Das Zeug zum Töten 

von Lena Schneider

Berlin, 25. Mai 2008. Sechs schmale Neonstelen bohren sich in den Bühnenraum. Dazwischen gefräßiges Schwarz. Wie Wegweiser, die den Informationsgehalt verweigern, stehen sie da, oder wie eine sechsspurige Straße ins Nichts. Lange lässt Benedict Andrews zu Beginn von "Der Hund, die Nacht und das Messer" die Bühne mit sich allein und den Zuschauern damit die Möglichkeit, sich mit Hilfe dieser blindgängerischen Zeichen und des knarzenden Sounds in eine geradezu hypnotische Starre einlullen zu lassen.

Als man den Glauben an die Dreidimensionalität dieses Stilllebens schon fast verloren hat, schiebt sich dann doch eine menschliche Silhouette aus dem Schwarz. M heißt der, der da auftritt – ob für "Mensch" oder "Mann" (oder vielleicht gar, wie bei Kafka, auf den sich das Stück nicht nur in einem vorangestellten Auszug bezieht, selbstreferenziell für den Autor Marius von Mayenburg?), mag man selbst entscheiden.

Der tote Zwilling

M (Rafael Stachowiak) also hat sich – wie könnte es anders sein in dieser spröden Landschaft der identischen Zeichen – verlaufen. Seine Verirrung ist auf kafkaeske Art vollkommen: Die Zeit auf seiner Armbanduhr kann er nicht erkennen, seinen Namen hat er vergessen, und er weiß weder, wo er herkam, noch wie und wo er sich befindet. Ms einzige Gewissheit – ein Running Gag, der sich hübsch lakonisch durch das Stück zieht – ist, dass er zuvor Muscheln mit Freunden aß. M wiederholt diese Einzelheit mit dem unbeirrbaren Starrsinn von jemandem, der sonst nichts hat. Zudem entpuppt sich die Muschel-Sache im Laufe des Stücks als nicht unwichtiges Detail: Die Welt, in die sich M verirrt hat, ist ausgehungert. Alle Gestalten, denen M im halbdunklen Schein der Neonröhren begegnet, lechzen nach etwas zu essen; die meisten vor allem nach seinem Fleisch.

"Halten Sie still, ich bring Sie heim", kriegt M bei seiner ersten Begegnung von einem Mann (Thomas Wodianka) zu hören, als der sich ihm mit einem Messer nähert. M wehrt sich und tötet den Mann mit dessen eigener Waffe. Erst als das Schummerlicht über den blutverschmierten Körpern aufhellt, sieht man, dass der Getötete Ms Zwilling ist: Er trägt den gleichen Anzug wie M. Und das ist nur der Anfang: Immer wieder wird M dieser Leiche begegnen – als Polizist, als Patient, als Arzt, zuletzt gar als Hund –, und immer wieder wird er zustechen und damit irgendwie sich selber treffen.

Der schmale Grat zwischen Mensch und Tier

War es zu Anfang noch Notwehr, so wird das Töten im Verlauf zum Selbstläufer, zum verinnerlichten Automatismus, der M das Messer zucken lässt, sobald jemand Appetit auf sein Fleisch zeigt. Ms Opfer sterben so mechanisch und leicht, wie er zusticht; mit einem Grunzen oder Stöhnen und viel gesabbertem Theaterblut – aber wehrlos. Die anderen fletschen die Zähne, M jedoch hat das Messer: das Zeug zum Töten und damit das Zeug zur Bestie. Der Grat zwischen Mensch und Tier ist schmal, sagt Mayenburgs Stück, und M schreitet ihn ab. Eine Verletzung im Bauch lässt M zunehmend krumm gehen, so dass er im zweiten Teil auf allen vieren läuft; gegen Ende ist er dann so weit, dass er die "jüngere Schwester" (eine der fünf Rollen der wunderbaren Jule Böwe) fast verschlingt.

Schummer-Stimmung, wuchtig-bedrohliche Musik, Jule Böwe als perückenverhangene Blond-Variante eines japanischen Horrorfilm-Zombies und viel Blutgeschmiere – Benedict Andrews stürzt sich auf die Horrorelemente von Mayenburgs Stück und trägt dick auf. So sehr, dass einige Momente ins Schwülstige und damit ins ungewollt Komische kippen. Wäre da nicht Mayenburgs verspielter Umgang mit Sprache und die lakonische Sprechweise von Rafael Stachowiak und Jule Böwe – die Düsternis des Ganzen wäre schwerlich zu ertragen.

Der Schlaf der Vernunft

Andrews lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass die Welt, in die sich M verirrt hat, auf einer Traum-Ebene abspielt, als Alptraum von einer Welt, aus der sich die menschliche Seele verzogen hat. "Ich glaub, ich bin nur der Gedanke von jemandem, der hart träumt und schwitzt", sagt M einmal. So gehen dramatische Überhöhung und filmreifer watteweicher Soundteppich als bewusst gewählte Maßnahmen durch, um das Ganze zum finsteren Traum zu verzerren, der an Goyas Radierung vom Ungeheuer gebärenden Schlaf der Vernunft erinnert. Das gesellschaftliche Ungeheuer, das Mayenburg zum Thema seines Stücks macht, ist immerhin eins, das es durch alle Zeiten geschafft hat: das Fressen-oder-Gefressen-Werden-Prinzip.

