Der Mensch, oh je

von Ralph Gambihler

Magdeburg, 24. Mai 2008. Ein "Volksstück" hat Ödön von Horváth seine traurige Geschichte vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Büromaus Karoline im Untertitel genannt. Das war alles andere als ein modisches Lippenbekenntnis an seine Zeit, sondern wirkliche Programmatik. Horváth wollte die Sorgen der einfachen Menschen zeigen. Ein Kleinbürgertheater sollte es sein, bodenständig und unheimlich.

In Magdeburg ist es mit dem Volk nun so eine Sache. Man könnte fast meinen, es existiere gar nicht mehr. Es hat sich nämlich sehr weit von sich selbst entfernt, noch weiter als damals, in der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre, als Stück entstand. Schwer vorstellbar, dass diese Horváth-Menschen noch Transparente hoch halten und "Wir sind das Volk!" skandieren würden. Wozu sollten sie auch, wo ihnen der Untertitel doch erspart geblieben ist?

Die Geister der Popkultur gehen um

Dafür sehen wir auf der zunächst fast leeren, dann mit Bierbänken und -tischen gefluteten Bühne von Uta Materne ein neues Volk. Dessen Mitglieder sind tendenziell gut angezogen und führen ein, sagen wir, elementar gestörtes Dasein zwischen Posen, Gesten und Stereotypen aller Art. Wo es bei Horváth das Verbale ist, in dem sich die Menschen selber verlieren, weil die Wörter den Gedanken und Gefühlen nicht mehr entsprechen, kommt nun das gesamte Repertoire der habituellen Auftrumpfung und Selbstvermarktung hinzu. Jeder Satz ist ein Ereignis, jeder Auftritt eine Show. Einfach nur herein kommt hier keiner.

Die Geister der Popkultur gehen also um in der Magdeburger Version der Horváthschen Oktoberfest-Ballade. Der Mensch, oh je. Er ist ein Abklatsch, ein Klon aus der Seifenoper, ein spaßgesellschaftlicher Zitateverhau auf zwei Beinen. So viel geklaute Kleinbürgerverhehlung war selten. Freilich: Man kennt die Töne. Es ist das alte Lied der Entfremdung, das die junge Regisseurin Julia Hölscher anstimmt und kräftig überhöht, bis ins Groteske und Farcenhafte hinein.

Die Figuren vertragen den markigen Zugriff nicht ohne weiteres. In einigen Fällen schrumpfen sie zur bloßen Karikatur. Rauch und Speer zum Beispiel, die alten Geldsäcke auf der Suche nach Frischfleisch, die mit Eddie Irle und Jochen Gehle um eine Generation verjüngt besetzt wurden, hätte man gleich ein Schild mit der Aufschrift "Knallcharge" um den Hals hängen können. Als burschenschaftliches Rittmeister-Gezücht von der ganz fiesen Sorte sabbern sie jedem Rock hinterher, unsäglich blond und unsäglich böse.

Hier ist man Tier, hier muss man's sein

Die Flittchen Maria und Elli, dargestellt von Meike Finck und Doreen Fietz, können vor lauter Gehirnerweichung und Unterleibsverzweiflung kaum geradeaus laufen. Hier wird nicht geküsst, hier wird geschleckt. Hier ist man Tier, hier muss man’s sein. So läuft das auf diesem Laufsteg der totalen Selbstentfremdung. Fallhöhe haben solche Figuren natürlich nicht.

Am stärksten ist dieser aufwändig dahin schlingernde Abend, wo er sich nicht an der Demaskierung eines deformierten Bewusstseins abarbeitet. Wo die szenischen Arrangements weniger dicht sind und Platz lassen für die Menschen und die Räume zwischen ihnen, für die Verlorenheit und Verzweiflung, für die Triebe und Träume, für den Heißhunger und die Melancholie. Denn es sind ja Ertrinkende, die gezeigt werden. Individuen, denen die Mittel fehlen, um ihr Inneres sozial verträglich nach außen zu kehren. Die Inszenierung der "Stille" – Horváths häufigste Regieanweisung – wirkt bisweilen wahre Wunder. Ein bloßer Blickwechsel kann da eine ganze Welt bedeuten.

Anfälle renitenter Selbsthauptung

Darstellerisch steht der Abend auf soliden bis wackeligen Füßen. Der Karoline von Franziska Melzer merkt man meist an, dass sie gespielt wird. Hinter dem hysterisch amüsierwilligen Girlie mit den Aufstiegsgedanken, das eine Posenheftigkeit sondergleichen entwickelt, wird doch immer wieder die Schauspielerin sichtbar, die das alles zusammensetzt.

