Jesus in der Zwangsjacke

von Shirin Sojitrawalla

Wiesbaden, 17. Juni 2017. Wenn politische Utopien ihren Reiz verlieren, suchen Menschen ihr Heil im Jenseits. So kommt es, dass Fragen der Metaphysik derzeit vermehrt in den öffentlichen Raum drängen. Und ins Theater. In Mainz spüren sie der Mystikerin Hildegard von Bingen nach, in Mannheim bietet Signa die Möglichkeit zur Gruppen-Transzendenz, in München zelebriert Susanne Kennedy den Tod als Bewusstseinserweiterung, um nur wahllos einige Beispiele zu nennen.

Ausgesprochen gut passt da auch Thomas Jonigks neues Stück hinein, das sich eher kleinmütig großen Fragen stellt: Woran glaubst Du? Wozu lebst Du? Warum stirbst Du? Dass die Premiere dann ausgerechnet auf den Abschlusstag der ARD-Themenwoche über Glauben und Glaubensvielfalt fiel, war, wenn schon keine Fügung, so doch ein schöner Zufall. Jonigks Stück, wahlweise ist auch von einem Projekt die Rede, spürt Grundbegriffen aus dem Neuen Testament in locker miteinander in Verbindung stehenden und ein bisschen unraffiniert arrangierten Episoden hinterher.

esbegabsichaberzuderzeitama2 560 Andreas Etter uAuf der Suche nach dem Sinn: Christina Tzatzaraki, Paul Simon © Andreas Etter

Da gibt es etwa die Frau, die ihren Mann bei einem Verkehrsunfall verliert und am Grab auf eben jenen Fahrerflüchtigen trifft, der ihn überfahren hat. Andere Episoden spielen im Krankenhaus. Ein Blinder wird sehend, ein Mann in Zwangsjacke führt sich mal wie ein Hahn auf, um sich später als Jesus zu entpuppen. Dazwischen werden Biografien skizziert, Mutter Teresa kommt zu Ehren und auch Karlheinz Böhm. Gläubige und gute Menschen, warum gerade diese bleibt ein Geheimnis.

Dann wieder konfrontiert Jonigk christliche Ideale mit den alltäglichen Bösartigkeiten der Figuren. Die Eifersucht steht der Barmherzigkeit im Weg, der Hass der Gnade. Heraus kommt eine mehrstimmige Meditation über die Frage, was das eigentlich alles soll: wir, das Leben und der Rest.

Mangel an Dringlichkeit

Wenn man das Stück liest, hat man den Eindruck, dass man daraus was machen könnte. Leider fällt dem Regisseur Thomas Jonigk weniger ein als dem Autor Thomas Jonigk. Letzterer hatte etwa die Idee, Wortbeiträge von Menschen einzuspielen, die erklären, was sie sich unter Erlösung oder einem guten Menschen vorstellen. Auf der Bühne plätschert stattdessen bloß Musik aus dem Ghettoblaster.

Die Inszenierung wirkt sparsam. Dem Text mangelt es zudem an gedanklicher Schärfe sowie an Dringlichkeit. Obendrein verlässt er sich zu sehr auf die Pointen der von ihm zitierten Denker. Die Buhs, die eine Zuschauerin in den vorderen Reihen in den Schlussapplaus spendet, hat sich der Abend weiß Gott verdient.

Das meiste ist Schweigen

Beinahe zwei Stunden läppert er dahin und gebärdet sich dabei oft unaufregend fade. Die Schauspieler machen das nicht wett, auch wenn sich Paul Simon energisch in seinen Existenzschmerz hinein schreit und Janning Kahnert dem Arzt und dem Täter mit derselben Abgeklärtheit Raum geben kann. Gern aber herrscht Schweigen, Stillstand, Leerlauf. Womöglich ist das ja die Idee gewesen? Der leere Himmel lässt grüßen. Ausstatterin Lisa Däßler hat dafür in jedem Fall eine hohe dunkle, am unteren Rand splitternde Wand auf die Bühne gestellt. Davor warten sieben (sic!) Stühle, die schon mal umgeschmissen und danach wieder aufgerichtet werden.

Esbegabsich3 560 Andreas Etter uGöttliche Narren: Evelyn M. Faber und Tobias Lutze © Andreas Etter

Ein wahrer Lichtblick sind die beiden Narren, die Stück wie Inszenierung zusammenhalten. Evelyn M. Faber, die schon seit Jahrzehnten auf der Bühne des Wiesbadener Staatstheaters steht, und Tobias Lutze, der erst zum Ende der Spielzeit engagiert wurde, geben ein wundervolles Gespann ab. Dabei sehen sie aus wie Bibelverkäufer in der Fußgängerzone und führen sich auch so auf. In unmöglichen Klamotten und Frisuren verziehen sie ihre Gesichter zu frömmlerischen Grimassen und verstehen es, mit nur einem Blick eine gut sitzende Pointe zu platzieren. Das ist in seiner Narrenfreiheit von einer so kompakt, stilsicheren und großzügigen Komik, dass man die Auftritte der beiden an diesem Abend sehnlicher erwartet als die Ankunft des Herrn.

 

Es begab sich aber zu der Zeit
Uraufführung
von Thomas Jonigk
Regie: Thomas Jonigk, Ausstattung: Lisa Däßler, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Evelyn M. Faber, Tobias Lutze, Paul Simon, Kruna Savić, Janning Kahnert, Matze Vogel, Christina Tzatzaraki.
Dauer: 1 Stunde und 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

Von (trotz augenzwinkernd lakonischen Figuren) "eher ungereimten Episoden" schreibt Brigitta Lamparth im Wiesbadener Kurier (19.6.2017). "Aber auch der oft zähe Abend trägt schwer: am eigenen Anspruch, mit dem die an sich oft klugen Betrachtungen zum Leben und zum Glauben überfrachtet werden. Ganz plakativ wird es bei den unzähligen, zu gewollt wirkenden Zitaten: Da wird 'Erlösung' zum Kreuzworträtsel-Ergebnis, der Blinde (Matze Vogel) kann prompt wieder sehen und die Ärztin wäscht die Füße des Propheten und trocknet sie Maria-Magdalena-mäßig mit ihren Haaren. Ach, Gott."

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