Theater der Welt

Die Gabe der Kinder – Lemi Ponifasio eröffnet das Festival "Theater der Welt" mit rituellen Waschungen

Kult statt Verstand

von Thomas Rothschild

Hamburg, 25. Mai 2017. Das kann passieren, wenn ein Festival nicht fertige Produktionen einkauft, sondern selbst etwas in die Wege leitet, was zuvor nicht vorhanden war. Weil sich in Hamburg für das Projekt "Children of Gods" nicht genügend Sängerinnen und Sänger fanden, wurde die Konzeption kurzerhand verändert und umbenannt. Sie heißt nun "Die Gabe der Kinder". Nach wie vor sollte es freilich um Kinder gehen, denen, zumal in Kriegsregionen, Gewalt angetan wird, und da das dem Bühnengeschehen ohne eine Erklärung nicht unmittelbar abzulesen ist, kommt es auf den Titel auch nicht an.

"Die Gabe der Kinder" von Lemi Ponifasio, mit dem, parallel zu Tianzhuo Chens "Ishvara", das Theater der Welt in Hamburg eröffnet wurde, kann als programmatisches Bekenntnis der im Schnitt alle drei Jahre stattfindenden Großveranstaltung verstanden werden: Jenseits des Sprechtheaters widmet es sich, mittels eines Welttheaters, das den Gegensatz von Eurozentrismus und importiertem außereuropäischem Exotismus durch ein echtes Konglomerat aus Elementen unterschiedlicher Kulturen ersetzt, einem ebenso politischen wie aktuellen Thema. Und zwar nicht in einem der etablierten Häuser des Festivals, dem Thalia Theater oder dem Kampnagelgelände, sondern in dem eigens für die Inszenierung adaptierten Kakaospeicher auf dem Baakenhöft, einer 9000 m² großen Halle mit jener Schäbigkeit, die den Verdacht bürgerlichen Bildungstheaters gar nicht erst aufkommen lässt.

DieGabeDerKinder3 560 Kirsten Behrendt uEin Kakaospeicher für die Kunst © Kirsten Behrendt

Lemi Ponifasio und sein Ensemble MAU aus Samoa sind bei Festivals gern gesehen und kommen nicht zum ersten Mal zum Theater der Welt. Sie waren 2005 in Stuttgart und 2010 in Essen schon dabei. Diesmal beginnt es mit sieben Frauen in langen schwarzen Kleidern, die langsam von ganz hinten nach vorne schreiten. Litaneihaft singen sie eine Melodie, die aus drei Tönen besteht und deren Text man mangels Übertitelung nicht versteht, wohl auch nicht verstehen muss.

Auf dem Rückweg nach hinten schließen die Frauen auf, umfassen sich und beginnen einen anhaltenden Schreittanz von faszinierender Schönheit. Nach einem kehligen Gesangssolo zur in Schulterhöhe geschlagenen Trommel betritt eine Prozession von jungen Frauen und Männern in Alltagskleidung von der Zuschauertribüne her die riesige Bühne. Sie verschwindet im Hintergrund, während eine Frau in hellgrauem Trainingsanzug und mit einem Stock vor dem schwarz, vereinzelt auch grau gekleideten Ensemble nach vorne kommt und schreiend einen rituellen Tanz vollführt.

Sakrale Atmosphäre

Eine andere Frau kniet vor einem Schaffel nieder und wäscht ihr Gesicht mit Blut. Dann legt sie sich, wie tot, auf den Rücken. Der "Chor" folgt ihrem Beispiel, während der Gesang, losgelöst von den Darstellern, aus den Boxen ertönt. Ein Mann gießt Wasser über die liegende Frau – eine Reminiszenz an die Taufe? –, sie erhebt sich und gießt sich selbst Wasser über das Gesicht, das das Blut entfernt. Der Chor holt überdimensionierte Flaschen, die von Anfang an am Rand der Spielfläche standen, und vergießt in choreographiertem Parallelismus Wasser. Eine Metapher für vergossene Tränen? Kann, muss aber nicht sein. Dieses Theater erklärt nicht, sondern raunt.

Dann erstrahlt im Hintergrund grelles Licht und man würde sich nicht sonderlich wundern, wenn der Heilige Geist von oben herab stiege. Stattdessen treten weitere Statisten auf und ersparen einem nicht den peinlichen Ausdruck, der verrät, wie schrecklich ernst sie sich nehmen. Sie befeuchten ihre Hände mit dem Wasser, das auf dem Boden stehen blieb, und wischen ihre Gesichter wie in einer frommen Geste ab.

DieGabeDerKinder2 560 Kirsten Behrendt uRaunende Schatten © Kirsten Behrendt

Musikalisch mündet der Abend in das "Credo", den zweiten Teil des Musiktheaterwerks "Apocalypsis" von R. Murray Schafer, dem Erfinder der "Soundscape", das der 1933 geborene, vielfach ausgezeichnete kanadische Komponist 1980 bereits in Zusammenarbeit mit Lemi Ponifasio für ein monumentales Ensemble mit mehreren Chören erarbeitet hat. Der Text des "Credos" basiert auf Giordano Brunos "De la causa, principio et uno" von 1584, in dem Gott mit dem Universum identifiziert wird und das aus einer Serie von Paradoxen besteht.

