Jenseits der Väter

von Sascha Westphal

Bochum, 29. Juni 2017. Am Ende von Gotthold Ephraim Lessings "Nathan der Weise" lösen sich alle Verwicklungen und Verwechslungen in familiärem Wohlgefallen auf. Der Sultan Saladin, seine Schwester Sittah, der Tempelherr und Nathans Mündel Recha sind eine große Familie, in der auch der jüdische Kaufmann noch einen Platz finden wird. Was die Religion streng geteilt, ist schließlich wieder fest verbunden. Dieser hoffnungsvolle Gedanke erfüllt auch die neueste Arbeit des kainkollektiv. Mit "Hagar" stellen Fabian Lettow und Mirjam Schmuck Lessings Ideendrama eine – wie sie es nennen – "Globe Opera Performance" an die Seite, die direkt zu den Wurzeln der drei großen monotheistischen Religionen zurückführt.

Nebenfigur im Fokus

In der Genesis ist Hagar nur eine Nebenfigur, eine Frau am Rande der Geschichte Abrahams. Als ihm seine Frau Sara auch nach Jahren der Ehe noch kein Kind geschenkt hat, nimmt sich Abraham in Ägypten die Sklavin Hagar als Nebenfrau und zeugt mit ihr seinen ersten Sohn Ismael. Doch dann gebiert ihm Sara im hohen Alten von 88 Jahren mit Isaak einen legitimen Stammhalter. Daraufhin entscheidet sich Abraham, seinen Erstgeborenen und dessen Mutter zu verstoßen. Er schickt sie im wahrsten Sinne in die Wüste. In der christlichen und jüdischen  Kultur, in der sich die weiteren Erzählungen auf Abraham und Isaak konzentrieren, haben sich Hagars und Ismaels Spuren dort zwar nicht endgültig verloren. Aber sie sind trotz ihrer Rettung durch einen Engel Gottes mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Nicht so im Islam, in dem Ismael als Stammvater der Araber und Prophet verehrt wird.

hagar 9564 560 Diana KuesterWe are Family: Kerstin Pohle, Kristina Peters, Edith Voges Nana Tchuinang, Simin Soraya; im Video: Florian Lauss, David Guy Kono © Diana Kuester

kainkollektiv greift die in der Bibel wie in der Tora und dem Koran überlieferten Geschichten und Legenden um Hagar auf und ergänzt sie durch "eine vierte Version der Geschichte". Entsprechend teilen sich in ihrer vom Schauspielhaus Bochum und dem Ringlokschuppen Ruhr koproduzierten Performance gleich vier Darstellerinnen diese Rolle. Kristina Peters, Kerstin Pohle, Simin Soraya und Edith Voges Nana Tchuinang verkörpern gemeinsam Hagar und bringen dabei jeweils eigene Erfahrungen ein. So erzählt die Sopranistin Kerstin Gabriele Pohle von einer Legende innerhalb ihrer Familie, nach der ihrer "Urururururururururoma" einst der Erzengel Gabriel erschienen sei. Während sie sich Hagar also auf einer persönlichen Ebene nahe füllen kann, hadern die Katholikin Kristina Peters und die aus dem Iran stammende Simin Soraya mit ihrer Religion und deren Auslegung.

Neue Lesart

Die patriarchalischen Traditionen, aus denen sie stammen und mit denen sie aufgewachsen sind, lasten schwer auf diesen drei Performerinnen, die Hagar letztlich eher suchen als spielen. Im Gegensatz zu ihnen kann sich die in Kamerun geborene Schauspielerin Edith Voges Nana Tchuinang viel freier und auch offener positionieren. Mit ihr kommt eine neue Lesart der Legende ins Spiel. Wenn sie langsam um den großen drehbaren Würfel herumgeht, der das Zentrum von Zdravka Ivandija Kirigins Bühne bildet, und dabei ihren Bewegungen den Charakter eines altehrwürdigen Rituals verleiht, beschwört sie die Vision einer anderen, einer matriarchalischen Gesellschaft herauf. Die monotheistischen Religionen, die aus Abrahams Samen erwachsen sind, haben den Mann ins Zentrum gestellt. Und doch war Hagar, wie es einmal in der Performance heißt, "die erste alleinerziehende Mutter".

