Im Randständigen das Wesen

von Christian Rakow

München, 24. Juni 2017. Da ist es passiert. Als sich Jürg Kienberger, Raphael Clamer und Stefan Merki quer zur Rampe an Heimorgeln aufbauten und einander überbietend eine Wall auf Sound auftürmten und Ueli Jäggi mit einem Schluck Gary-Brooker-Originalstimme "A Whiter Shade of Pale" heraus schmeichelte, da öffneten sich die Herzen, und ich schwör's, es reckten sich Hände im Parkett unwillkürlich nach vorn, und viel fehlte nicht, dass sie sich mit Unterwäsche zum Liebeswurf gefüllt hätten.

Und als Jäggi dann noch den seligen Leonard Cohen vor unseren Ohren auferstehen ließ und also tief, so tief den "Sound of Silence" schnurrte, da war es um uns geschehen. Und ein bis dahin guter Abend wurde ein großer. An großen Abenden ist alles auf erhaben unpassende Weise stimmig, selbst noch die von Annette Paulmann schonungslos geschmetterte "Fischerin vom Bodensee (ist eine schöne Maid, juchhe!)" – direkt im Anschluss an die Classics von Procol Harum, Simon & Garfunkel.

Klausurdruckkammer 55b

München hat lange auf Christoph Marthaler verzichten müssen (2002 war er zuletzt an den Kammerspielen). Jetzt kommt der stille Maestro zurück an die Maximilianstraße mit einem Thema, das ihn unlängst schon am Hamburger Schauspielhaus in Die Wehleider umtrieb: das sieche, alte Europa, das sich gegen die neuen globalen Wanderungsbewegungen abschotten will. Marthaler verankert den Stoff in München mit unbedingtem Willen zum Regionalkolorit.

tieferschweb1 560 Thomas aurin uDer Kachelofen als einzige Verbindung zur Außenwelt: In der Ratskammer
von Christoph Marthaler und Duri Bischoff @ Thomas Aurin

Am tiefsten Punkt des Bodensees, im titelgebenden "Tiefen Schweb", hat sich hier eine kafkaeske Kommission, die "geheime Klausurdruckkammer 55b" verschanzt, um Probleme zu diskutieren, die an der Wasseroberfläche entstehen: Dort oben, über dem Tiefen Schweb, ist auf Fahrgastschiffen eine Wohneinheit mit Zugewanderten gebildet worden, und nun – so mutmaßt man – kommt die Biosphäre aus dem Gleichgewicht und fremdartige Bakterien bedrohen den Bodensee.

Idealbayerische Einbayerung

In einer holzvertäfelten Ratskammer, die Bühnenbildner Duri Bischoff mit eindrucksvoll verschwimmenden Raumperspektiven und verborgenen Nebenzimmern eingerichtet hat, treten die Verwaltungsangestellten in tristen grauen Anzügen zur Lagebesprechung zusammen. Annette Paulmann poetry-slammt die Tugenden des Behördenmenschen von A wie Ausdauer bis Z wie Zivilcourage heraus. Ueli Jäggi katalogisiert mit Muße die ausländischen Namen für "Bodensee". Und Hassan Akkouch darf seine "idealbayerische Einbayerung" nachweisen, indem er sämtliche Zutaten der Weißwurst rekapituliert.

tieferschweb2 560 Thomas aurin uWalter Hess übt das Heideggern, derweil Jürg Kienberger am Ventilrad dreht
© Thomas Aurin

Im Stakkato der Sitzungsprosa, im Mix aus eingelassenen Heimatliedern und betont verspannten Selbsterklärungen der Figuren entsteht das überzeichnete Bild einer Bunkermentalität. Selbst der gelegentliche Außenweltkontakt über einen riesigen grünen Kachelofen, der eine Ecke des Raumes füllt, führt den Eingeschlossenen keine Frischluft zu. Sie stehen unter Druck, mitunter bebt der Raum, und dann springen sie zu ihrem Ventilrad, drehen es panisch und retten sich so gerade noch vor dem Untergang. Danach geht es weiter wie zuvor. Das alles ist eine hübsche kleine, eben mit kafkaesker Selbstverständlichkeit vorgetragene Parabel. Und doch hat sie eher Schmunzelwert als – hö, hö – Tiefgang. So etwa eine Stunde lang.

