Leben als Dennoch

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 21. Mai 2017. Am Ende hat Frieder sich doch umgebracht. Aber da gab es das Auerhaus schon nicht mehr, das Abitur hatte der württembergischen Schüler-WG, die Bov Bjerg in seinem Roman "Auerhaus" beschreibt, schon ein sozusagen natürliches Ende gesetzt. Trotzdem wird es Leute geben, die das so einordnen wie Cäcilia die Scheidung ihrer Eltern: "Ihre Ehe ist gescheitert."- "Wie kann die das denn so sagen? Die waren 20 Jahre lang verheiratet, und dann haben sie sich eben scheiden lassen", braust der Erzähler von "Auerhaus" auf.

Ich sind Wir

Seinen Furor, seine Stimme hat er aus dem Auerhaus, und deshalb muss er auch von ihm erzählen, seinen Tribut zollen. Nora Schlocker sieht es in ihrer Inszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters absolut überzeugend so, dass er das nicht alleine kann. Also wird der Ich-Erzähler des Romans aufgeteilt, stimmen die anderen ein, die mit ihm dort wohnten ein knappes Jahr lang und sich Lebensmut und Lebensmüdigkeit gerecht teilten: Frieder, Cäcilia, Vera, Pauline und Harry.

Auerhaus2 560 Arno Declair u Und sie brechen das Brot und sie trinken meinen Wein .... Božidar Kocevski, Lisa Hrdina, Christoph Franken,
Maike Knirsch, Marcel Kohler im Auerhaus  © Arno Declair

Sie erzählen einander, wie es war. Nein, wie es ist. Denn auch wenn das Auerhaus – benannt nach dem Song Our House von Madness (1982) – in der Vergangenheit der 80er Jahre liegt, seine Bewohner*innen versprengt sind und einer gar unter die Erde, und das wird auch alles zugegeben – die gemeinsame Lebenserfahrung bleibt ihnen allen nah, so nah, dass das Auerhaus in der Erzählung wiederaufersteht. Diese Unmittelbarkeit ist höchst ansteckend, die Schauspieler*innen infizieren den Raum mit Gegenwart und erzählen sich manchmal so stürmisch sich in einen Stolz auf ihre Solidargemeinschaft hinein, dass sie rot werden müssten, wenn sie nicht Schauspieler wären.

Die eine Hälfte der Psychiatrie und die andere Hälfte

Wenn das Publikum nach der Pause wieder hereingebeten wird, dann nicht auf seine Plätze, sondern mit auf die Bühne zur Silvester-Party, die der rauschende Höhepunkt dieser utopie-autarken WG ist, die allerdings schon zuviel auf dem Buckel hat, um sich auf eine Weltverbesserungs-Mission verirren zu können. Feiern geht aber schon, und dieses eine Mal auch mit Gästen. Frieder hat die eine Hälfte der Psychiatrie eingeladen, Pauline die andere, Harry "sämtliche Schwule zwischen Paris und Stuttgart", und natürlich ist die ganze Oberstufe da. Diese ganzen Leute, das sind wir. Und wir dürfen uns solange am Glamour unserer Gastgeber wärmen, bis Frieders Stimmung kippt und er uns "nach Hause", also zurück auf unsere Plätze schickt. Andererseits: Wenn Frieders Stimmung nicht ab und zu kippen würde, dann gäbe es das Auerhaus gar nicht.

Auerhaus1 280 Arno Declair uHöppner und Frieder: Marcel Kohler und Christoph Franken  © Arno DeclairNachdem er zum ersten Mal versucht hatte sich umzubringen, ist Höppner mit ihm zusammengezogen, denn die Ärzte hatten Frieder davon abgeraten, weiter bei seiner Familie zu wohnen. Dazu kamen zuerst Höppners Freundin Vera, dann ihre Freundin Cäcilia als Anstands-Wauwau, dann Harry, der zwar offiziell schwul ist, aber dann doch vor Höppner mit Vera schlafen wird, und zum Schluss die makellos schöne Brandstifterin Pauline, die Frieder in der Psychiatrie aufgegabelt hat und die das Auerhaus als erste wieder verlassen wird, weil sie genauso sensibel doch nicht ganz so verloren wie Frieder ist.

