Angstschweiß auf der Stirn

von Elisabeth Maier

Karlsruhe, 30. Juni 2017. Mit deutlicher Mehrheit hatten die Mitglieder des Deutschen Bundestags in Berlin vor Stunden erst die Ehe für alle auf den Weg gebracht. Vor dem Staatstheater Karlsruhe weht die Regenbogenfahne. Das Timing passt. Einige Premierengäste kommen direkt von der Siegesfeier in der Innenstadt. Rote Herzchenlollies und Federnboas können indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesellschaft weltweit der Politik hinterherhinkt.

Verfolgung und Flucht

Dass die Debatte über Vielfalt und Gleichberechtigung noch ganz am Anfang steht, zeigen Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura mit ihrem neuen Projekt "Nowhere Out". In der dichten Uraufführung auf der Studiobühne spüren die Schauspieler Schicksalen geflüchteter Homo-, Bi- und Transsexueller nach – LGBT ist das internationale Kürzel für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender. Und obwohl nun auch in Deutschland hetero- und homosexuelle Paare formal gleichgestellt werden, ist es noch ein sehr langer Weg, bis sich die Mehrheit der Menschen wirklich dafür öffnen wird.

Nowhereout1 560 Felix Gruenschloss uVerstellte Perspektiven, verschlossene Wege, die Bühne von Robert Moonen im Studio. Antonia Mohr, Marthe Lola Deutschmann, Jonathan Bruckmeier, Gunnar Schmidt  © Felix Gruenschloß

Für die Geflüchteten scheinen solche Perspektiven völlig verstellt. Peitschenhiebe, Steinigung oder Folter erwarten Homosexuelle in ihren muslimischen Heimatländern. Oft steht auf gleichgeschlechtlichen Sex die Todesstrafe. "Mein Vater wollte mich umbringen, als er erfuhr, dass ich lesbisch bin" – die Worte der jungen Muslima schmerzen. Nicht einmal ein drohender Ehrenmord oder die Todesstrafe gelten im Asylverfahren als Fluchtgrund. Und in den Flüchtlingslagern geht die Demütigung weiter. Gunnar Schmidt erstickt die Stimme, wenn er den schwulen Mann verkörpert, der im Heim vor brutalen Machos tanzen muss. Davor schützt ihn kein Gesetz.

Große Porträts mehrfach unterdrückter Menschen

Auf Rob Moonens karger Bühne schränken Gitterzäune den Spielraum ein. Videos halten Erinnerungen an die Flucht wach. Projektionen hüllen die Bühne in bunte Farben. Jens-Uwe Beyers Musik peitscht Emotionen hoch. Auf einem Plastikstuhl sitzt die Entscheiderin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Angstschweiß der Geflüchteten, die vor ihr zittern, drückt sie mit Raumspray weg. Marthe Lola Deutschmann kostet den Zynismus der jungen Frau, die ihre Macht gegenüber Schutzbefohlenen missbraucht, hemmungslos aus. Antonia Mohr als Supervisorin entlarvt die Kälte dieser Frau, die aus eigener Tasche Süßigkeiten für die Flüchtlinge kauft, mit klugen Fragen.

Das neue Dokumentartheater von Kroesinger und Dura überzeugt gerade deshalb, weil das Regieteam sich nicht die Sicht der Muslime zu eigen macht. Vielmehr tasten sie sich vorsichtig an das Problemfeld heran. In die kluge Textfassung, die auf Interviews ebenso basiert wie auf wissenschaftlicher Recherche, fließen viele Perspektiven ein. Den kranken Küchenrassismus der amerikanischen Videobloggerin Elizabeth Johnston, im Netz bekannt als "Activist Mommy", die über den "Geschlechterwahnsinn" herzieht, betrachten die Theatermacher ebenso wie Protokolle von Flüchtlingsbefragungen. Viele Interviews hat Dramaturg Jan Linders mit Geflüchteten geführt, die in Deutschland und Europa um ihre neue Existenz ringen. Die großen Porträts der Geflüchteten, die Johannes Bruckmeier spielerisch entwickelt, legen die Unterdrückung, der Männer und Frauen nicht nur in der muslimischen Welt ausgesetzt sind, überzeugend offen.

Im dokumentarischen Material finden die Schauspieler Schicksale, die berühren. Dass sie dabei manchmal in eine verzweifelte Ironie abdriften, verwässert den starken Eindruck, den der Abend insgesamt hinterlässt. Anders als in der Erfolgsproduktion Stolpersteine Staatstheater über die nationalsozialistische Vergangenheit der Karlsruher Bühne, die 2016 zum Theatertreffen eingeladen war und auch in Europa und China gastiert, hilft da manchmal nur die Flucht in ein erschrockenes Lachen. Der Aussagekraft des hoch aktuellen Zeittheaters, von Kroesinger und Dura mit innovativen Theaterformen umgesetzt, tut das keinen Abbruch. Ihr Blick auf ein totgeschwiegenes Thema bereichert die Debatte über Gleichstellung und Ehe für alle um einen unverzichtbaren Blickwinkel.

 

Nowhere Out
Dokumentartheater von Hans-Werner Kroesinger und Regie Dura
Uraufführung
Regie: Hans-Werner Kroesinger, Textfassung: Regine Dura, Bühne, Kostüme und Video: Robert Moonen, Musik: Jens-Uwe Beyer , Dramaturgie: Jan Linders.
Mit: Marthe Lola Deutschmann, Antonia Mohr, Jonathan Bruckmeier, Gunnar Schmidt.
Spieldauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staastheater.karlsruhe.de

 

Kritkenrundschau

Marie-Dominique Wetzel urteilt auf der Website von swr 2 (3.7.2017): "Thema verfehlt". Bei "Nowhere out" sollte es eigentlich um homosexuelle muslimische Flüchtlinge gehen, tatsächlich handle der Abend wieder "von uns". Interviews mit dem Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch oder Zitate von Magnus Hirschfeld dominierten den Abend. Die anderthalb Stunden würden "zäh". Die Schicksale der Geflüchteten gingen in dem "aufgeregten Geplapper" fast unter. Streckenweise wirke das Ganze wie "überdrehtes Impro-Theater". Erst gegen Ende gewinne der Abend durch ein "nachgespieltes Interview" mit einer Mitarbeiterin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge "an Relevanz". Das offenbare eine Mischung aus "haarsträubender Naivität, Unfähigkeit und Zynismus". Insgesamt wirke der Theaterabend "als hätte das Team zu wenig Zeit gehabt – oder sich zu wenig Zeit genommen".

Adrienne Braun schreibt auf der Website der Süddeutschen Zeitung (3.7.2017) Kroesingers Lehrstunde bringe das Publikum "erst einmal auf den Stand der Debatte". Die Schauspieler wollten dem Publikum nahebringen, dass es selber einer Randgruppe angehöre, denn "Theater ist der Ort für Minderheiten schlechthin." Unangenehm sei der "zynische Tonfall", wenn es um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geht. Statt "tiefer einzutauchen" in die "besondere Situation der homo- oder transsexuellen Migranten", begnüge sich der Abend mit "Behörden-Bashing". Dann wieder heiße es "Wir können auch Flüchtlinge". "Was denn nun?" Auch die Spielszenen überzeugten nicht immer, am stärksten sei "Nowhere Out", wenn dokumentarisches Material "sachlich zitiert" werde.

 

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