Historisches Schuhwerk

von Tim Schomacker

Bremerhaven, 7. Juni 2017. Ich saß mal abends im Bryant Park. Kaum jemand war mehr da. Es hatte heftig geregnet. Auf dem und um das Rasenrechteck herum standen Stühle. Irgendwie (dabei aber sehr deutlich) schienen kleine menschliche Verhältnisse hier nachgebildet. Besser: übrig geblieben vom Tag. Ohne die Menschen. Ein ebensolches Arrangement baut der polnische Performer Ludomir Franczak ins Zentrum seines kurzen, konzentrierten, stillen Abends "Odzyskane", mit dem soeben – fast aufreizend ruhig, möchte man sagen – das Bremerhavener Festival "Odyssee Europa" eröffnet wird.

Annähernd aufreizend, weil hier kein einziges Schlagwort fällt zu irgendeiner der aktuellen Diskussionen um und wegen Europa. Auch weil ein stummer Performer – es ist der Autor/Regisseur selbst in dokumentstaubigen Hemdsärmeln – der einzige ist, der leibhaftig die Bühne betritt. Der Rest ist Bandstimme und Archivfoto. Der Rest ist anwesend als historisch konkrete Phantasie, Gesten und Geräusche, Geruch und Körperhaltung, Gespräch und Mimik – eben auf einem immer mal wieder umarrangierten (und schließlich mit Palettenfolie zu einem Haufen drapierten) Knappdutzend Stühle. Schon verflüchtigte Biographien, die Franczaks Arbeit wie in leiser Anrufung hervor holt aus einer echten Vergangenheit.

Odzyskane 560a FotoZakrzewski uGeschichte gestapelt © Zakrzewski

Die Erzählstimme, die zum stummen Performer gehört, lesen wir. Auf Dias, als Texttafeln geschaltet zwischen alte Fotos. Schriftstücke, die man als historische erkennen, aber genauer nicht entziffern kann. Der Projektor rauscht und klackt eine altmodisch eingroovende Klangfolge. Franczak sortiert dabei (Archivlogik erstmal unklar) Schriftstücke aus (vermutlich) demselben Konvolut an einer dunkelroten Wand links vom Projektor. Davor die Stühle. Im Archiv seiner Heimatstadt Słupsk sei er, "sagt" die Erzählstimme auf der Diawand, habe er eine Mappe mit biographsichen Skizzen gefunden. Kurze Statements von Deutschen, die blieben nach 1945, die Dokumente Teil eines Loyalitätsuntersuchungsverfahrens. Das ist Franczaks Basismaterial. Sein Augenmerk. Das er erkundet, ausbreitet, variiert, kombiniert, ein wenig wie Alexander Kluge (geschichtlich grundiert, literarisch ausgearbeitet) ein Bild des vergangenen Halberstadt konzentriert.

In fremden Schuhen

Irgendwann steht ein Paar Schuhe da. Schwarze Lederherrenschuhe, nebeneinander, fast wartend platziert auf einer hellen Holzkiste. Wir haben bereits gelesen von diesen Schuhen, haben Bilder von ihnen gesehen. Die Schuhe – hier gleichsam ultrakonzentriertes und dann erhitztes – Objekt, habe er unter einem Treppenabsatz gefunden. Von Zeit und Wetter halb zerfressen. Was hier ungefähr das gleiche meint. Als Franczak in die Schuhe schlüpft, wissen wir bereits, dass sie gewissermaßen die Objekt-Brücke sind zu den Deutschen, die hier mal gewohnt haben.

Odzyskane 560 FotoTerciak uOrdnung muss sein © Terciak

"Odzyskane" zeichnet diese unmögliche Wiederbegegnung nach, die über Räume (Stadt, Wohnhaus) funktioniert und über Geschichte (das Nach-Leben der – und des – Deutschen in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg). Geschichte erscheint dabei gefiltert: Dokumente sind augenscheinlich Fotokopien; Material aus der biographischen Kollektivmappe erklingt als Stimmen ineinander verschraubender Chor – in polnischer Sprache. Franczak reißt viel auf, erklärt aber nichts. Jedenfalls nicht in einem simplen Sinn. Er erzählt von polnischer (und europäischer) Gegenwart. Ohne diese direkt zu adressieren. Das schlichte Sammeln könnte in eine dramaturgische Sackgasse führen. Aber auf halber Strecke findet Franczak einen wahrhaft berückenden Ausweg.

Auftritt: Pilz und Drossel

Dieser Ausweg ist eine Geschichte, die H. P. Lovecraft zur Ehre gereicht hätte. Wir hören sie von einer alten polnischen Frauenstimme: Ein Junge, Johann läuft durch den Wald. Er versucht, den Schmerz wegen seines verschwundenen Vaters zu "überholen". Er hört Klänge, lokalisiert ein symphonisches Ding in bestimmten Pilzen. Lange glaubt er, nur er könne diese Musik hören. (Franczak macht lange wenig, schaltet mal hier was ein, bündelt Stühle, setzt sich ins Publikum.) Über die Pilzklänge kommt Johann zu Field Recordings, zur elektronischen Musik. Bis er, längst Komponist, kurz vor seinem Tod die fehlende Ingredienz seiner Arbeit aufspürt: Durch Klangpilze gefilterter Drosselgesang.

Woraus ein wunderschönes Schlussbild für den Abend auf den Weg gebracht ist. Franczak öffnet den hellen Holzkasten, der Teil seines Stuhlhaufens geworden war. Darin mechanische Vögel, dazu eine Livekamera. Das Close-Up der zackend singenden Aufziehvögel wird bühnenfüllend projiziert. Was das Gesamtbild in einen Lichtverhältnisse rhythmisch verändernden Schwarz-Weiß-Raum verwandelt. Dazu eine crescendierend rauschende Mischung aus Vogelton und einem pilzartigen Klangobjekt. Da hat man bereits beinahe vergessen, dass es an diesem Abend um deutsch-polnische Verhältnismäßigkeiten geht. So geschickt extrapoliert Franczak aus seinem historischen Material eine Theatersituation. Und zwar eine, die uns reichlich Stichworte liefert zum Vergangenheitsbezug – nur eben in einer anderen, sehr eigenwilligen Sprache.

 

Odzyskane / Wiedergewonnenes
von Ludomir Franczak
Regie, Bühne: Ludomir Franczak, Kostüme: Magdalena Franczak, Musik: Marcin Dymiter.
Mit: Ludomir Franczak (Spiel), Katarzyna Duma, Stefan Filipowicz, Emil Franczak, Magdalena Franczak, Andrzej Golejewski, Irena Jun, Dorota Lesiak, Mateusz Nowak, Wiktoria Wrzyszcz (Stimmen).
Dauer: 50 Minuten, keine Pause

www.stadttheaterbremerhaven.de

 

Kritikenrundschau

Sebastian Loskant von der Nordsee-Zeitung (8.6.2017) beschreibt den Abend als "stille, nachdenkliche Performance". Zunächst überwiege der dokumentarische Charakter, dann wende sich die Aufführung sehr poetisch ins Sinnbildhafte.

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