Der Fünfte stirbt

von Cornelia Fiedler

Recklinghausen, 31. Mai 2017. Nur zweimal wird das Schweigen gebrochen an diesem langsamen, dunkel meditativen Abend. Einmal durch ein iPhone. Es erzählt iPhone-Witze, und zwar spaßfrei, Beispiel: "Zwei iPhones sitzen an der Bar, den Rest habe ich vergessen." Das zweite Mal durch eine Kinderstimme aus dem Off, während sich die Erwachsenen zum Familienfoto aufstellen. Sie singt ruhig, fast monoton ein Lied, das nach dem klassischen Abzählreim-Prinzip funktioniert: "Der älteste Hase ist krank, der zweite kommt ihn besuchen" und so weiter. Dann allerdings ist es der fünfte Hase, der plötzlich stirbt. Sechs, Sieben und Acht begraben ihn. Unwillkürlich will das Gehirn dazu das dumpf rassistische Lied von den "Zehn kleinen N***lein" abspulen, oh nein, alles bloß das nicht! Also schnell ausgeblendet und aufs Stück konzentriert. Hier nämlich nehmen die Kinderverse, nachzulesen auf Handzetteln mit der deutschen Übersetzung, eine unerwartet liebevolle, melancholische Wendung: "Der neunte sitzt auf dem Boden und weint, der zehnte fragt ihn warum, der neunte sagt: der fünfte ist gegangen und kommt nie mehr zurück."

Auf das absolute Minimum reduziert

Ähnlich sperrig, hilflos und doch traurigschön sind viele Szenen in "Ein Mann, der hoch zum Himmel fliegt". Die Performance von Regisseur Li Jianjun und seiner New Youth Theatre Group ist bei den Ruhrfestspielen erstmals in Deutschland zu sehen und erweist sich an einem lauschigen Sommerabend als durchaus anstrengend: 42 Alltags-Miniaturen im Guckkasten, meist in Zeitlupe, gespielt von durchweg maskierten Darsteller*innen, dazwischen Dunkelheit, überlaute Sounds oder auch mal minutenlanges grelles Licht direkt ins Publikum. Ein paar Zuschauer*innen gehen, so wird auch das erboste Tuscheln nach und nach weniger.

Der Mann der zum himmel fliegt1 560 c wang renkeDen Blick in den Himmel gerichtet, im Irdischen verhaftet © Wang Renke

Die anderen sehen 110 fordernde Minuten lang eine kurze Szene nach der anderen, mal in völliger Stille, mal zu dröhnender Musik. Die Handlung ist dabei jeweils auf das absolute Minimum reduziert: Da sitzt zum Beispiel einmal diese alte Dame im Sessel, ein Obstmesser in der einen, einen Apfel in der anderen Hand. Unendlich langsam setzt sie die Klinge an, rutscht am Apfel ab, versucht es wieder. Ein müder Blick auf den Mann mit den Kopfhörern am Bühnenrand, der demonstrativ in sein Buch starrt, macht ihr klar, dass Hilfe nicht zu erwarten ist, ihre Hände sinken in den Schoß – Ende.

Rentner-Prügelei in Slow Motion

Der zur eben gesehenen Momentaufnahme gehörige Ton wird jeweils erst danach eingespielt, wenn das achtköpfige Ensemble bereits im Halbdunkel die nächste Szene vorbereitet. Das kann komisch sein, wenn plötzlich überlaute Knabbergeräusche über die Bühne hereinbrechen, nachdem der einsame, fußbadende Nüsschen-Esser sein Tagwerk beendet hat. Es kann aber auch quälend werden, so zum Beispiel beim stechenden Weckerpiepen und dem irren Straßenlärm, offenbar der Grund dafür, dass der junge Biker sich samt Motorradhelm zum Schlafen aufs Sofa gelegt hatte. Die Asynchronität von Bild und Ton wirkt, als könnten und wollten all die Szenen einfach nicht aufhören, vom Alleinsein, von Machtlosigkeit und Frust zu erzählen. Sie spuken weiter, überlaut und hartnäckig. Manchmal zerstören die rhythmisierten Klangkollagen auch den ersten Eindruck einer Szene, verwandeln etwa die kuschelige Gemütlichkeit des Sofas in das Ausgesetztsein auf einer Parkbank.

Ob das erklärte Ziel von Li Jianjun und seinem Dramaturgen Wang Renke, die psychische Verfasstheit ihrer chinesischen Zeitgenoss*innen zu erkunden, eingelöst wird, lässt sich aus der Außensicht nicht abschließend beurteilen. Vieles bleibt Andeutung, schon um der staatlichen Zensur in China zu entgehen. Einige Bilder und Codes werden hier sicherlich anders interpretiert als dort. Dennoch ist die Sorge um und die Kritik an der eigenen Gesellschaft vehement spürbar. Außerdem, wer ab und an mit Menschen zu tun hat, egal wo, kennt diese müden, gebrochenen Gestalten ebenso wie ihre ritualisierten Handlungen: Das wortlose Beisammenstehen in der Raucherecke, die unüberbrückbare Distanz zwischen zwei Menschen auf der Couch, den Sekundenschlaf am Arbeitsplatz, den Sportexzess, um wenigstens irgendwas zu spüren. Nur in wenigen Szenen bricht die Erstarrung für einen Moment auf, am Schönsten, als eine Gruppe Senioren beim Kartenspielen eine veritable Prügelei in Slow Motion beginnt. In den meisten Szenen dominiert jedoch traurige Abgestumpftheit – und irgendwann wächst der Wunsch, diese stummen Figuren aufzuwecken, sie herauszuzerren aus ihrer Verbitterung und Isolation, und sich selbst gleich mit. Wenn das mal keine Absicht ist...

 

Ein Mann, der hoch zum Himmel fliegt
von der New Youth Theatre Group
Regie: Li Jianjun, Bühne: Wang Renke, Licht: Chen Xiaji, Kostüme: Wang Mao, Sounddesign: Leng Qiuxuan, Dramaturgie: Zhang Weiyi.
Mit: Gao Wenjun, Jiang Rihua, Li Xiuyi, Tang Ke, Wang Rui, Xiao Jing, Wang Yao, Zheng Di.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
New Youth Theatre Group, Inside-out Theater, Wuzhen Festival, China

www.ruhrfestspiele.de

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