Kabale und Stiege

von Petra Hallmayer

München, 29. Juni 2017. Links und rechts führen Stufen auf der Bühne zu einem Treppenabsatz, von dem von Holzwänden verdeckt weitere Treppen abgehen. Mateja Koležnik hat Molières Komödie um den Heuchler Tartuffe, der sich bei dem reichen Orgon einnistet, in ein raffiniert konstruiertes Treppenhaus verlegt, ein Ort der zufälligen Begegnungen und heimlichen Aussprachen.

Damit knüpft die slowenische Regisseurin an ihre letzten Inszenierungen am Residenztheater an, ihre in einem Gerichtsvorraum angesiedelte Ödipus-Adaption und ihre den Blick auf ein Vor- und Durchgangszimmer beschränkende "Nora". Auch in "Tartuffe" spielt sich alles in einem Übergangsbereich, außerhalb der eigentlichen Wohnräume ab. In dem halbdunklen Treppenaufgang treffen sich die Figuren, die von allen Seiten herbeischleichen und -stolpern, belauern, belauschen und bespitzeln einander und schmieden konspirative Pläne.

Fremd im eigenen Haus

Sektflaschenschwenkend torkelt Orgons Familie zu Beginn umher, jeder knutscht mit jedem im Vorübergehen. Schwer atmend schleppt sich Orgon die Stufen herauf, ein Fremder in seinem eigenen Zuhause, der unter dem Einfluss des vermeintlich frommen Asketen Tartuffe dem wilden Treiben ein Ende bereiten will. Vergebens versucht sein Schwager Cléante (Bijan Zamani), dem Verblendeten die Augen zu öffnen, der dem falschen Prediger in fanatischer Bewunderung ergeben ist und beschlossen hat, seine Tochter mit diesem zu verheiraten. Wo blinder Glaube herrscht, lässt sich mit vernünftigen Argumenten nichts auszurichten. Orgon will die Wahrheit nicht hören über den Betrüger, den er unter sein Dach geholt hat.

Allein in Koležniks Inszenierung sind Wahrheiten eine Definitionsfrage und die moralischen Rollen keineswegs klar verteilt. Wir sehen keinen strategisch kalkulierenden Schurken, sondern einen Underdog, der jede Chance nutzt, die sich ihm bietet. Die aufgeklärte Gesellschaft, die  Tartuffe hasst und verachtet, mutet wie ein Haufen egoistischer Party-People und verwöhnter Wohlstandskinder an. Als ihr Vater Mariane (Nora Buzalka) zur Heirat drängt und ihr dabei einen Scheck überreicht, juchzt sie leise auf.

Tartuffe 560 Matthias Horn u 2Eine schreckliche nette Familie: Gunther Eckes, Nora Buzalka, Sophie von Kessel, Christian Erdt
© Matthias Horn

Aus Berechnung macht Orgons Frau Elmire (Sophie von Kessel) Tartuffe schöne Augen, der, als er sich ihr annähert, tatsächlich wie ein junger verwirrter Verliebter erscheint. Wer Philip Dechamps Tartuffe wirklich ist, der immer wieder die anderen stumm beäugend durch die Szenen huscht, kann man lange nicht mit Gewissheit sagen. Nur einmal, nachdem ihm Orgon seinen gesamten Besitz geschenkt hat, lacht er fassungslos triumphierend auf.

Auf Orgon, der sich seiner Familie und mit ihr dem liberalen Bürgertum entfremdet hat, übt Tartuffes moralischer Fundamentalismus eine fatale Anziehungskraft aus. Als dessen Gönner möchte er sich von seinem schlechten Gewissen freikaufen, er dient ihm als Projektionsfläche für seine Sehnsucht nach Idealen und verbindlichen Glaubenssätzen, einem nicht von Eigennutz und Materialismus regierten sinnerfüllten Leben.

Späte Einsicht

Gedämpft wie die Farben der eleganten Kostüme ist auch der Ton der streng stilisierten Inszenierung. Oliver Nägeles Orgon tritt als ein schwacher, oft gespenstisch ruhiger Familiendespot auf, der sich mit Hilfe Tartuffes gegen den Verlust seiner Macht wehrt und diesen stur verteidigt. Selbst als er von dessen Avancen gegenüber Elmire erfährt, genügt ein tränenumflortes Mea culpa, ein melodramatisches Reuebekenntnis Tartuffes, um ihn wieder butterweich zu klopfen. Erst durch eine wunderbar groteske  arrangierte Lauschszene erkennt er Tartuffes Unaufrichtigkeit. Da aber hat er ihm schon sein Vermögen überschrieben. 

