(K)ein Ende des Nomadentums

von Astrid Kaminski und Elena Philipp

Berlin, 29. Mai 2017. Tanz: der einen Frust, der anderen Lust? Oder: Liegt da gerade ein Theater im Sterben und ersteht als Tanzhaus wieder auf? Chris Dercon, ein tanzzugewandter Intendant, zwei Haus-Choreograph*innen (Mette Ingvartsen, Boris Charmatz), neun von 16 Spielzeit-Produktionen mit Tanzhintergrund: Wie reagiert die Tanzszene eigentlich auf das neue Programm der Volksbühne Berlin? Gleich mal vorweg: Orchestrierter Jubel sieht anders aus.

Wie? Wird hier nicht eine bislang zum Arbeiten auf Projektniveau verdammte und kulturpolitisch oft randständig behandelte Sparte enorm aufgewertet? Ganz so einfach ist es nicht. Abgesehen von der Resignation von Tanzvertreter*innen in Bezug auf den Neuheitswert des vorgestellten Programms steht der Fall Volksbühne momentan weniger für eine Stärkung des kulturpolitischen Anliegens der Szene als für die Angst, hier ein Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn auch wenn an der Volksbühne nun bald wieder mehr getanzt wird, gibt es, trotz mehr als 20-jähriger Bemühungen, eines in Berlin noch nicht: ein Haus für den zeitgenössischen Tanz. Im Verhältnis zu drei Opern (mit einem Ballett) und (bislang) fünf Sprechtheatern ein klares Defizit. Im Vergleich: Nordrhein-Westfalen bekennt sich mit dem tanzhaus nrw, PACT Zollverein und dem geplanten Pina Bausch Zentrum bereits zu drei Tanzspielstätten.

Mehrmals versuchte Tanzhaus-Gründung in Berlin

Erst vor drei Wochen trugen Tanzvertreter*innen auf Einladung des Berliner Kulturausschusses ihre Pläne ein weiteres Mal vor. Die Politik zeigte sich durchaus aufgeschlossen gegenüber der vielfältigen und international erfolgreichen Berliner Szene. Trotzdem könnte das Argumentieren für ein Tanzhaus in der jetzigen Konstellation schwieriger werden, meint Simone Willeit, Co-Geschäftsführerin der Weddinger Uferstudios und bis vor einem Jahr Leiterin des Tanzbüros. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Zeichen für ein Tanzhaus günstig stehen, vor dem definitiven Schritt jedoch ein Rückzieher gemacht wird. An Verhandlungen zu einem Tanzhaus im Schiller Theater in den später 1990ern und an Konzepte für das Haus der Berliner Festspiele zur Jahrtausendwende erinnert sich die rege Strukturlobbyistin und ehemalige Leiterin des Hebbel-Theaters, Nele Hertling. Bekanntlich wurde nichts daraus.

Boris Charmatz danse de nuit 560 Boris Brussey"Danse de Nuit" von Boris Charmatz läuft im Eröffnungsreigen der Volksbühne Berlin unter Chris Dercon im Herbst 2017 © Boris Brussey

Einen neuerlichen Versuch zur Gründung eines Tanzhauses startete die Szene, als mit den ersten Absolvent*innen des hochschulübergreifenden Zentrums Tanz der Bedarf an Produktionsmöglichkeiten noch eklatanter wurde. Die Volksbühne – wegen des Fehlens unterschiedlich großer und räumlich flexibler (Probe-)Bühnen an sich absolut kein idealer Tanzort – kam aufgrund eines möglichen Intendanzwechsels noch zu Zeiten des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit ins Gespräch. Tanz war am Rosa-Luxemburg-Platz mit Johann Kresnik oder Meg Stuart unter Frank Castorf zuvor durchaus prominent vertreten. Wowereits Kulturstaatssekretär André Schmitz aber lehnte die Volksbühne als zu sehr mit der Sprechtheatertradition verbundenen Ort ab. Das Gleiche geschah noch ein Mal in der kurzen Amtszeit von Tim Renner; der griff zu Chris Dercon.

Die Volksbühne als Tanzhaus durch die Hintertür?

