Nach Manila - In Dortmund bereitet Moritz Riesewieck seine Recherchen bei digitalen Müllarbeitern auf
Der Gott der erlaubten Dinge
von Friederike Felbeck
Dortmund, 3. Juni 2017. Ein Stück Manila in Dortmund-Hörde: zwischen dem einschüchternden Glaspalast eines Autohauses, einem international renommierten Pumpenhersteller, nach dem sogar eine eigene Bus-Haltestelle benannt ist, und den stillgelegten Industrieanlagen eines Montanunternehmens, die als monströses Riesenmuseum die Landschaft prägen, hat das Theater Dortmund einen tropischen Garten gepflanzt.
Im ehemaligen "Megastore" des BVB sitzen die Zuschauer zwischen Palmen und Zedern und folgen Klick für Klick digitalen Säuberungsarbeiten. "Commercial Content Moderation" ist das irreführende Label, unter dem die Billiglohnarbeiter in der trügerischen Paradies-Landschaft der Philippinen in endlos langen Schichten den Bildmüll aus Sex und Gewalt wieder entfernen, den die Menschen weltweit in den sozialen Medien abladen. Wir hinterlassen unser digitales Kinderzimmer unaufgeräumt, Facebook und Co. entscheiden, was zurück ins Regal kommt und was gelöscht wird.
Cleanliness und Godliness
Die Menschen, die am langen Prekariats-Arm auf die "delete" oder "ignore"-Buttons drücken, sind ein erschütterndes Beispiel wirtschaftlicher Ausbeutung und krankmachender Arbeitsverhältnisse. Drei Einzelschicksale machen in Dortmund deutlich, welche Folgen die tägliche Konfrontation mit Bildern von Vergewaltigungen, Selbstmordanschlägen, Kreuzigungen und Enthauptungen haben kann und wie sich die Herren der sozialen Medien unter tropischen Bäumen zum Gott der erlaubten Dinge machen.
Horrorbilder in Traumkulisse @ Birgit Hupfeld
"Nach Manila" von Laokoon/Moritz Riesewieck beginnt wie eine Video-Reportage. Eine Autorin (Caroline Hanke) berichtet von ihrer Reise nach Manila und den Menschen, denen sie dort begegnet ist: Maggy (Merle Wasmuth) ist stolz auf ihren Score, der nachweist, wie viele Bilder sie in kürzester Zeit sortieren kann. Strebsam und ehrgeizig identifiziert sie sich mit ihrem Arbeitgeber, auch wenn sie dessen großen Namen nicht nennen darf. Obrigkeitshörig stolpert sie aus einem behüteten Katholizismus in einen Sumpf aus Ejakulationen und Pornografie. Aber alles ist besser als auf dem Müll der philippinischen Strände zu leben, und so verteidigt sie ihren Platz in einer Branche, die schon längst ihren eigenen Jargon entwickelt hat: "Cleanliness is next to godliness" hat Facebook perfide das alte Sprichwort für die eigenen Zwecke vereinnahmt. Mit der Zeit wird aus ihrer Beflissenheit ein neurotischer Waschzwang, dann strahlen ihre Augen nicht mehr, sondern rollen gefährlich, und in einer fast 10minütigen Schnellsprech-Tour-de-Force rastet Maggy aus: "Wir kennen euren Dreck!"
Endstation Zwischenbereich
Nasim (Björn Gabriel) ist eigens aus Syrien angeworben worden und wird zum Besser-Verdiener unter den Müllleuten: Er ist spezialisiert auf Bilder aus seiner Heimat. Er analysiert die Videos des IS – "Vorspulen ist nicht erlaubt!" – und gerät in den Sog der Details: Immer wieder schaut er auf die letzten Sekunden eines jugendlichen Selbstmordattentäters, der den Sprengsatz unter einem Ronaldo-T-Shirt versteckt – nicht ohne dadurch sexuell erregt zu werden: Die Exzesse von Sex und Gewalt greifen über auf die Körper ihrer Zensoren. Die schlimmsten Bilder überspringen sie widerrechtlich: "Die füllen wir in Gedanken aus." Dodong (Rafaat Daboul), ein weiterer Content Manager, lebt bereits in einem Zwischenreich aus Realität und digitalem Abfall. Er sucht in den Malls von Manila nach einem Garten, den er schon einmal gesehen hat – einem Garten, der mit Gänseblümchen und weichgezeichnetem Romantizismus das Setting für das brutalste aller Videos hergibt, das die Content Manager gesehen haben und aus ihren Köpfen nicht mehr wegklicken können.