 

Der Hund, die Nacht und das Messer (UA)
von Marius von Mayenburg
Regie: Benedict Andrews, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Musik: Malte Beckenbach, Licht: Erich Schneider.
Mit: Rafael Stachowiak, Thomas Wodianka, Jule Böwe.

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

"Beseelt spielt Mayenburg mit Tradition und Genre-Konventionen", schreibt Nikolaus Merck in der Frankfurter Rundschau (27.5.2008). Er hätte sich von Kafka das Unerklärbare, vom Horrorfilm den Menschenfresser und von der Romantik das Doppelgängermotiv genommen und alles zusammen in eine Form gebracht, die vielleicht als Comic oder Film, nicht aber als Theaterstück funktionieren könne. Zumal nicht als "buchstabengetreu" nacherzähltes. Zwar gingen die Schauspieler durchaus in die Vollen, aber dass Marius von Mayenburg die "amoralischen Besichtigungen menschlicher Bestialitäten", für die er berühmt geworden ist, in den letzten zehn Jahren bloß in beständig kleiner werdender Form wiederholt hätte, sei unübersehbar. Was immer in seinen Stücken stecken möge – da er sie als Schaubühnen-Hausautor und -Dramaturg nur in die bravsten Regiehände lege, erfahre man es nicht. "Und da heißt es immer, Autoren, die fürs Theater schreiben, täte die Nähe zur Praxis gut."

Reinhard Wengierek
ließ sich vom Zombiestück auch nicht beeindrucken und berichtet in der Welt (27.5.2008) von "unwillkürlich dräuenden Heiterkeiten" im Publikum. Wie Merck denkt er an von Mayenburgs Debütstück "Feuergesicht" zurück und konstatiert für den Augenblick "theatralische Anämie": "Weil nichts auch nur irgendwie sozial verortet war (die neuerdings üblich schwache Schaubühnen-Dramaturgie). Weil alles nur noch, gegossen in fein poetisches Gewölk, höhere Bedeutung war. Dafür wird, mit der Spitzfeder hingebungsvoll gepusselt, ein Endzeitszenario ausgebreitet. Hohe Rhetorik, aber langweilig, sich endlos wiederholend." Die Schauspieler gefielen (vor allem "die wie immer und in allem tolle Jule Böwe"). Aber insgesamt tue Benedict Andrews "auch nichts weiter, als alles brav aufsagen" zu lassen.

"Aus dem Wasserhahn rieselt Sand, heulende Wölfe rücken immer näher, grüne Digitalziffern zeigen nicht fünf Uhr fünf an, sondern SOS": Irene Bazinger zeigt sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.5.2008) durchaus gewillt, Marius von Mayenburgs Stück als Phantasie nach einer Muschelvergiftung anzusehen. Allerdings sei in dieser "Ansammlung bedeutungsvoller Ungereimtheiten" nicht "der Schatten einer Perle" zu entdecken. Auch die Darsteller wirkten "missmutig wie beim Casting für ein sehr billiges Splatter Movie", inszeniert sei das Ganze "dürftig".

In der Süddeutschen Zeitung (27.5.2008) sieht Peter Laudenbach keine Fallhöhe zum aktuellen Stück, sondern schreibt ganz allgemein vom "Schmock des Gemetzels" bei Marius von Mayenburg: "Es sind kühl kalkulierte Grotesken, die den Schrecken gleichsam zitieren und auf Abstand halten, dabei immer ein wenig Tiefsinn simulieren und Poesie-Soße drüberkippen." Wobei "Der Hund, die Nacht und das Messer" nun aber besonders "schal" sei. Während der "illusionslose Moralist" Cormac McCarthy das Thema Kannibalismus in seinem Roman "Die Straße" als "zutiefst berührende Parabel" behandelt hätte, fände man hier nur eine "Messer-rein-Messer-raus-Dramaturgie, die in ihrer Klipp-Klapp-Mechanik leerläuft." Inszeniert sei dies jedoch "nicht ungeschickt". Zügig, leicht, elegant und lustig.

Und Andreas Schäfer notierte im Berliner Tagesspiegel (27.5.2008): "Drei Schauspieler, die in apokalyptischem Halbdunkel vom Zusammenbruch von Zeit und Raum erzählen und – getrieben von irgendwie postzivilisatorisch kannibalistischer Gier – abwechselnd das immer gleiche Messer zücken, um es sich in den Körper zu rammen und eifrig ihre Wunden zu lecken. Man kann es nicht glauben. Mehr ist an diesem niederschmetternd belanglosen Abend nicht zu sehen." Die Regie war für ihn denn auch deutlich eine "Nicht-Regie".

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