Wird die Volksbühne nun ein Ersatzkonstrukt, das dem Berliner Anliegen gewissermaßen zum Eingang durch die Hintertür verhilft? Diese Möglichkeit räumt Boris Charmatz als assoziierter Künstler*, dem die Tanzszene nach seiner Ernennung die Tür einlief, so klar wie problembewusst aus: "Ich denke nicht, dass Chris Dercon oder ich beauftragt wurden, eine Infrastruktur für den Tanz zu schaffen. Aber ich verstehe die Kritik am Verlust des früheren Theatermodells ebenso wie das Fehlen eines Tanzhauses und den Wunsch nach Unterstützung für Berliner Kompanien. Die neue Volksbühne wird mehr Tanz in ihre DNA aufnehmen, aber sie kann nicht alle offenen Fragen der Berliner Tänzer*innen beantworten."

Boris Charmatz 560 Ursula KaufmannDer gebürtige Franzose Boris Charmatz wird Hauschoreograph der Volksbühne Berlin ab 2017/18
© Ursula Kaufmann

Damit spricht Charmatz an, was auch Konsens vieler Szene-Vertreter*innen ist: Das Problem Berlins ist nicht nur der fehlende Produktions- und Aufführungsort mit Tanzböden, Gewerken und einer der Vielfalt der Szenen angepassten modularen Architektur, sondern vor allem die mangelhafte Unterstützung möglicher Produktionsorte und Künstler*innen durch den Senat. Annemie Vanackere hat dieses Manko seit ihrem Intendanzantritt am HAU Hebbel am Ufer vor fünf Jahren vehement thematisiert. Peter Pleyer, früherer Leiter der Tanztage an den Sophiensaelen und gefragter Chronist der jüngeren Tanzgeschichte, macht die Situation durch den Vergleich mit deutschen Nachbarländern noch deutlicher: "Nicht ein*e Tanzschaffende*r wurde in Berlin so aufgebaut wie in Belgien Anne Teresa de Keersmaeker", betont der Choreograph*.

Nur nachhaltige Förderung bringt Größe

Hierin liegt mit auch ein Grund, warum die Berliner Szene bislang so gut wie gar nicht an Dercons Volksbühne vertreten ist: Der Hauptstadttanz wird bislang größtenteils in kostengünstigeren, kleinen Formaten produziert – Choreograph*innen und Ensembles, die für eine große Bühne denken und ein mit unterschiedlichen Gewerken ausgestattetes Haus "bedienen" wollen und können wie etwa Constanza Macras, Isabelle Schad oder Christoph Winkler, Meg Stuart, Sasha Waltz fallen nicht vom Himmel. Aufgebaut werden müssen sie strukturell und gezielt, mit Förderungen über mehrere Jahre hinweg. Sonst bleibe eben, meint Peter Pleyer, nur das Zurückgreifen auf Angebote von anderswo. Wie man Tanzszenen fördert, das habe in den 1980ern in Frankreich der föderale Kulturminister Jack Lang gezeigt, auf den die dortigen 19 Tanzhäuser zurückgehen. Eines davon leitet seit sieben Jahren Boris Charmatz. Ende 2018 wird er sein Soll erfüllt haben und die Leitung des choreographischen Zentrums in Rennes abgeben.

the ghosts2 560 thomasaurin uZuletzt an der Berliner Schaubühne aktiv, jetzt wieder ohne feste Spielstätte: die Choreographin Constanza Macras und ihre Kompagnie Dorky Park hier mit "Ghosts" (2015) © Thomas Aurin