"Wir kennen euren Dreck!" Mario Simon (Kamera), Merle Wasmuth, Caroline Hanke © Birgit Hupfeld
Dem 1985 geborenen Regisseur Moritz Riesewieck und seiner Gruppe Laokoon gelingt es die Zuschauer an diesem Abend mitzunehmen. Riesewieck, der ursprünglich Wirtschaftswissenschaften studierte und als Regie-Absolvent der Berliner HfS "Ernst Busch" 2015 mit seiner Diplominszenierung "Voicek" zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen war, hat seine Manila-Recherche zunächst als Lecture Performance konstruiert, die vervielfältigt von der Heinrich-Böll-Stiftung große mediale Wellen schlug. Im Herbst erscheint sein Buch "Digitale Drecksarbeit. Wie uns Facebook und Co. von dem Bösen erlösen" folgen. Vorher macht nun die Aufführung am Theater Dortmund mit ihren großartigen Schauspielern die Lebenswelten der Netz-Müllmänner und -frauen nachvollziehbar.
Nach Manila
von Laokoon
Regie: Moritz Riesewieck, Bühne: Christian Maith, Kostüme: Miriam Marto, Video-Art: Mario Simon, Komposition und Chor: Hans Block, Dramaturgie: Tina Ebert, Alexander Kerlin, Theaterpädagogik: Sarah Jasinsczak, Licht: Stefan Gimbel, Ton: Gertfried Lammersdorf, Chris Sauer.
Mit: Rafaat Daboul, Björn Gabriel, Caroline Hanke, Merle Wasmuth, dem Dortmunder Sprechchor und den Theaterpartisanen.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theaterdo.de
www.laokoon.group
Kritikenrundschau
Andreas Schröter schreibt in den Ruhrnachrichten (6.6.2017), die "Auseinandersetzung mit einem aktuellen politisch-gesellschaftlichen Thema" sei zu loben und "gut so". Das Schauspiel gebe sich damit eine Relevanz, die man an anderen Häusern vergeblich suche. Allerdings sei das Thema "letztlich vielleicht doch etwas dünn für einen eineinhalbstündigen Abend".
Honke Rambow schreibt auf Ruhrbarone.de (5.6.2017): Die "erstaunlichste Leistung des Abends" käme von Rafaat Daboul als Dodong. "Der junge Syrer arbeitet sich hier erstmals an größeren Textmengen ab und zeichnet sehr souverän einen manischen Charakter." Mit dem Dortmunder Sprechchor und dem Jugendclub "Theaterpartisanen" sei "gewaltiges Personal aufgeboten", das sicherstelle, dass aus dieser Recherchearbeit ein "richtiger Theaterabend" werde. "Nach Manila" sei eine "bildgewaltige Tour de Force". Der Abend gehe über das "reine Dokutheater" hinaus du erweitere das Thema auch auf Fragen nach der Wahrheit und Verstehbarkeit von Bildern.
Arnold Hohmann schreibt auf dem Online-Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (6.6.2017): Regisseur Moritz Riesewieck lasse "schnell erkennen", dass es um die "Psyche der Menschen" gehen soll, die mit dem digitalen Müll konfrontiert seien. Der "geistige und körperliche Verfall der Arbeiter" lasse nicht lange auf sich warten, was "den Abend zu einem atemlosen Crescendo" führe.
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