Hänsel und Gretel in der Großstadt

von Sascha Westphal

Recklinghausen, 20. Mai 2017. Auf den Probenfotos, die das Deutsche Theater auf seiner Webseite und im Programmheft zu Alexander Riemenschneiders Inszenierung veröffentlicht hat, fallen einem sofort die großen roten Flecken auf Kotti Yuns und Thorsten Hierses Wangen ins Auge. Das dunkle Rot akzentuiert nicht nur die weiße Schminke, die ihre Gesichter bedeckt. Es weckt zudem Erinnerungen an die Masken der japanischen Nō-Spiel und an die Gesichter der Schauspielerinnen und Schauspieler im Kabuki-Theater.

Dünne Puderschichten

Auf der Bühne sind Kotti Yun, Thorsten Hierse und der Live-Musiker Tobias Vethake deutlich dezenter geschminkt. Nur eine dünne Schicht weißen Puders liegt auf ihren Gesichtern und Armen. Die japanischen Theatertraditionen schwingen so in Alexander Riemenschneiders Inszenierung, einer Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Deutschen Theater, immer noch mit. Aber sie drängen sich nicht derart in den Vordergrund. Die weißen Gesichter und die in Sand- und Beigetönen gehaltenen Kostüme eröffnen einen weiten Assoziationsraum. Entscheidend ist nur, dass Riemenschneider so von Anfang an jeglichem Realismus abschwört.

Maedchen Fingerhut2 560 Arno Declair uWie Kinder in einer fremden Welt, und sie rühren zu Herzen: Thorsten Hierse und Kotti Yun 
© Arno Declair

Mit Realismus wäre Michael Köhlmeiers vor gut einem Jahr erschienenen Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" auf der Bühne auch kaum beizukommen. Schließlich macht sich der Erzähler die Perspektive der Kinder, von deren Odyssee durch eine westeuropäische Großstadt er berichtet, konsequent zu eigen. Woher die sechsjährige Yiza, die in Wahrheit gar nicht Yiza heißt, ihren wirklichen Namen aber nicht kennt, der wenige Jahre ältere Arian und der vierzehnjährige Schamhan kommen, bleibt ebenso offen wie die Frage, was aus ihren Eltern geworden ist. Sie lernen sich in einem Heim für Flüchtlingskinder kennen und fliehen zusammen von dort.

Suche nach den guten Dingen

Diese drei Kinder, von denen zumindest eines viel zu früh erwachsen geworden ist, blicken als Fremde auf die westeuropäische Gesellschaft. Und das macht sie besonders empfänglich für deren tiefe Widersprüche. Nur gemeinsam haben sie eine Chance, der Willkür der Menschen zu entkommen, die mal viel zu fürsorglich, mal einfach nur mit Abscheu auf sie reagieren.

Maedchen Fingerhut 280h Arno Declair u© Arno Declair Also bewegen sie sich an der Peripherie der Stadt und am Rand der Gesellschaft, immer auf der Suche nach "den guten Dingen", nach Essen und warmen Decken, trockener Kleidung und einem sicheren Versteck.

Dabei überschreiten sie mehr und mehr Grenzen. Aber Köhlmeier urteilt nicht über sie. In einfachen Sätzen, die sachlich sind und zugleich eine große poetische Sogwirkung entwickeln, fängt er Yizas, Arians und Schamhans Sicht auf die Dinge und Menschen ein. Ohne es auch nur zu ahnen, bewegen sie sich auf den Spuren Hänsel und Gretels. Nur lassen sich in diesem Märchen des 21. Jahrhundert Gut und Böse, Schwarz und Weiß, längst nicht mehr voneinander scheiden.

Alexander Riemenschneiders Bearbeitung des Romans ist keine Dramatisierung. Sie gleicht eher einer Reflexion über Köhlmeiers Art des Erzählens, das den Leser mitten in die Welt der heimatlosen Kinder zieht und keine Distanz zulässt. Also behält er den Charakter der Erzählung bei. Es gibt keine Dialoge, nur unterschiedlich lange Textblöcke, die Thorsten Hierse und Kotti Yun im Wechsel vortragen. Wenn einer von ihnen erzählt, übernimmt die andere das Spiel. Später werden Yun und Hierse immer wieder auf fast schon ritualisierte Gesten und Grimassen rekurrieren, die Schmerz und Kälte, Glück und Angst illustrieren.

Lyrische Akzente und Schneeflockenlicht

Köhlmeiers Sprache steht im Zentrum der Inszenierung. Yuns und Hierses teils ritualisierte Spielweise, in der sich der simple, eingängige Rhythmus der Köhlmeierschen Sätze spiegelt, und Tobias Vethakes elektronisch verstärkter und verzerrter Live-Score, der konsequent auf geloopte Tonfolgen und schroffe Dissonanzen setzt, schaffen ihr einen zusätzlichen Resonanzraum. Riemenschneider und sein Ensemble müssen keine großen Bilder schaffen, die entstehen sowieso in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer. Also setzen sie kleine lyrische Akzente. Dafür reicht oft schon eine geschickte Lichtregie.