"Ich bin satt. I am sad." sagt Frieder immer nach dem Essen, und seine Lebensmüdigkeit hängt als Damoklesschwert über dem Auerhaus, aber indem Frieder das so offen bestätigt, organisiert er auch den gemeinsamen Widerstand. Sie bauen genauso viel und noch ein bisschen mehr Scheiße als normale Jugendliche. Zum Soundtrack von Birth School Work Death von den Godfathers klauen sie wie die Raben, Christoph Franken als Frieder stopft sich die Ladung eines ganzen Supermarktwagens in einen gelben Regenponcho. Später entwendet er die Bundeswehr-Akte von Höppner, um ihm Freiheit zu schenken. Sie fuchteln mit einer Spielzeugpistole herum, erschießen ihre Schatten, nachdem sie sie Traurigkeit und Einsamkeit getauft haben. Später richtet Frieder die Spielzeugpistole auf einen Polizisten, und das Spiel fände beinahe ein vorzeitiges abruptes Ende.

Ich bist ins Du verwirrt

All das würde auf die Dauer nicht funktionieren, wenn sie ihrem Zusammenleben nicht auch eine Struktur geben würden. Die gemeinsamen Essen, die Gestaltung ihres Auerhauses übersetzen Nora Schlocker und ihr Team in eine Vielzahl an Kostümen, angefangen mit der riesigen Halskrause, die Frieder als Psychiatriepatient trägt. Bei seinem zweiten Auftritt hat er sie zum Eimer umfunktioniert und kippt daraus Erde ins Fundament des Hauses, das auf der Bühne nur ein Rechteck im Boden ist. Mehr Bebilderung braucht es nicht.

Bei der Party haben sie alle Blumenkränze auf den Köpfen, und Frieder trägt ein wallendes wild lila-grün-gemustertes Kleid. Normalerweise sind er und Höppner (Marcel Kohler) in Uniform, graue Jeans, weißes T-Shirt. Bei ihnen beiden wird am deutlichsten gemacht, was aber eigentlich auf alle zutrifft: wie ihre Biografien sich verstricken, wie sie im Aufeinander-Eingehen natürlich manchmal sich selbst mit dem anderen verwechseln – was zu Krisen führt, aus denen dann wieder nur die heraushelfen können, die sie ausgelöst haben. Entwirrung nicht möglich, das ist schon in der Erzählung von Bov Bjerg so, die aber in der multiperspektivisch aufgelösten Erzählung von Nora Schlocker noch mehr flirrt. Ein toller Theaterstoff, der ja schon Karriere macht auf den Spielplänen, und hier wird das Schönste aus ihm geschneidert.

Nach dem Ende ist im Foyer des Deutschen Theaters ein Weihnachtsbaumstumpf, wo vor dem Anfang noch ein ganzer Weihnachtsbaum irritierte. Frieder hat ihn gefällt, den Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz, und war für einen Moment ganz bei sich selbst, so hat er es in sein Tagebuch geschrieben, aus dem sein fassungsloser Vater bei seiner Beerdigung vorliest, nur um dann mit einem "Der Herr möge ihn strafen" den geordneten Rückzug anzutreten. Aber der Baumstumpf bleibt als Denkmal für Frieders Lebensmut. Man müsste Gewalt anwenden, um ihn für gescheitert zu erklären.

 

Auerhaus
nach dem Roman von Bov Bjerg, in einer Fassung von Nora Schlocker und Birgit Lengers
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Caroline Rössle Harper, Musik: Albrecht Dornauer, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Birgit Lengers.
Mit: Marcel Kohler, Christoph Franken, Maike Knirsch, Elena Schmidt, Lisa Hrdina, Božidar Kocevski.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Eine erstickend brave Adaption von Bov Bjergs Bestseller" hat Ulrich Seidler gesehen und schreibt in der Frankfurter Rundschau (23.5.2017): "In der Regie der 1983 in Tirol geborenen Nora Schlocker sind die Figuren ausgesprochen harmlos und eindimensional geraten, was sicher auch an dem toten Bühnenbild von Jessica Rockstroh liegt." Die Geschehnisse würden "episch abgearbeitet und in ordentlich absolvierten Spielskizzen illustriert". Es gebe zwar auch "schmerzlich echte Ohrfeigen, fett aufgetragenen Humor und viel Fleisch". Dennoch wirke das Ganze "nicht wie eine in Wirrnissen und über Abgründen zusammengeschweißte Gemeinschaft, sondern wie ein Deutschleistungskurs zum Thema: 'Traut euch mal was Verrücktes'", so Seidler: "Geeignet für Adoleszenten, die zum Selberlesen keinen Bock haben."