Urinal-Quartett

Dann aber werden die Musiken zahlreicher, das Heimatliedgut mischt sich mit Bach-Kantaten, und von Bach ist es selbstredend ein kurzer Schritt bis zum Barockpop von "A Whiter Shade of Pale". Auch Marthalers Bildphantasie hebt in der zweiten Hälfte des zweistündigen Abends ab. Die zwischen Annette Paulmann und Olivia Grigolli verhandelte Frauenfrage, ob die Kommission in ihrem Unterwasser-Panicroom überhaupt Toiletten hat, führt in höherer Zwangsläufigkeit zu einem herrlichen Quartett: Männer stülpen sich Urinale über den Kopf und jodeln. Memorabel.

Fraglos streut Marthaler auch mächtig Zucker: Die kolossale Modenschau mit kühn verschnittenen Trachtenkleidern und Lederhosen zum Höhepunkt des einsetzenden Mummenschanzes – da hätte Kostümbildnerin Sara Kittelmann eigentlich umgehend auf die Bühne kommen können. Sie wäre vom Publikum auf Händen aus dem Saal getragen worden.

Der marthalerisch-kafkaeske Behördentypus

Und doch sind es keine hohlen Effekte. In einem so beiläufigen wie tiefen Gespräch unterhalten sich Ueli Jäggi und Walter Hess (beim Urinieren am Pissoir) in Heidegger'schem Duktus über das "Wesen des Ausschuss-Menschen". Herrlicher Doppelsinn: Ausschuss als Gremium und Ausschuss als Abfall. Das Wesen des Ausschuss-Menschen, sagen sie, sei über sein "Nicht-Wollen" zu bestimmen. Also über das, was er ablehnt, aber auch über das, was ihm so unwillkürlich unterläuft. Wie eben seine schrägen Einlassungen, seine schiefen Verkleidungen, seine zunehmend irreale Heimatsehnsucht.

Aus diesem doppelbödigen Diskurs heraus formt Marthaler seine Poesie: Das Nicht-Wollen ist der Schlüssel. Der periphere regionalistische Tand, das ausbleichende Liedgut, das stete Stocken der Figuren erzählen die eigentliche Wahrheit über diesen kafkaesken Behördentypus. Sicher kann man abgeklärt sagen, das ist eh die hohe Kunst des Christoph Marthaler: im Anhängsel einen Kern zu erblicken, im Randständigen das Wesen. Nicht erst heute. Aber eben: heute!

 

Tiefer Schweb
von Christoph Marthaler
Regie: Christoph Marthaler, Konzeption: Christoph Marthaler, Malte Ubenauf, Ueli Jäggi, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Sara Kittelmann, Licht: Jürgen Tulzer, Musikalische Leitung: Jürg Kienberger, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Ueli Jäggi, Olivia Grigolli, Hassan Akkouch, Annette Paulmann, Walter Hess, Jürg Kienberger, Stefan Merki, Raphael Clamer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"'Tiefer Schweb' ist ein Marthaler-Abend wie er im Buche steht. Voll sanftem Witz und unbeirrbarem Hang zur Rührung. Stets im richtigen Tonfall und Rhythmus vorgetragen. Man kann gar nicht anders, als die vielen gestischen und sprachspielerischen Übertreibungen zu lieben und sich einzulassen auf den surrealen Phantasiekosmos, der einem hier geboten wird", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

"Ja, der Abend hat wunderbare Szenen, aber er ruht sich schon auch auf Marthalerismen aus und verliert sich zwischendurch in Schrulligkeiten, Putzigkeiten, Harmlosigkeit", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (26.6.2017).

"Marthaler jongliert lässig aus der regionalen Binnenperspektive mit den Imponderabilien einer im Umsturz begriffenen Welt" und stelle sich anarchisch der Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld der Identitäten, schreibt K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (26.6.2017).

Für Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (25.6.2017) "haben die Münchner Kammerspiele mit 'Tiefer Schweb' von Christoph Marthaler nun ein Juwel auf dem Spielplan, das viele Zweifler an dem Programm von Intendant Mathias Lilienthal zumindest an ihrem Zweifel zweifeln lassen könnte".

Marthaler feiere die Kunst, "sanft und ironisch wie immer". Sein Abend sei wie Heimkommen ins Berlin der 90er, schreibt Sabine Leucht von der taz (27.6.2017)

"Wunderbar bescheuert" findet Michael Skasa in der Zeit (29.6.2017) das "gelegentlich allzu sinnfreie Treiben dieser Beamten von Seldwyla". Zwar sei Marthaler und seinem Dramaturgen Malte Ubenauf "nichts sonderlich Erhellendes zum Thema (welchem Thema?) eingefallen". Jedoch: "Man muss diesen Albersinn einfach lieb haben", befindet Skasa.

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