Theater als Ritus

Das Theater ist, nach allem, was wir wissen, aus religiösen Ritualen entstanden. Immer wieder macht es Anstalten, dorthin zurückzukehren. Das kann formal anregend sein, muss aber ideologisch nicht jedem gefallen. Kult statt Verstand ist nicht nach jedermanns (und jederfraus) Geschmack. Ponifasios gigantomanisches Überwältigungstheater ist, kritisch betrachtet, ein bisschen Thingspiel, dessen mystischer Einschlag durch Schafer, der unter diesem Aspekt dem zwei Jahre jüngeren Arvo Pärt ähnelt, verstärkt wird. Und vorübergehend fragt man sich, ob sich für die Trauer über Kinder, denen Gewalt angetan wurde, wirklich keine anderen ästhetischen Mittel finden lassen als für die inszenierte Trauer über den Tod von Horst Wessel. Zum Glück endet der Abend im Hamburger Hafen nicht mit Tschinbum und Verklärung, sondern mit dem leisen Gesang der acht Frauen aus Samoa. Ihnen würde man gerne noch länger zuhören.

 

Die Gabe der Kinder
Weltpremiere
Konzept, Regie, Choreographie, Bühne, Kostüme: Lemi Ponifasio, Musik: R. Murray Schafer, MAU, Licht Design: Helen Todd.
Mit: Gabriela Arancibia, Rosie TeRauawhea Belvie, Kasina Campbell, Elisa Avendaño Curaqueo, Te Riina Kapea, Ria Te Uira Paki, Kahumako Rameka, Manuao Ross, Delicia Sampero, Hamburger Kindern und Jugendlichen, Performern der HipHop Academy und Sängern des Projektchores.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.theaterderwelt.de

 

Mehr dazu: Im Juni gab es im Kulturpalast auf 3sat Bilder von Lemi Ponifasio und seiner Arbeit bei Theater der Welt zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Der Abend grenze in seiner Simplizität an Banalität. Ponifasio scheine bei diesem Projekt nicht besonders inspiriert gewesen zu sein, schreibt Anke Dürr von Spiegel Online (26.5.2017). Dürr bedauert ferner, dass Schafers 'Apocalypsis' nicht live gespielt werden konnte, weil man die erforderliche Anzahl an Sängern und Musikern nicht auftreiben konnte. "Was für eine Wucht sich entfaltet hätte, wenn die choralartigen Gesänge live erklungen wären!" So komme die Musik nun vom Band und der Chor stehe dekorativ in der imposanten Halle rum.

Susanne Burkhardt, André Mumot und Elisabeth Nehring sprechen in der Sondersendung von Fazit (ab Minute 28:40) auf Deutschlandfunk Kultur (25.5.2017) auch über die "sehr interessante" Produktion "Die Gabe der Kinder". Sie sind genauso enttäuscht wie die Kollegin vom Spiegel.

"Kein Theater – nein, eine Zeremonie", sei diese Arbeit erklärtermaßen, berichtet Peter Helling vom NDR (26.5.2017). "Und genau das ist das Problem des Abends: Er erstickt an seiner Heiligkeit." Und er wirft für den Kritiker Fragen auf: Warum werde "der echte, sehr schöne Gesang plötzlich zugekleistert" von "kitschigen Chorklängen aus der Konserve". Und: Warum "müssen die Kinder stumm bleiben? Die Regie macht sie zu einer gesichtslosen Masse."

Die Autor*innen der Welt (26.5.2017) Monika Nellissen und Stefan Grund "langweilte" Ponifasio "gründlich", als er "rund 60 Jugendliche und etwa 140 Erwachsene etwa anderthalb Stunden lang gemessen durch den Kakaospeicher schreiten ließ".

Ein "gewaltiges musiktheatrales Transformationsritual" hat Robert Matthies von der taz (27.5.2017) bei Lemi Ponifasio erlebt. Der Protagonist der Arbeit sei "die riesige Halle selbst": „Wie in Zeitlupe durchschreiten dunkel gewandete Gestalten anderthalb Stunden lang den Raum, kippen wie in einem archaischen Ritual irgendwann Wasser auf den staubigen Boden, spielt die Inszenierung geschickt mit den Lichtverhältnissen, während draußen langsam die Sonne untergeht. Darin ein optimistisches Zeichen in düsteren Zeiten zu erkennen, fällt schwer."

"Der Ritus-Schmalz sieht im Schlussbild aus wie Riefenstahl für den Kinderkanal, ein Reichsparteitag für Eso-Quark", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (29.5.2017). "Vielleicht sind die NS-Propagandabilder von Massenaufmärschen bei Flakbeleuchtung noch nicht bis ins idyllische Samoa gedrungen, wo man ja mehr mit dem steigenden Meeresspiegel zu tun hat. Aber wie man diesen dröhnenden Pathoskitsch für eine 'wegweisende Leistung des Welttheaters' halten kann, bleibt das Geheimnis der vier Kuratoren von Kampnagel und Thalia Theater, die das Festival ausrichten."