René Hamann schreibt in der taz (26.5.2017): Die Besetzung sei "gut ausgesucht" und dürfe in dem "sehr reduzierten Bühnensetting" von Jessica Rockstroh "brillieren", allen voran Christoph Franken als Frieder, der "hier vollen Körpereinsatz zeigt". Auch Marcel Kohler beweise, dass er "den jungen Mann in jeder Rolle zu spielen weiß". Der Regie von Nora Schlocker habe "wohl sehr daran" gelegen, möglichst wenig Zeitkolorit an den Start zu bringen, um "Anschlussfähigkeit jenseits von Nostalgieeffekten zu schaffen. Was nur bedingt funktioniert."

 

Kommentare  
Auerhaus, Berlin: Mehr davon
Angetan von Auerhaus? Ja, das trifft es. Ich habe am Sonntagabend ein wunderbares Stück Theater gesehen, eine starke Ensembleleistung dieser jungen DT-Generation und große Kunstfertigkeit in der Schauspielführung von Regisseurin Nora Schlocker. Beiläufige Komik, tragische Höhe, kluge Perspektivwechsel, wirklich berührend. Tolle Schauspieler allesamt, aber verneigen möchte man sich vor Christoph Franken, der hier mit nie gesehener Verletzlichkeit agiert. Mehr davon!
Auerhaus, Berlin: sehr spröde
Wie sooft bei Romanadaptionen stellt sich das grundsätzliche Problem: Wie soll man einen Text, der nicht für die Bühne geschrieben wurde, angemessen dramatisieren? Regisseurin Nora Schlocker und Birgit Lengers setzen in ihrer Fassung von Bov Bjergs Coming of Age-Bestseller „Auerhaus“, der im Winter 2015 vom Literarischen Quartett bejubelt wurde, auf das Atmosphärische statt einer Nacherzählung. Bis auf die Silvesterparty, in die das Publikum unmittelbar nach der Pause hineingerät, wählen sie bewusst sehr karge Mittel. Der Abend gerät deshalb allerdings sehr spröde und weist zu viele Längen auf. Leider wurde er noch kurz vor der Premiere von den angekündígten 135 Minuten auf 150 Minuten gestreckt.

Auf der Zielgeraden gibt es noch mal einen starken Moment, als Marcel Kohler in der Rolle des Höppner sich ausmalt, wie ein Happy-End aussehen könnte: glückliche Paarbeziehungen und erfolgreiche Karrieren in spannenden Berufen denkt er sich für seine neben ihm aufgereihten Mitbewohner aus, er selbst möchte am liebsten Hausmann sein. Im nächsten Moment landet er wieder in der tristen Realität.
Auerhaus, Berlin: eindringlich
Ein überraschender, guter Abend. Die artifizielle, fast puritanische Strenge von Bühne und Theatermitteln tut der Romanbearbeitung sehr gut, die hervorragenden Schauspieler zeigen die ganze Palette. Es ist witzig und leidenschaftlich, aber eben immer auch ernst. Im besten Sinne geht es um was, kein l'art pour l'art, keine beiläufige Coolness: eindringlich und bewegend. Spröde? Meinetwegen. Längen? Nein.