hagar 0251 560 Diana KuesterBühne und Kostüme von Zdravka Ivandija Kirigin © Diana Kuester

So wie in der Geschichte von Hagar und Ismael das Judentum, der Islam und das Christentum in einer Familie zusammenkommen, so vereinen sich in Fabian Lettows und Mirjam Schmucks Inszenierung die unterschiedlichsten Kunstformen. Ihre "Global Opera Performance" ist Schauspiel und Musiktheater, Konzert und Tanztheater. Gleich drei Chöre, ein jüdischer, ein protestantischer und ein konfessionsloser Kinderchor, sowie ein Sänger, der Suren aus dem Koran vorträgt und den muslimischen Gebetsruf anstimmt, beschwören eine spirituelle Atmosphäre herauf, in der sich die einzelnen Religionen und Überzeugungen nicht mehr konträr gegenüberstehen. Sie fließen vielmehr zusammen, ohne dabei ihre eigene Identität zu verlieren. In diesem ständigen In- und Nebeneinander liegt der Reiz dieses an Ideen und Eindrücken fast schon überreichen Abends.

Stilistisches Patchwork

Natürlich fügen sich die privaten Erzählungen der Performer, die dann irgendwann wieder in die alte Geschichte von Abraham, Sara und Hagar übergehen und sie so zugleich auf eine spielerisch leichte Weise in unsere Gegenwart holen, und die Arien aus Alessandro Scarlattis Oratorium "Agar & Ismaele", denen der Countertenor Florian Lauss und die Sopranistin Kerstin Pohle begleitet von einem Streichquartett eine ergreifende Intensität verleihen, nicht bruchlos zusammen. Zudem werden ihr Zusammenspiel von Catherine Jodoins und Antoine Effroys choreographischen Interpretationen der Legenden ebenso wie von Edith Voges Nana Tchuinangs und David Guy Konos ritualisierten Auftritten noch durchbrochen. So scheint sich diese Performance fortwährend selbst zu zersetzen. Alles zerfließt, und doch ist nichts beliebig oder gar überflüssig.

 

Hagar. Eine Globe Opera Performance
von kainkollektiv
Regie: kainkollektiv (Fabian Lettow, Mirjam Schmuck); Bühne und Kostüme: Zdravka Ivandija Kirigin; Dramaturgie: Mina Novakova; Musik: Rasmus Nordholt-Frieling; Streichquartett: Pedro Barreto, Birte Jahnke, Christian Styma, Williame Thierry; Video: Nils Voges; Produktionsleitung: Mina Novakova, Christina Schabert.
Mit: Kristina Peters, Kerstin Pohle, Simin Soraya, Edith Voges Nana Tchuinang, Antoine Effroy, Bianca Künzel, David Guy Kono, Florian Lauss, Catherine Jodoin, Issam Bayan, dem Bochumer Kinderchor, dem Chor BAT KOL DAVID, dem ECC-Choir und Montagschor aus Essen-Werden.
Dauer: 2 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de
www.ringlokschuppen.ruhr

Kritikenrundschau

Ralf Stiftel vom Westfälischen Anzeiger (30.6.2017) schreibt, der Mythos werde mit einer Vielzahl von Motiven überschrieben und aktualisiert. "Der Abend verbindet die vielen Stimmen und Stimmungen zu einem eindrucksvollen Ganzen." Auf die Beteiligung der Chöre und Musiker abzielend, schreibt Stiftel, die Inszenierung versuche einen "Brückenschlag zwischen den Kulturen des Ruhrgebiets".

"Die Performance bietet eine spannende Szenencollage zum Thema mit einzelnen durchaus differenzierten Betrachtungen", schreibt Karsten Mark in den Ruhrnachrichten (30.6.2017). Leider münde sie in eine "dann doch überraschend simple 'No Border'-Botschaft", die an überzogenem Pathos und Naivität schwer zu überbieten sei.

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