Auch Belgien, wo Mette Ingvartsen sich – als Dänin – etablieren konnte, entschloss sich in den 1990er Jahren ähnlich resolut wie Frankreich zum Aufbau der Tanzszene. Freie Spielstätten wie das Kaaitheater sowie freie Gruppen wurden in eine vierjährige Förderstruktur aufgenommen. Dieser Schachzug kam nicht nur Anne Teresa de Keersmaeker zugute, sondern auch Alain Platel, Jan Fabre, Wim Vandekeybus oder Jan Lauwers – Künstler*innen, die hierzulande noch immer regelmäßig gastieren. Die Ironie der Geschichte: Nun, da die Belgisch-Internationalen sich über die allerorten grassierende Festivalitis finanzieren, lassen die Flamen ihre exzeptionelle Tanzlandschaft verdorren – ein Vorzeigebeispiel dafür, was passiert, wenn europäische Kulturpolitik sich auf die Förderung von Durchlauferhitzern spezialisiert und lokale Infrastrukturen und Entwicklungen abgewertet werden. Für diesen Kurzschluss, der den Tanz besonders dramatisch trifft, scheint nun leider die Volksbühne zum Symbol zu werden. Das Schimpfen der Theaterkolleg*innen, welche die Vokabeln Tanz und Eventisierung im selben Atemzug fallen lassen, macht also in dieser Hinsicht durchaus Sinn, auch wenn es künstlerisch nicht begründet ist.

Ortlos-nomadische Berliner Tanzschaffende

Zweifelsfrei in die obere Liga europäischer Tanz- und Performancekunst gehören die nun an der Volksbühne präsentierten Tanzschaffenden Mette Ingvartsen, Boris Charmatz, Jérôme Bel oder Anne Teresa de Keersmaeker. Das haben andere Häuser in Berlin allerdings lange vorher festgestellt und für Gastspiele gesorgt, allen voran das HAU und die Berliner Festspiele. Ironischerweise sind diese international erfolgreichen Künstler*innen damit in Berlin fast schon zu präsent. Für lokal ansässige Choreograph*innen bleiben also prozentual noch weniger von den ohnehin raren Aufführungsterminen für Tanz auf Mehrspartenbühnen wie den Sophiensaelen oder dem HAU.

Mette Ingvartsen 280h Danny WillemsMette Ingvartsen, Hauschoreographin der Volksbühne Berlin ab 2017/18 © Danny WillemsNun ist die Volksbühne kein Szenedienstleister, aber als neues Mehrspartenhaus wäre es doch konsequent gewesen, bewusster an die Ästhetiken vor Ort anzuschließen, Künstler*innen aufzubauen und mit Vertreter*innen der Szene ins Gespräch zu kommen. Guter Stil gewesen wäre es ohnehin. Der von vielen Seiten bestätigte Kontaktverzicht wundert bei der Tanzvorliebe von Dercon/Piekenbrock dann doch. Gerade die in der Programm-Pressekonferenz angesprochenen Themen – ein auf poststrukturalistischem Denken aufbauendes Interesse an Gemeinschafts- und Raumexperimenten, an Feminismus, Ritualkunde und Neuem Materialismus, kurz gesagt, an einer nicht-hierarchischen Verhandlung von Welt – sind in der Berliner Tanz- und Performanceszene so ausziseliert wie derzeit kaum anderswo.

Jeremy Wade hat das Berliner Queering mitinitiiert, Schubot/Gradinger sind Ritualexperten, Kat Válastur trainiert die Körper des Anthropozän, Gintersdorfer/Klaßen arbeiten sich am Postkolonialismus ab, Claire Vivianne Sobottke filtert die Feministen-Szene, Peter Pleyer arbeitet neuere Tanzgeschichte auf, usw. – einen Venedig-Pavillon würde, mit ein bisschen Vorlauf, vermutlich jede*r einzelne von ihnen stemmen, zusammen ginge es aus dem Handgelenk. Ein kraftvoller Protagonist wie Tino Sehgal, der es geschafft hat, den ästhetischen Diskurs der seit der Wende boomenden internationalen Berliner Szene und ihrer Performer*innen zu vermarkten und der für Chris Dercon die Volksbühne eröffnen wird, steht mitnichten allein auf weiter Flur.

 

KaminskiAElena PhilippAstrid Kaminski (l.), freie Publizistin, schreibt über Tanz, Performance, Gesellschaftspolitik u.a. für taz, FAZ, DW.
Elena Philipp (r.), Redakteurin von nachtkritik.de und tanzraumberlin, schreibt u.a. für tanz und Berliner Morgenpost.

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