Arbeit für'n Arsch

von Christian Rakow

Hamburg, 27. Mai 2017. Wozu eigentlich dieses verdruckste Reden von "unterprivilegierten Schichten" oder "den sozial schlechter Gestellten"?  Dank Kornél Mundruczó wissen wir wieder, wie es am unteren Ende der Wohlstandsskala wirklich ausschaut: Lumpen sind's, Pauper! Typen in Baseball-Jacken lungern umher und stammeln sich eins, dass man froh ist, dass ihre wortähnlichen Rülpser geflissentlich übertitelt werden.

Vater Baumert (Matthias Leja) kommt nach Hause, will erst mal Mutter (Marie Löcker) vergewaltigen, hat dann aber Hunger. Nur gibt’s hier nichts, in diesem Loch. Und der Dreckshund von Köter hat auch noch vom Müll genascht. Scheißvieh. Muss dran glauben. Vater schlägt's tot und weidet es aus, will's roh verspeisen. Mutter: "Komm, lass es mich wenigstens anbraten." Sohnemann, noch unter Tränen über den Verlust des Haustiers, wird gezwungen auch zuzulangen. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt.

Gierige Kapitalisten

Nur gerecht, dass es ein Stockwerk höher in der Edelboutique des Unternehmers Dreissiger auch nicht besser läuft: Hier säuft man Champagner in rauen Mengen, wummert sich Opernmusik per Kopfhörer auf die Ohnmuschel. Wenn der Weberaufstand ausbricht, klaubt Dreissiger (Bernd Grawert) eilig seine Goldbarren zusammen, stopft sie der Gattin (wiederum: Marie Löcker) in die Unterhose. In selbige Unterhose, von der eben noch der Haushund das zwischen die Beine gestrichene Nutella abschleckte. Die Diamanten aus dem Tresor werden kurzerhand geschluckt oder, der derbe Ausdruck muss erlaubt sein, in den Arsch geschoben. Oh Mensch, Dein Name sei Vieh.

Weber0011 560 Krafft Angerer uAm Rande des Nervenzusammenbruchs: Bernd Grawert, Marie Löcker © Krafft Angerer

Als Gerhart Hauptmann "Die Weber" 1892 in Berlin herausbrachte, lag der darin thematisierte schlesische Weberaufstand schon ein halbes Jahrhundert zurück und mit ihm das Strukturproblem: der Wegfall der Hausindustrie unter dem Druck der Industrialisierung und die daraus resultierende Pauperisierung der Weber. Seither waren die ersten Sozialgesetze auf den Weg gebracht worden. Das Drama, wenngleich von Hauptmann nicht zu politischen Zwecken intendiert, hielt weiterhin ein veritables Zorn-Reservoire vor und die Kraft der sozialdemokratischen Drohgebärde, ohne die sich der Boden für soziale Reformen kaum bestellen ließ.

Armut – made in Germany

Das Ringen um sozialen Ausgleich hat nichts an Aktualität eingebüßt. Zumal in einer Zeit wie unserer, da die Reallöhne trotz hoher Produktivität für weite Teile der Arbeitnehmerschaft rückläufig sind. Aber der Konflikt des Hauptmann-Textes muss womöglich doch anders übersetzt werden. Man mag Mundruczó zugute halten, dass er nicht ins Ungefähre ausweicht und für seine prononcierte Aktualisierung der "Weber" nicht etwa nach Bangladesch blickt (wohin die Textilindustrie mitsamt der "sozialen Frage" ausgewandert ist). Sein Versuch der lokalen Verortung der Probleme hat durchaus etwas für sich. Zumindest der Idee nach.

Aber dann blickt man in Dreissigers "Concept Shop" Marke Jungfernstieg und sieht den wunderbaren Jörg Pohl schauspielerisch komplett unterfordert als Vorstadtrüpel Moritz Bäcker umhermaulen und denkt sich: Nee, so auf primitiv gebürstet geht’s nun nicht mehr. Wenn's denn einen Tick mehr surrealen Witz hätte, dann meinetwegen. Aber der Abend giert – wie eigentlich immer bei Mundruczó – nach kernigem Naturalismus.

Weber0001 560 Krafft Angerer uIm Keller des Bühnenbilds von Márton Ágh © Krafft Angerer

Mundruczó legt "Die Weber" (teilweise in Neudichtung von Kata Wéber) als Wimmelbild an: Im Keller der zweigeschossigen, sagenhaft luxuriösen Bühne von Márton Ágh wuseln Kinderdarsteller als ausgebeutete Nähwerkstattgehilfen, und die Thalia-Ensemble-Recken darben im Hungermodus, lechzend nach einer Spielidee, die sie über das Niveau einer lumpenproletarischen Konfektions-Puppe heben könnte. Im Obergeschoss perlt der Veuve Clicquot, bis im Finale die Säulen und Designer-Schaukästen dekorativ einstürzen und der weiße Marmor bröckelt. Dazu trommeln sich die Weber-Kinder samt Jörg Pohl eins auf ihren Schlagzeugen: Die dräuenden Beats ersetzen das legendäre Weberlied "Das Blutgericht".

