Geister hinter Gittern

von Michael Laages

Hamburg, 5. Juni 2017. Vorsicht: Sie betreten ein Gefängnis! Rechts und links vom Tor hängen schlapp die blauen Fahnen mit den gelben Sternen; und hinter den Wänden aus Stahlgegitter liegt ein Kontinent der Schmerzen. Brett Bailey, der Welten-Bildner aus Südafrika, überprüft nicht nur das Elend an Europas Außengrenzen, sondern nimmt auch den Zustand der Fluchtburg selbst ins Visier – wer hier Einlass begehrt, der (oder die) lasse alle Hoffnung fahren!

Die Wiege europäischer Demokratie im Untergangsmodus

Was stimmen mag – aber leider auch bedeutet: Mit Überraschungen haben die jeweils sieben oder acht Köpfe starken Publikümmer eher nicht zu rechnen, die sich da im Fünf-Minuten-Takt an jenem Tor versammeln, das zu den Geistern hinter Gittern führt. Nicht reden sollen wir vor dem und über das, was uns erwartet im "Sanctuary", im Heiligtum also, das immerhin ein "Labyrinth" sein soll. Stets blinkt eine grüne Lampe, wenn wir weiter wandern sollen von Raum zu Raum, und im ersten liegt ein Wollknäuel auf dem Boden, während hinten Postkartenbilder von Europa vorüberflimmern (übrigens immer nur vom "alten", nie vom neuen, dem Nach-Wende-Europa ... ) und rechts hinter einem "Welcome"-Schild der Pappkamerad von der Einwanderungsbehörde falsch lächelt. Vielleicht sollten wir den roten Faden mitnehmen, vielleicht lauert hier ja irgendwo der mörderische Minotaurus.

Sanctuary2 560 KerstinBehrendt uDeutschland, deine Grenzen © Kerstin Behrendt

Das klingt abstrakter als es ist – die Wanderung durch Baileys düstre Zehn-Räume-Installation ist viel praktischer gedacht. Wir passieren tableaux vivants. Ein (fast immer) stummer Mensch sitzt steht in einem detailverliebten Environment: der Geflüchtete zunächst hinter griechischen "Polis"-Plastikschilden in einer verrottenden Mauer-Nische, dann die Frau im Rollstuhl hinter einer beinahe leer gekauften Schaufenster-Auslage. Athen 2017? Ziemlich viele Griechen sind beteiligt an diesem Projekt – die Wiege europäischer Demokratie wird im Untergangsmodus gezeigt; misshandelt von den Euro-Partnern, überfordert von den Kräften der Migration. Einmal sitzt sich unsere kleine Wandergruppe Hälfte Hälfte stumm gegenüber; hinter uns an der Wand die heiligen fünf Gebote für den Tierschutz.

Als würden sie sich verbeugen

Eine schwarze Frau zeigt, wie ihre Welt in Feuer aufging. Unter der Szenen-Überschrift "Kollateralschaden" erzählt ein Kriegsopfer vor der zertrümmerten Skyline seiner Stadt auf Pappschildern die eigene Geschichte – und zum Schluss fotografiert er uns. Das Blitzlicht klingt wie ein Schuss. Den haben wir von Beginn an auf dem verschlungenen Pfad durch die Räume immer wieder gehört unter den unterschiedlichsten Alltagstönen; er löst alle fünf Minuten auch das Grünlicht fürs Weiterwandern aus.

Sanctuary3 560 KerstinBehrendt uIm privatkitschigen "juste milieu" © Kerstin Behrendt

Zwei schöne Frankreichbilder gibt’s am Schluss – ein Migrant vor ganz vielen Erinnerungskerzen (vielleicht für die "Bataclan"-Opfer) und ein grummelige Alte im ganz privatkitschigen "juste milieu", die Marine LePen im Fernseher zuschaut. Dass es zum Glück anders kam, hat die Produktion bestimmt noch nicht gewusst. Ein deutscher Straßenkehrer sorgt sich auch noch um Überfremdung nur durch Männer – das wirft er Frau Merkel vor; fordert aber als Konsequenz nicht etwa (was ja vernünftig wäre!) extrem freizügige Nachzugsregelungen für die Familien dieser fremden Männer ein. Im letzten Gang hängen Fotos vom Ensemble am Gitter – als würden sie sich verbeugen.

Ein Europa der Überforderung

Bailey zeigt Europa in der Überforderung durch die Jahrhundertaufgabe, die sich dem Kontinent gerade stellt. Und er will zeigen, dass wir uns der Herausforderung extrem ungeschickt nähern: konzentriert nur auf irgendeine "Sicherheit". Dabei haben wir die ja nicht mal denen zu bieten, die schon Europäer sind ... der griechischen Bevölkerung zum Beispiel.

Ganz unspektakulär und völlig un-neu lässt Bailey die Räume die jeweilige Stimmung, den jeweiligen Schrecken und Schmerz entwickeln. Nur ein wenig Text hilft uns weiter, projiziert oder eben auf Pappe – die Wirkung der Bilder beginnt erst, wenn wir der Gitterwelt entronnen sind, die "Europa" heißt.

Hier knallt und kracht, schockiert und schreckt eigentlich nichts; Brett Bailey wirft uns mit Zeichen und Bildern bloß auf das zurück, was wir längst alle wissen.

Das ist schlimm genug.

 

Sanctuary
Text/Dramaturgie: Eyad Houssami, Design & Regie: Brett Bailey, Sound-Design: Manolis Manousakis, Licht-Design: Colin Legras, Videos: Catherine Henegan.
Mit: Magd Assad, Robert Ian Oku Kibet Babu, Sandrella Dakdouk, Francoise Hémy, Karam Al Kafri, Muna Mussie, Nidal Sultan, Lionel Tomm.
Dauer: ca. 45 Minuten ohne Pause

www.theaterderwelt.de

 

Kritikenrundschau

Die Zuschauer würden mit Blick auf das Flüchtlingselend zu Elendsvoyeuren werden, schreibt Heinrich Oehmsen im Hamburger Abendblatt (7.6.2017). "Das funktioniert so lange, bis einer der acht Performer die Zuschauer direkt anblickt." Plötzlich verändere sich die Betrachterrolle, und man werde hineingezogen in diesen Kampf ums Überleben. "Manche von Baileys Bilder wirken auf den ersten Blick etwas plakativ, doch sie wecken Gefühle und zwingen zum Nachdenken." Damit erreiche 'Sanctuary' schon eine Menge.

Der "derzeit inflationär erhobene Anspruch, Partizipation und Professionalität zusammenzuziehen" entpuppe sich "unter ästhetischen und operativen Gesichtspunkten fast immer als Hochrisikofaktor", schreibt Dorion Weickmann in der Süddeutschen Zeitung (8.6.2017) – "es sei denn, das Format ist intim, die Botschaft deutlich und die Mittel sind klug gewählt". Das alles treffe auf Brett Baileys "Sanctuary" zu, so Weickmann: "'Sanctuary' ist leise, unspektakulär, betreibt keinen Aufwand." Aber es zähle zu den eindrucksvollsten Formaten des "Performance-Marathons" Theater der Welt 2017.

Der Besucher könne nicht wie einst in Völkerkundemuseen in stiller Betrachtung das Fremde genießen, denn hier säßen reale Menschen in den 3-D-Bildern und schauen zurück. "Unbeirrbar. Unausweichlich. Geben dem Thema Gesichter", schreibt Jens Fischer in der taz (16.6.2017).