Uwe Fischer kann daneben mit seinem Kasimir überzeugen. Er gibt ganz den verbitterten Kleinbürger, schmallippig, gram, verspannt bis in die Gliedmaßen, die vor lauter subkutaner Wutbekämpfung in Hab-acht-Stellung erstarren. Die schönste Figur gelingt aber Iris Albrecht als Erna. Sie ist ein verschrecktes Wesen mit Anfällen von renitenter Selbstbehauptung. Ihre Mütterlichkeit und ihre Angst vor ihrem Macker, dem Goldkettchen-Sadisten Franz (Marcus Kaloff), umschlingen sich rätselhaft und wundersam.

Akustisch geht die beifällig aufgenommene Inszenierung in die Vollen. Der Soundtrack (Tobias Vethake) muss eine Heidenarbeit gemacht haben. Es wird da allerlei eingespielt und bisweilen verzerrt, vom niederfrequenten Fauchen und Dröhnen des startenden Zeppelins, der die Leute bis zur Besinnungslosigkeit bannt, über das Gemütlichkeitsgetöse der Bierzeltmärsche bis hin zum süßen Schmelz aus "Schwanensee", der manche Figur zur Ballerina zurichtet.

Durch die Veroperung wird die Inszenierung aber auch nicht besser. In der Mitte steht außerdem ein toller Kasten, gewissermaßen eine emotional auffällige Musikbox, die für Streicheleinheiten empfänglich ist und den Ton beleidigt abwürgt, wenn jemand mit dem Fuß stampft. Die Technik, derart beseelt, hat es halt auch nicht leicht.


Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Julia Hölscher, Bühne: Uta Materne, Kostüme: Mascha Schubert.
Mit: Iris Albrecht, Doreen Fietz, Meike Finck, Franziska Melzer, Simon Brusis, Uwe Fischer, Jochen Gehle, Eddie Irle, Marcus Kaloff, Peter Wittig

www.theater-magdeburg.de

 

Mehr von Julia Hölscher: In Hannover inszenierte sie letzten Oktober Ich bin nur vorübergehend hier von Tankred Dorst.

Kritikenrundschau

Gisela Begrich findet in der Magdeburger Volksstimme (26.5.2008) Gefallen an Julia Hölschers Inszenierung von "Kasimir und Karoline": Die Regisseurin bediene "den Gestus des Autors hochartifiziell. Musik strukturiert, treibt, verlangsamt und erweitert den Empfindungshorizont von Figuren und Zuschauern. Bilder von faszinierender Stimmigkeit bringen Milieuschilderung auf einen theatralischen Punkt. Präzise gearbeitete Situationen liefern genaue Beobachtung." Der Abend besteche durch Rhythmus und Choreografie, die Darsteller wahrten "die kunstvolle Höhe beständig mit starken körperlichen Einfällen sowie Gängen und Tänzen, die den Sinn vertiefen wie auch parodieren." Alles erinnere "mitunter an eine Walpurgisnacht und dann wieder so viel Normalität".

Andreas Hillger
schreibt auf der Online-Seite der Mitteldeutschen Zeitung (26.5.2008) aus Halle: Julia Hölscher "nimmt sich viel Zeit, um ihr Karussell in Gang zu setzen. Sie zentriert ihre Figuren, bevor sie wirkungsvoll in exzentrische Situationen getrieben werden." Simon Brusis als Zuschneider Schürzinger erhalte ebenso "klappmesserscharfe Konturen" wie Marcus Kaloff als sadistischer Ganove Merkl Franz oder seine "masochistische Erna", derweil die "kalkulierte Erotik" in "ausgestellten Posen und verhängten Lidern", wie sie die Eis lutschende Franziska Melzer vorführe, schon bald "zur Crux der Inszenierung" werde. Einer solchen Karoline kaufe man einfach nicht ab, dass sie den Verlust des Kasimir "über bloßen Affekt hinaus" betrauere. Was "vor der Pause als bewusstes Ritardando erkennbar blieb, dehnt sich hernach zur unfreiwilligen Lücke, was anfangs noch Stilwillen behauptete, wirkt manieriert."



Kommentare  
Kasimir und Karoline: Alle Musiktitel auch im Stück
Apropos Veroperung: die Musiktitel in "Kasimir und Karoline" sind ALLE im Original von Horváth genau so vorhanden.
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