Tartuffe 560 Matthias Horn u 3Oliver Nägele steht als Orgon im Zentrum der Intrigen, links: Bijan Zamani © Matthias Horn

Auch wenn mitunter schöne Dialogpointen aufblitzen und Charlotte Schwabs resolute Zofe für ein paar lustige Momente sorgt, viel zu lachen gibt es nicht an diesem Abend. Koležnik nimmt Molières Komödie radikal ernst. Dadurch entstehen einige in ihrer eingedämmten Komik spröde Passagen, doch mit welcher Konsequenz und fantastischen Detailgenauigkeit die Regisseurin ihre Lesart umsetzt, und wie stimmig diese letztlich wirkt, ist bestechend. Ohne plakative Textaktualisierungen, unaufdringlich und klug gelingt es ihr mit einem überzeugenden Ensemble, Molières Stück in die Gegenwart zu führen.

Im Finale tragen die Gerichtsdiener ein riesiges Madonnenbild aus dem Haus, während die enteigneten Bürger sich ihre Pelze und Vasen schnappen. Aus dem Happy End, das der König als Deus ex machina bei Molières schließlich herbeizaubert, wird bei Koležnik eine starke düstere Schlussszene.

 

Tartuffe
von Molière
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Alan Hranitelj, Musik: Mitja Vrhovnik-Smrekar, Licht: Gerrit Jurda, Choreographie: Matija Ferlin, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Nora Buzalka, Philippe Dechamps, Gunther Eckes, Christian Erdt, Sophie von Kessel, Oliver Nägele, Paul Wolff-Plottegg, Arnulf Schumacher, Charlotte Schwab, Ulrike Willenbacher, Bijan Zamani.   
Dauer: 1 Stunden und zwanzig Minuten, keine Pause
    
www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Nach 75 Minuten sei die Aufführung vorbei, vermissen aber werde man "bei ihrer konzisen und konzentrierten Textfassung keinen Aspekt des Stücks", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.7.2017). Koležnik beherrsche ihr Handwerk perfekt. "Sie hat auch tolle Ideen wie die lustige Szene, in der die Familie an Besitzständen zu retten versucht, was noch geht, und ein riesiges Altarbild über die Treppen bugsiert wird. Aber alles, was sie macht, bleibt da oben auf der Bühne, kümmert einen nicht. Ihr 'Tartuffe' bleibt eine schöne Bibliothek."

Koležnik drehe die Vorzeichen der Komödie "auf überraschende und kluge Weise um", findet Sven Ricklefs auf BR2 (30.6.2017). Sie schicke ihren Tartuffe "als eine Mischung aus Mozartschem Cherubin und jenem namenlosen jungen Fremden aus Piere Paolo Pasolinis berühmtem Film Teorema auf die Bühne, der allen als Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte und Befürchtungen dient". Die Inszenierung komme "sehr elegant daher". Sie zeige "auf ebenso leise wie mutige Weise, wie man einem vermeintlich eindeutigen Klassiker völlig neue Nuancen abgewinnen kann".

Mateja Koleznik inszeniere die Komödie "völlig illusionslos", schreibt Matthias Hejny in der Abendzeitung (1.7.2017). "Nicht nur das Molièresche Happyend erscheint bei ihr vergiftet, sondern sie hat keine Sympathie für niemanden." Obwohl sie die bigotte Atmosphäre im Hause weitgehend gestrichen habe, bleibe der Eindruck einer hochentwickelt scheinheiligen Sippe. Die größte Überraschung sei Philip Dechamps als Tartuffe: "Sehr jung und schmal huscht er durchs Anwesen und lässt lange zweifeln, ob er wirklich der Schurke ist, für den manche ihn halten."

Alexander Altmann vom Oberbayerischen Volksblatt (1.7.2017) sah einen "komödiantisch-abgründigen Psychokrimi". Das Stück mache beiläufig erahnbar, "worin die Faszination jeder Art von Fundamentalismus liegt. Und warum auch vernünftige, pragmatische Leute immer wieder auf Gurus jeder Couleur hereinfallen – von politischen Rattenfängern ganz zu schweigen."

Patrick Bahners schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.7.2017): Ein "ungemein konzentrierter Abend": fast "ohne Requisiten, fast ohne Farben, ein asketisches Exerzitium, aber ein reines Vergnügen". Es erreiche seinen Höhepunkt, als die von Tartuffe geschickten Gerichtsvollzieher ein "riesiges goldenes Altarbild" die Treppe hinuntertrügen. Der königliche Bote als Deus ex machina sei gestrichen. "Orgon stirbt. Die Wahrheit ist, dass ihm in Gesellschaft nicht zu helfen war."

 

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