend die Schaubühne praktiziert". Alles werde getan, "um den Anschein eines Systemwechsels vom Ensemble-Theater zum Festspielhaus zu vermeiden". Auf der "künstlerischen Ebene" jedoch werde "eine Herz- und Seelentransplantation vollzogen", nach der "die Volksbühne als ein anderes Wesen aufwachen" werde. Das "dialogbasierte Schauspiel" rutsche fast ganz unter den Tisch, stattdessen gebe es "viel hochkarätigen Tanz, viel Installatives, Partizipatives, Chorisches, Performatives, Digitales sowie eine Programmschiene mit rekonstruierten oder aufgearbeiteten Bühnenarbeiten." Dem Theater werde "durch das Museum" das "vielleicht einzig gebliebene Genuine ausgetrieben: die schwer hinzunehmende und doch auch tröstliche Vergänglichkeit im Augenblick".

Eberhard Spreng  merkt auf Deutschlandfunk (16.5.2017) an: "Eine bisweilen pathetische Kuratorenprosa maskiert nur notdürftig den latenten Konflikt um die Zukunft der Beschäftigten und das Profil der Volksbühne."

Matthias Heine schreibt auf welt.de (16.5.2017) eine "Theaterkritik" zu der Pressekonferenz, und betätigt sich als Historiker. Er weist auf die Historizität des Austragungsortes hin. Für Christoph Marthalers "Murx den Europäer" hatte Anna Viebrock sich 1993 von einer Werbeschrift in der Halle von Tempelhof inspirieren lassen. Und überhaupt von wegen Kontinuität: Boris Charmatz, der in Tempelhof arbeiten werde, sei "auch schon mal" am Luxemburgplatz unter Frank Castorf aktiv gewesen. Wenn nun Tino Sehgal Samuel Beckett inszeniere, gbe es gleich eine doppelte Anknüpfung. Beckett erinnere an "Beckett Late Nights" von 1993, eines der ersten "Spektakel" der Castorf-Ära, "bei dem das ganze Haus mit verschiedenen Inszenierungen bespielt wurde". Tino Sehgal wiederum sei früher Mitglied des P14-Jugendtheaters der Volksbühne gewesen, "hatte Unterricht bei der Kresnik-Tänzerin Liliana Saldana, der als Frida Kahlo damals tout Berlin zu Füßen lag". Menschen "wie Sehgal" oder noch besser Morten Grunwald von der Olsenbande weckten "tatsächlich so etwas wie Neugier auf das Neue". "Man möchte so gerne Chris Dercon lieb haben", schreibt Heine. Doch angesichts des Höchstmaßes an "rhetorischer Luft" mit der "Projekte, die man so ähnlich schon mal gesehen hatte, als Innovationen verkauft" worden seien, falle das Lieb haben schwer. "Es klang fast immer, als hätte man in den Kuratorensprech-Maschinenmotor noch einen Dramaturgensprech-Turbo eingebaut." Klar sei jedenfalls: "Theater, bei dem sich Schauspieler unter der Anleitung eines Regisseurs mit literarischen Texten beschäftigen, wird es künftig an der Volksbühne nur noch in Ausnahmefällen geben."

Der Bericht in der Abendschau des rbb (16.5.2017) und ein Gespräch mit der Kulturkorrespondentin Maria Ossowski ist hier zu sehen.

Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.5.2017) lakonisch zum Programm: "Flughafentopographisch könnte man sagen: Da ist noch Luft nach oben."

Katrin Bettina Müller schreibt in der taz (17.5.2017): "Gute Künstler, gewiss, interessante Formate, aber ... wie viel Theater wird es denn noch unter diesem Kunstmann geben?" Zwar seien 120 Schauspieler "in den Projekten der ersten Spielzeit eingebunden", doch "namentlich wurden sie erst erwähnt, als es um ein Internettheaterformat ging". Und vom Aufbau eines Ensembles sei man "noch weit entfernt". "Warum haben sie daran nicht mehr gearbeitet, wenn es ihnen doch, wie Marietta Piepenbrock versicherte, so wichtig sei?" Bei dieser Frage habe die Programmdirektorin "etwas die Fassung" verloren. Und auf den "Gegenwind" aus Feuilletons, dem Haus und der Politik verwiesen.

Christine Wahl schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (17.5.2017): Aus dieser Pressekonferenz komme "man in zentralen Fragen nicht wesentlich schlauer heraus, als man hineingegangen" sei. Vieles aus dem Programm sei aus Zeitungsinterviews bekannt gewesen. Am Ende seien viele Fragen, vor allem die nach den Schauspieler*innen, mit denen gearbeitet werden solle, offen.

Im Interview mit der Zeit (18.5.2017) spricht Chris Dercon unter anderem über enttäuschende Verhandlungen. Nicht nur die alte Volksbühnen-Garde habe jegliche Kooperation verweigert, der starke Gegenwind erschwere auch, neue Künstler zu engagieren. "Die sagen: 'Ich mache doch nicht mit euch einen Vertrag, weil ihr selbst nicht wisst, ob ihr überlebt.'" Aufgeben habe er trotzdem nie wollen. "Aber ich muss sagen, dass ich mich in meinem Leben noch nie so unfrei gefühlt habe wie hier in Berlin. Ich bin ein Außenseiter, ich bin immer ein Außenseiter gewesen, Außenseiter haben einen unglaublichen Vorteil, weil sie zur Freiheit verdammt sind. Und diese bedingungslose Freiheit wurde mir hier oft genommen."

Im Interview mit der Berliner Morgenpost (19.5.2017) kritisiert Frank Castorfs Chefdramaturg Carl Hegemann die Pläne des Dercon-Teams für die Volksbühne 17/18: Ensemble- und Repertoiretheater sei es nicht, eher "ein zeitgenössisches Kunshaus in irgendwo". Aber die Politik könne und dürfe erst eingreifen, wenn die Infrastruktur des Hauses betroffen ist.

Boris Pofalla rekurriert in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (21.5.2017) auf Chris Dercons Aussage, er habe sich noch nie so unfrei gefühlt wie in Berlin: Dercons Urvertrauen in die schrankenlose Entgrenzung der Künste verweise auf seine berufliche Heimat in der bildenden Kunst. "Bildende Künstler können seit etwa dreißig Jahren eigentlich alles: Musik machen, Flüchtlingen helfen, Wissenschaftler und Politiker sein, Romane und Gedichte schreiben, Theorie und Kritik vorantreiben, Häuser entwerfen und Afrika beleuchten, um nur eine kleine Auswahl zu geben." Darin liege eine große Freiheit, die Dercon vermisse. "Aber in der Begrenzung liegt auch Freiheit. Und wenn eine Kunstsparte, die vor Geld nur so quietscht, sich auf andere, ärmere Kusinen stürzt, dann kann man das als übergriffig empfinden und als eine Form von Kolonialisierung."

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