Einige Zuschauer streiken

Es wäre jetzt länger zu berichten, über die Drastik, mit der Mundruczó glaubt, seinen Naturalismus zu vertiefen, über vereinzelte filmische Sequenzen, die ein bisschen nach Fernsehspiel auf Abwegen aussehen (würde Bernd Grawert das Ganze nicht hier und da mit lauerndem Witz unterwandern), über das Fiepen und Hämmern und Krachen aus den Lautsprechern, das so schön die Nerven strapazieren wollte, und hier und da gelang es sogar und manches Paar verließ den Saal –  und natürlich über die vereinzelten Buhs und Bravos beim Schlussapplaus. Das alles wäre zu berichten, würde das nicht eine Schärfe vortäuschen, die der so oft unfreiwillig komische Abend eigentlich nicht hatte. Wie sagte jemand aus den hinteren Reihen in einen Moment der Stille zwischen zwei Soundorgien hinein: "Ach ja."

 

Die Weber
nach Gerhart Hauptmann
Regie: Kornél Mundruczó, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Bühne: Márton Ágh, Musik:
János Szemenyei, Dramaturgie: Sandra Küpper, Kata Wéber, Gábor Thury, Live-Musik, Orchesterleitung: Lisa Wilhelm.
Mit: Bernd Grawert, Matthias Leja, Marie Löcker, Oliver Mallison, Axel Olsson, Jörg Pohl, Victoria Trauttmansdorff, Leonie Wesselow, Yasmin Saleh, Lars Hanebutte, Mr. You. Kinderdarsteller: Torben Borzym, Goya Brunnert, Friedrich Bunce, Anton Fries, Benni Gurvitch, Esben Kukla, Nic Lehne, Felix Langenfelder, Till Meyer, Iven Radeke, Mila Radeke, David Reckling, Noam Vennebusch, Clara Wolf, Oscar Mats Zickur.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

Eine Produktion im Rahmen des Festivals "Theater der Welt"

www.thalia-theater.de
www.theaterderwelt.de

 

Bilder der Inszenierung gab es im NDR.

 

Kritikenrundschau

Die Schauspieler vernuschelten den Text wie eine ferne Sprache, "die Worte und Sätze laufen über der Szenerie als Obertitel wie bei einem fremdsprachigen Film", so Werner Theurich auf Spiegel Online (28.5.2017). "Das erzeugt eine metasprachliche Ebene, die die Vergangenheit der historischen Weber-Aufstände mit der Gegenwart der Ausbeutung in der Dritten Welt sinnfällig klammert." Mundruczó versuche so Historie und Gegenwart eng zu verzahnen. Langweilig sei der Abend nicht, aber doch durchgängig plakativ. "Natürlich kann man die 'Weber' nicht mehr 'vom Blatt' spielen, aber Mundruczós schlanke und ambitionierte Version demonstriert auch eindrücklich, dass durch das allzu Offensichtliche kein Erkenntnisgewinn mehr zu erzielen ist."

Die Bilder dieses Abends bleiben für Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (29.5.2017) "mal durchaus gelungene, mal weniger geglückte Assoziationsflächen"; dem Text von Hauptmann scheine Mundruczó zu misstrauen. "Auch wenn viele Szenen, gerade jene mit den erstaunlich sicheren Kindern und Jugendlichen berühren, der Transfer der Arbeitswelt des 'alten Europa' in die gegenwärtige, globalisierte Konsumwelt bleibt eindimensional."

Mundruczó bringe Hauptmanns Drama "als plattes soziales Lehrstück auf die Bühne", berichtet Heide Soltau für den NDR (28.5.2017). "Drastisch und holzschnittartig" erzähle der Regisseur; man bestaune "die Bühne von Márten Ágh und seine Liebe zum Detail, aber die Figuren bleiben Typen".

"Effektdichte sehr hoch, Botschaft sehr schlicht", befindet Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (29.5.2017). Zwischen asiatischem Sweatshop und deutschem Concept Store "wird sehr plakativ, mit vielen Kindern und getrommelten Märschen, Klassenkampf in seinen emotionalen Hauptstadien rekonstruiert. Verzweiflung gegen Hochmut, Hunger gegen Dekadenz, revolutionäre Euphorie gegen kapitalistisches Schissertum – bis die tollen Räume von Mundruczós Szenografen Marton Ágh krachend zusammenstürzen."

 

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