So leicht verliert sich die Façon

von Andreas Wilink

Düsseldorf, 10. Juni 2017. In seinen Erinnerungen "Zeitkurven" schreibt Arthur Miller über die Entstehung von "Hexenjagd", seinem Drama, das 1953 zeitbedingt auf Joseph McCarthys Tribunal und den hysterischen Exorzismus einer linken beziehungsweise kommunistischen 'Gefahr' in Hollywood und anderswo reagierte. Als der Autor im Hexenmuseum von Salem historische Lithographien von 1692 sah, auf denen bärtige Männer ihr Entsetzen angesichts satanischer Umtriebe und unnatürlicher Dinge bekunden, habe er "augenblicklich den Zusammenhang: die moralische Stärke der Juden und die Abwehr der Sippe gegen die Verunreinigung von außen" begriffen.

Die Puritaner aus Massachusetts und die strenggläubigen Juden, die der in New York geborene Miller aus der Synagoge in der 114th Straße kennt, ähneln sich in Millers Sicht in ihren Ausgrenzungsdynamiken. Allgemeiner und zeichenhafter aufgefasst, treibt diese Dynamik zahlreiche Phänomene hervor: von der Tyrannei im Ostblock und chinesischen Jugend-Aufmärschen während Maos Kulturrevolution über Putins Hetze gegen Schwule bis zum Furor fanatisierter Wählerschaften hinter der Politik von Populisten oder irgendwelchen Flashmobs. "Hexenjagd" – in seiner etwas zu sehr mit Ausrufezeichen versehenen und seiner etwas zu pfeilgerade verlaufenden, mechanischen Entfesselungsdramatik, die ein paar Knoten fühlbarer Widerständigkeit hätte gebrauchen können – ist immer. Nur das Opfer wechselt. Denunziation, inquisitorischer Bekenntnis-Druck, das Verketzern von Sex und die Triebumlenkung in den Rausch der Macht sowie das propagandistische Benutzen von Massenwahn bleiben.

Tote Kuh als Sündenbock

"Es sind neue Zeiten", heißt es einmal im Text. Wir können uns einen Reim darauf machen, welche gemeint sind. Der 1980 in Russland geborene Regisseur Evgeny Titov, Absolvent der St. Petersburger Theaterakademie und des Max-Reinhardt-Seminars Wien, ist so wenig an der historischen Rekonstruktion interessiert wie an einem abstrakt bereinigten Prozess. Er kreiert und choreografiert im Kleinen Central des Düsseldorfer Schauspielhauses eine sich symbolisch akzentuierende Welt, die den Assoziations-Spielraum öffnet. Die schmutzig hell gekachelte Bühne (Christian Schmidt) lässt an eine Folterkammer mit an der Wand befestigten Ketten ebenso wie an die Pathologiestation denken oder an einen Schlachthof, zumal passend zum anschwellenden Bocksgesang der den Teufel fürchtenden Gemeinde eine tote Kuh von der Decke herabfällt, alle Viere von sich gestreckt. Der Kadaver könnte Stellvertreter des biblischen Sündenbocks sein, dem durch Handauflegen die Schuld der Gemeinschaft aufgebürdet wurde.

Hexenjagd4 560 Sebastian Hoppe uMädchen in Hysterie-Uniform  © Sebastian Hoppe
Elizabeth Proctor, die von ihrer früheren Magd Abigail aus Eifer- und Rachsucht verleumdet wird, fuhrwerkt in den Eingeweiden des massigen Tieres bis zu den blutig rot gefärbten Ellenbogen. Die ihre Besessenheit nur vorspielende, die anderen verhetzende Abigail (Tabea Bettin) wiederum hockt mit lasziv gespreizten Beinen über einem Waschtrog und befeuchtet ihre Scham: eine profane Magdalena aus der Lusthölle, umflort von einer weich flötenden Melodie.

Halt und Haltung

Den Prozess gegen die angeblichen Hexen und Hexer, der Dutzende Menschen in Salem an den Galgen bringt, überhöht die Inszenierung, die für ihre Szenenwechsel mit kurzen Auf- und Abblenden arbeitet, zu einem wie ins Klinikum verlegten Götzendienst, der sich als Gottesdienst maskiert. Eine Fontäne Schmutzwasser schießt aus einem Abflußgitter und besudelt die Zeugin Marry Warren. Das Ehepaar Elizabeth und John Proctor, bei Judith Bohle und Sebastian Tessenow Zentrum der intensiven Aufführung, wird gegen Ende, jeweils an den Füßen gefesselt, in mühsamem Zueinander-Streben die Berührung suchen.

