Lasst uns albträumen!

von Dorothea Marcus

Köln, 25. Juni 2017. "Aus dieser Distanz kannst du wirklich nicht sagen, dass irgendwas falsch läuft", sagen Dorothy und Joseph aus Detroit, als sie vier Kilometer vor ihrem Kölner Hotel auf der Severinsbrücke aussteigen und sich einen Blick auf die Domsilhouette erlauben. Was für eine Fehleinschätzung – in Wirklichkeit steht Deutschland vor dem Zusammenbruch: Schweine laufen durch die Straßen, knackige Aliens werden als Appetithäppchen für Karnevalspartys in Käfigen gezüchtet, die Straßen werden durch unvermittelt ausbrechende Revolutionen verstopft – und am Ende mäht eine Terroristengang alles nieder.

Das ist in Kürzestform die Handlung von "Germany 2071", dem neuen Film des New Yorker Künstlerduos Nature Theatre of Oklahoma, den sie im letzten Jahr im Auftrag des Impulse-Festivals Köln und der Berliner Festspiele mit Hunderten von Laien drehten (die Autorin war in Köln dabei und hat in einer kannibalistischen Kneipenszene mitgespielt).

Germany 2071 1 560 Nature Theatre of OklahomaKollektiver Karnevalsrausch © Nature Theatre of Oklahoma

In Wirklichkeit erstreckt diese Handlung sich jedoch auf mäandernde zweieinhalb Stunden: ein schwarzweißes computerspielhaft künstliches Abenteuer, das sich, da rückwärts gedreht, im permanenten grotesken Verfremdungsmodus befindet. Dorothy (Sylvia Bertelmann) und Joseph (Sebastian Krekow), die abwechselnd aus der Ich-Perspektive erzählen, sind Laiendarsteller aus Köln. Im Film sind sie ein Zaubererpärchen, paranoide Hobbydetektive, die  wackelnd und vorsichtig tastend, in stoischer Eifrigkeit und aus der Welt gefallener Eleganz ihr Hotelzimmer nach Wanzen durchsuchen.

Aufstand der Außerirdischen

Sie treffen auf das geheimnisvolle Zimmermädchen Regina, verirren sich trotz Navigationsimplantat im Ohr im Wald, wo sie rituellen Beschwörungszeremonien beiwohnen, probieren auf einer Karnevalsparty Fleisch von Außerirdischen, das im "Zuchtkontrollraum" entstand, werden tragisch auseinandergerissen. Dorothy liegt in einem verrotteten Horror-Hospital, dem sie fünf Millionen chinesische Yen zahlen muss und vorher auf der Suche nach dem Krankenhaus durch alptraumartige Räume wandert, die unter anderem das Flugfeld Tempelhof und pittoreske Berliner und Kölner Verfallsruinen sind. Währenddessen wird Joseph unter Kreuzberger U-Bahn-Brücken von einer "Andrea" verfolgt, trifft "Baron Bruno", Leiter des "Kolonialen Karnevalsklans", mit seinen drei Prinzessinnen-Töchtern, findet endlich Dorothy wieder, kauft ihr Schuhe.

Germany 2071 2 560 Nature Theatre of OklahomaKollektiver Angstrausch © Nature Theatre of Oklahoma

Es gibt prügelnde Putzfrauen, erhitzte Auktionen nackter Außerirdischer, die zum Schluss endlich gegen ihre Unterdrückung aufbegehren, woraufhin sie von einem Seemonster-Karnevalswagen und nackten Polizistinnen verfolgt werden. Man könnte weitere Details endlos aneinanderreihen, die Prise Sex macht es nicht spannender – letztlich wirkt die Handlung wie ein wirrer kindlicher Alptraum, ein Stolpern durch Assoziationsräume.

Auch die Sprache hat etwas Kindlich-Reduziertes: In Deutschland im Jahr 2071 werden in jedem zweiten schlicht konstruierten Hauptsatz die Worte "buchstäblich" und "total" gesagt, stets werden emotionale Zustände auch noch mal mit "Zwinkergesicht"-Emojis oder einem "LOL" kommentiert – wie auch alles, was auf der Leinwand zu sehen ist, nochmals im Off beschrieben wird. Historische Topoi werden pflichtschuldig gestreift: Die skandalöse Kölner Opernbaustelle wird als "Baustelle Nationalstolz" durchschritten, das Top-Thema aus 2016, "Flüchtlinge", erwähnt, Bänke sind rassistisch-antisemitisch nicht für "Außerirdische" zugelassen.

Der Weg als Ziel

Letztlich ist die Zukunftsvision von Deutschland so schlicht, dass man auch bei größtem Wohlwollen nicht viel hinter den Metaphern entdecken kann. Vermutlich ist das auch nicht die Absicht. Denn der Fokus der künstlerischen Arbeit des Nature Theatre of Oklahoma, das schon zu Theatertreffen und Ruhrtriennale geladen war, liegt stets auf dem partizipativen Entstehungsprozess ihrer Arbeiten.

"Wir wollten mit Publikum arbeiten, es zur Kamera machen", sagt Kelly Copper vor der Filmpremiere im WDR-Funkhaus, in dem ein großer Teil der Dreharbeiten stattfand. Das Publikum aus seiner Passivität zu holen, es zum lustvollen Mitwirkenden am ästhetischen Prozess, einer wilden Fantasiereise, zu bewegen – in dieser Hinsicht ist der langatmige, redundante, anstrengende und alberne Film mit Sicherheit gelungen. Zumindest die Dreharbeiten im Kölner "Hallmackenreuther" waren irgendetwas zwischen skuriller Party und kreativem Happening, bei dem man sich nach Belieben kostümieren, bewegen und viele Leute kennenlernen konnte, während die heiser bellenden Anweisungen von Kameramann Pavel mehr wie ein Hintergrund-Leitfaden und keinesfalls als autoritär-absolutistische Künstlervision wirkten.

Man fragt sich allerdings schon, ob es – apropos Zukunftsvision – nichts Dringenderes zum Nachdenken gegeben hätte.

Germany Year 2071
Vom Nature Theater of Oklahoma (Kelly Copper und Pavol Liska)
Übersetzung Ulrich Blumenbach, Dramaturgie: Nadine Vollmer, Musik: Andreas Bick.
Mit: Sylvia Bertelmann, Juliana Jobe, Sebastian Krekow, Detlef Liehr, Monika Loser, Matthias Mathies, Wolfgang Michel, Sorin Pascu, Lara Roth, Marie Yan & BürgerInnen der Städte Köln und Berlin; live am Trautonium: Peter Pichler.
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, keine Pause

Koproduktion: Akademie der Künste der Welt, Berliner Festspiele
www.festivalimpulse.de

 

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