Je nach Lichteinfall können sich die verstreuten weißen Punkte auf der schwarzen Hinterwand einmal in Schneeflocken verwandeln. Im selben Augenblick werden Yun und Hierse zu Märchengestalten, deren in eisigem Licht erstrahlende Einsamkeit einem das Herz rührt. Vermeintliche Distanzierungsstrategien wie die weißen Gesichter und die teils stark stilisierten Bewegungen entwickeln schließlich die enorme emotionale Wucht. Yun und Hierse bringen durch ihr Spiel und mehr noch durch ihren Tonfall, in dem sich Staunen und Schrecken, Gleichmut und Sehnsucht übergangslos verbinden, Köhlmeiers Sätze zum Schwingen und intensivieren noch einmal deren visionäre Kraft.

Das Mädchen mit dem Fingerhut
von Michael Köhlmeier, in einer Fassung von Alexander Riemenschneider und Meike Schmitz
Uraufführung
Regie: Alexander Riemenschneider, Bühne und Kostüme: Juliane Grebin, Musik: Tobias Vethake, Licht: Peter Grahn, Dramaturgie: Meike Schmitz.
Mit: Kotti Yun, Thorsten Hierse und Tobias Vethake (Live-Musik)
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Alexander Riemenschneiders Deutung von Michael Köhlmeiers Erfolgsroman entwickelt für Tina Brambrink eine "enorme Sogkraft, die berührend und schonungslos in den Überlebenskampf in einer fremden Welt zieht". "Die Emotionen konzentriert (…) Riemenschneider auf Körpersprache und Mimik: Immer wieder gibt es zarte Berührungen, dann spenden ein warmer Atem oder ein Augenkontakt Trost", schreibt Brambrink in der Waltroper Zeitung (23.5.2017). "Angst und Schmerz, Freude und Glück spiegeln sich in den Gesichtern." Live-Musiker Tobias Vethacke folge dem Rhythmus und der poetischen Kraft der Sprache kongenial mit seinem Elektro-Sound. "Auch die kluge Lichtregie lässt Gefühle einfrieren und wieder auftauen."

"Hierse und Yun wechseln sich mit dem Sprechen ab und kommentieren mit ritualisierten Bewegungen das Gesagte", schreibt Julicka Bickel in der taz (2.11.2017). Auf diese Weise funk­tio­niere der Text als Theaterstück. "Sie zittern, wenn sie schlafen, liegen gekrümmt auf dem Boden." Im Mittelpunkt aber stehe "die lakonische und ausdrucksstarke Sprache".

 

 

Kommentare  
Das Mädchen mit dem Fingerhut, Recklinghausen: Sogwirkung
Köhlmeier beschreibt eine kalte, unverständliche Welt aus den und durch die Augen der Kinder. Wir, das weiße Europa, der Nabel der Welt, sind das Fremde, Bedrohliche, Undurchdringliche. Kotti Yuns verständisloser Blick, stets bereit zurückzuschrecken, eine Mischung aus Staunen und Angst, bildet das Fundament dieses Abends. Riemenschneider dramatisiert nicht, er erzählt. Die Geschichte, das dunkle Märchen ist auch ein Akt der Sprachfindung und -werdung der Sprachlosen. Es entsteht erst durch die Sprachlichkeit, erst wer eine Stimme hat, kann von sich behaupten zu existieren. Eine klare Sprache und eine doppelbödige. Wenn am Ende die Rede davon ist, dass sich beide aufmachen zu den „Freunden“, eine „Horde von Zerlumpten, die bereits zu alt sind für Rührung und Mitleid“, ist das eindeutig und widersprüchlich zugleich, Hoffnung und Verderberben, Sicherheit und Bedrohung, Geborgenheit und Angst. Die stille Kotti Yun und der hibbeligere Thorsten Hierse beschreiten diese sprachliche Reise als Erzähler*innen aber auch Erzähltes eines Textes, der Prosa ist, aber ein lyrisches Herz hat. Ein melodischer Text, ein rhythmischer auch, zu dem Musiker Tobias Vethake mit allerlei elektronischen Gerätschaften und E-Cello tritt. Sprache und Musik treten in Dialog, geben einander Resonanzräume. Das Klangfundament verstärkt, bietet Halt, bricht auf. Die multiplen Fluchtbewegungen intoniert er als Crescendi am Rande des Schmerzempfindens. Das Licht wandelt zwischen Wärme und Kälte.

Und dann die Körper: Sie finden ihre eigenen Sprache. Mal unisono mit dem Text, mal gehen ihn. Sie schrecken zurück und ziehen einander an, scheinen sich zuweilen selbst abstoßen zu wollen, ringen mit sich, wie ihre Träger*innen mit dem Hunger ringen, der Kälte, der existenziellen Bedrohung. Irgendwann wird Kotti Yun zu Yiza und Thorsten Hierse zu Arian, klammert sich die Erzählung an ihre Ob-/Subjekte, um sich nicht zu verlieren – und umgekehrt. Die Doppelbödigkeit bleibt, das Spiel ist minimalistisch, angedeutet, oft leicht zu verpassen und doch das körperliche Gegengewicht zur Sprache, ihre Lebendigmachung, ein Hauch der Hoffnung auf Leben. Alexander Riemenschneider, seinem Team, den Darsteller*innen ist ein poetischer Theatertraum gelungen, unendlich zart, eine ungeheure Sogwirkung entwickelnd, ein federleichtes Gewebe aus Sprache, Spiel und Klang, aus Wort, Körper und Musik, flüchtig, zerbrechlich, kaum sichtbar – wie die, von denen es erzählt. Den Fremden. Oder uns?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/29/himmel-aus-eis/
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