In der Zellen-Einrichtung zum Brechen von Leib und Seele begegnen uns Dramen-Figuren in stilisierter Form – ein schwarzweißes Ensemble in dunklen Anzügen und Mänteln, hochgeschlossenen Internats-Kleidern und dünnen Hemdchen. Zum Finale lässt Titov in großer Geste den Vorhang sich schließen und wieder öffnen, um Verwüstung und Verwesung zu offenbaren, während von fern Wispern und hallendes Wehklagen ertönt. Die Hinrichtungs-Prozedur besteht nun darin, die Verurteilten mit Müllsäcken zu ersticken, von denen sich schon ein schwarzer Haufen stapelt. Auflösung und Zersetzung haben den von Interessen und Ideologie unterminierten Rechtsstaat von innen her befallen, wenn etwa Pastor Parris (Thomas Wittmann) sich in Zwangshandlungen verliert, der in seiner Selbstgewissheit ruhende Gerichtsherr Danforth (Florian Lange) seines properen Auftretens verlustig geht und der Henker Hathorne sich in einem bräutlichen Kleid wie irre im Veitstanz dreht.

"Man verliert so leicht die Façon", sagt Fassbinders Filmheldin "Martha". Eine ganze Gesellschaft büßt hier Halt und Haltung ein. Individuelles und kollektives Außer-Sich-Geraten fallen in eins – das dringlich, in bildhaft starker Zeichensprache zu zeigen, ist die Qualität der Düsseldorfer "Hexenjagd".

 

Hexenjagd
von Arthur Miller
Deutsch von Hannelene Limpach und Dietrich Hilsdorf (Mitarbeit Alexander F. Hoffmann)
Regie: Evgeny Titov, Bühne: Christian Schmidt, Kostüme: Nicole von Graevenitz, Musik: David Lipp, Licht: Konstantin Sonneson, Dramaturgie: Janine Ortiz
Mit: Manuela Alphons, Tabea Bettin, Judith Bohle, Markus Danzeisen, Janna Gangolf, Stefan Gorski, Esther Hausmann, Lieke Hoppe, Florian Lange, Andrei Viorel Tacu, Bianca Twagiramungo, Sebastian Tessenow, Rüya Voß, Thomas Wittmann
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenschau

Florian Sawatzki schreibt auf wz.de, der Onmline-Plattform der Westdeutschen Zeitung  (11.6.2017) von einem "furiosen Lehrstück über eine fatale Massenhysterie". Die Arbeit überzeuge als "moderne, packende Inszenierung auf ganzer Linie". Nur das an ein leeres Schwimmbecken erinnernde Bühnenbild sei "steril". Aus dem 14 Mitglieder starken Ensemble ragten vor allem Sebastian Tessenow und Judith Bohle als Ehepaar Proctor hervor.

Annette Bosetti schreibt auf rp-online.de, der Webpräsenz der Rheinischen Post aus Düsseldorf (12.6.2017): Titov schaue "vor allem tief in die Seelen der vielen handelnden Personen hinein". Mit "hochdramatischer Kraft" setze die Regie auf die Schauspieler – "man hätte es auch anders, abstrakter, straffer machen können. Doch diese Version besticht mit Spannung und Erzählkraft." Zwar halte die Spannung nicht für drei Stunden, aber insgesamt sei das Publikum am Ende dieser Spielzeit "hochzufrieden, das Ensemble auf Topniveau".

"Blackouts, Donnerschläge als Pausenmusik, danach sorgsam arrangierte Personengruppen." Das alles sei teuflisch gut gemacht, bemerkt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (23.6.2017). "Evgeny Titov könnte eines Tages ein richtig guter Regisseur werden, wenn er sich weniger auf Effekte konzentriert und mehr darauf, die Potenziale der Schauspieler zu entwickeln." Was an dieser cleveren Inszenierung ein wenig verstimme, sei die Tatsache, "dass man die Fäden, mit denen das Ganze zusammengenäht ist, zu deutlich sieht. Ein wenig mehr Beiläufigkeit und spielerische Lässigkeit hätte gutgetan." Sehenswert sei der Abend dennoch – und sei’s nur weil er beweise, dass Millers Vorlage schlicht nicht totzukriegen sei. 

 

 

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