PS:
fun-fact am Rande: völlig unerwähnt bleibt in der nachtkritik der Cameoauftritt von Ulrich Matthes, der möglicherweise aus Versehen während der Partyszene nach der Pause ins Scheinwerferlicht geriet und dort für 5 Minuten in der Rolle 'Rotwild auf nächtlicher Landstraße' überzeugen konnte...
Auerhaus, Berlin: noch eine gute Kritik
Wo Seidler ein "totes Bühnenbild" zu sehen glaubt - vielleicht erschöpft vom tt17 und gorki-Premieren -, ist Thomas Blum (Neues Deutschland) höchst angetan vom offenen Raum: "Bei der nun in den DT-Kammerspielen zu sehenden Bühnenfassung von »Auerhaus« hat man erfreulicherweise der Versuchung widerstanden, die Fabel des Romans in biederer Form eins zu eins nachzuerzählen oder schlimmstenfalls gar in 80er-Jahre-nostalgischer Form auf die Bühne zu bringen, sie zu illustrieren wie eine sentimentale Coming-of-Age-Geschichte. Es ist kein gut gemeintes, pseudofreches, pädagogisches Ohnsorg-Theater für Jugendliche daraus geworden und auch kein postmodernes Castorfsches Zitatschnipselcollage- und Brülltheater. [...] Insbesondere das Bühnenbild, für dessen Kargheit und Simplizität man dankbar sein muss, weil auch dieses alle Aufmerksamkeit des Zuschauers ganz auf die Figuren und Dialoge lenkt, ist eine gelungene Allegorie auf die Ödnis und Tristesse unserer traurigen Realität: Eine Bühnenrückwand sehen wir, und einen schwarzen Fußboden. Das muss reichen." (Kritik: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1051817.bundeswehr-heirat-sparkasse.html). Wieder ein Beweis, dass man sich am besten selber ein Bild macht.
Auerhaus, Berlin: Hinweis
- und noch eine gute Kritik:
https://theaterkritikenberlin.wordpress.com/2017/05/23/auerhaus-nach-dem-roman-von-bov-bjerg/#more-544
Auerhaus, Berlin: Ton verloren gegangen
@dabeigewesen: Ihre Beschreibung "artifizelle, fast puritanische Strenge" gefällt mir sehr gut. Mit diesem Konzept polarisiert der Abend auch sehr stark, wie in den bisherigen Kritiken nachzulesen ist.

Zum Stichwort "witzig": Mir fehlte an dem Abend der lakonische, feine Humor aus Bov Bjergs Texten, wie er z.B. beim "Jahresendzeitprogramm" regelmäßig zu erleben ist. Dieser besondere Ton aus seinen Kurzgeschichten ist sicher nur ganz schwer auf der Bühne nachzuahmen, ging aber in der "Auerhaus"-Inszenierung aus meiner Sicht verloren.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/05/22/auerhaus-am-deutschen-theater-sproede-adaption-eines-coming-of-age-romans/
Auerhaus, Berlin: sprunghaft
Auerhaus will nicht linear nacherzählen, sonder nachempfinden. Der Abend ist so sprunghaft wie die jugendliche Selbsterfahrung. Albernheit und existenzielle Verzweiflung, Euphorie und Resignation, ausgelassenes Spiel und Verlorenheit – sie liegen schmerzvoll nah zusammen, treffen sich immer wieder im gleichen Satz, lassen sich hier so wenig trennen, wie sie es in der Realität tun. Nora Schlockers Inszenierung will die Zerrissenheit, die Abenteuer ist, das Gefühl des Aufbruchs, die Neugier, die so schnell umschlagen kann in Todessehnsucht spürbar, fühlbar, erlebbar machen, den Zuschauer als Komplizen gewinnen. Sie bringt sie nahe, diese Verlierer und Außenseiter und Gescheiterten, die so „normal“ und so „besonders“. Dass der Roman in den 1980er-Jahren spiel, interessiert die Regisseurin nicht, ihr geht es um das Universelle, darum, dieses Gefühl der unbändigen Hoffnung, des „Alles ist möglich“ greifbar zu machen, Bühne und Zuschauerraum damit zu erfüllen, so sehr, dass es bleibt, dass das Licht nie ganz ausgeht, auch wenn am Ende die Gemeinschaft zerbricht, einer stirbt, eine andere die Gruppe verrät, eine dritte im Gefängnis landet und Höppner, durchs Abitur gerasselt und vor der Bundeswehr nach Berlin geflohen (soviel 80er muss dann schon sein), mit Toten spricht. Such das ist Leben und das feiert dieser Abend so kompromisslos wie berührend. Ohne große Geste, fast beiläufig. Auch darin liegt seine Größe.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/05/25/krabbelgruppe-des-erwachsenwerdens/
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