Im Zeichen der Netz(werk)moderne

Thomas Oberender im Gespräch mit Wolfgang Behrens und Esther Slevogt

Berlin, 2. Juli 2017. Dieses Wochenende markiert einen Epochen-Umbruch in der Berliner Theaterlandschaft. Am Berliner Ensemble verabschiedet sich Intendant Claus Peymann, an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz endet die 25-jährige Intendanz von Frank Castorf. Ihm folgt mit Chris Dercon ein Museumskurator als Theaterintendant nach, eine Entscheidung, die einen Kulturkampf ausgelöst hat. Am 1. Juli begannen die Berliner Festspiele die 2. Ausgabe ihrer Programmreihe Immersion. Unter anderem eröffnete das Duo Vegard Vinge und Ida Müller ihr Nationaltheater Reinickendorf. Die Reihe "Immersion" will erklärtermaßen ein Augenmerk auf ästhetische und formale Paradigmenwechsel in der Darstellenden Kunst richten. Mit Thomas Oberender, dem Intendanten der Berliner Festspiele, sprachen Wolfgang Behrens und Esther Slevogt am Beispiel Berlin über Institutionen und Formate im Umbruch. Das Gespräch fand am 26. Juni 2017 im Haus der Berliner Festspiele statt.

nachtkritik.de: Sie haben schon vor ein paar Jahren prognostiziert, dass die Unterschiede zwischen den Stadttheatern mit ihren festen Strukturen und den Festivalträgern zunehmend verschwinden werden. Mit dem Bekanntwerden der Pläne für die Volksbühne 2017/18 wurden nun Befürchtungen laut, Berlin schaffe sich hier schwierige Doppelstrukturen. Die künftige Ähnlichkeit mit Institutionen wie dem Berliner HAU, den Sophiensälen oder den Berliner Festspielen bis hin zum Künstlerstamm – siehe Boris Charmatz, Susanne Kennedy, Mette Ingvartsen oder Tino Sehgal – ist ja nicht zu übersehen.

Thomas Oberender: Wir haben es tatsächlich mit einer einschneidenden Veränderung der Berliner Theaterlandschaft zu tun. Aber: Berlin hat drei Opernhäuser, die sich dasselbe klassische Repertoire teilen und pro Jahr eine zeitgenössische Position hinzufügen. Es gibt fünf Sprechtheater, mindestens zwei Kinder- und Jugendtheater. Wenn man es mit etwas Abstand betrachtet, ist in der Stadt Platz für eine Vergrößerung jenes Segments, das in der Regel kooperativ produziert. Darin besteht ja der Unterschied zwischen Playern wie dem HAU, den Sophiensälen und den Berliner Festspielen zu anderen Bühnen: Wir produzieren in der Regel nicht exklusiv, wie etwa das Deutsche Theater für sein Haus, sondern sind Netzwerkproduzenten.

thomas oberender 560 magdalena lepka uThomas Oberender im Haus der Berliner Festspiele © Magdalena Lepka

Nun erleben wir, dass die Volksbühne als bisheriges Repertoire-Theater, das exklusiv produziert, in diese kooperative Netzwerkstruktur eintreten wird. Aus Sicht der frei produzierenden Künstler ist das sogar sehr gut. Ich habe diesen Künstlern gegenüber oft ein schlechtes Gewissen, wenn wir ihnen nicht den Platz und das Geld bieten können, auf die sie als freie Produzenten angewiesen sind. Die Festspiele organisieren Ausstellungen und unterschiedliche Festivals, die sich grundlegend vom Programm des HAU oder der künftigen Volksbühne unterscheiden: MaerzMusik, Theatertreffen, Musikfest, Jazzfest und seit letztem Jahr die Programmreihe "Immersion", in deren Rahmen wir bisweilen auch koproduzieren. Der Mondparsifal von Jonathan Meese z.B. entstand in Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen. Grundsätzlich versuchen wir in der Reihe "Immersion" allerdings etwas Anderes zu entwickeln. Unsere Idee zielt eher darauf ab, etwas zu tun, was in der Regel weder ein Repertoiretheater noch Festivals leisten können.

Produktionen wie von Vegard Vinge und Ida Müller im Nationaltheater Reinickendorf können nicht touren, da sie viel zu aufwändig gebaut und durchzuführen sind. Mona el Gammals Rhizomat haben wir über Monate entwickelt und gespielt – das heißt, wir ermöglichen Künstlern Produktionen, die es in anderen Systemen schwer hätten. Mit Omer Fast oder "Limits of Knowing" produzieren wir Ausstellungen, die das Format "Ausstellung" anders begreifen und das Gehäuse "Museum" und "Theater" anders bespielen. So kommen wir mit anderen Playern in der Stadt kaum ins Gehege, selbst wenn mit dem Humboldtforum bald noch ein weiterer, interdisziplinärer Produzent mit einem vermutlich sehr großen künstlerischen Budget erscheinen wird.

Das Humboldtforum segelt mit Programmleiter Stefan Schmidtke bislang unterm Radar aller Debatten um die Neustrukturierung der Berliner Landschaft.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann stehen auch dort die ersten Theater- und Konzertprogramme ins Haus. Doch dort zerstört man nichts. Das ist der Unterschied. An der Volksbühne hatten wir das modernste Stadttheaterkonzept der Welt mit einem riesigen Ensemble frei assoziierter Künstler, das von einem Hochleistungs-KBB gemanagt wurde – mit Produktionsstrukturen, die auf künstlerischen Familien beruhen, die viele Jahre und Jahrzehnte zusammengearbeitet haben. Das wird aufgelöst mitsamt dem Know-how, wie man aus diesen sehr spezifischen, an künstlerischen Interessen orientierten Infrastrukturen einen Repertoirespielplan für mindestens zwei Spielstätten mit Nebenspielstätten generiert. Momentan kann man noch nicht sagen, ob die Volksbühne unter Dercon ein Repertoire produzieren wird oder ob sie sich in Zukunft eher wie das Théâtre Vidy in Lausanne definiert: als Produktionshaus mit eigenem Spielplan, das mit einer Stadttheaterinfrastruktur Produktionen entwickelt, die dann im Netzwerk touren.

SchlossOstfassade 560 FoerdervereinSchlossNoch unterm Radar der Strukturdebatten: Das Humboldtforum im wiederaufgebauten Schloss © Förderverein Berliner Schloß

In diesem Bereich nehmen die Festspiele eine ziemlich einzigartige Position ein – wir produzieren, sieht man vom Gropius-Bau ab, nicht 365 Tage Programm, sondern ziemlich spezielle Sendeplätze, die sehr eng mit der Zukunft dieser Infrastrukturen alten Typs verbunden sind – bisweilen priorisieren wir z.B. Formate im Vergleich zu Werken oder achten darauf, wo aus neuen Werkformen Formatstrukturen entstehen – denken Sie an "The Long Now" und "Thinking Together" bei MaerzMusik, an Shifting Perspektives beim Theatertreffen oder die Schule der Distanz und Limits of Knowing jetzt bei Immersion. Wir versuchen, für die Berliner Festspiele eine Signatur zu entwickeln, die innerhalb der Festivals sehr stark das erkundet, was unsere Infrastrukturen gegenwärtig herausfordert, sie stresst und genau an diesen Stellen so etwas wie den Kanon von morgen bilden könnte. 

Fühlten Sie sich nicht von der Politik vor den Kopf gestoßen, als die Volksbühnen-Entscheidung bekannt gegeben wurde und in den Plänen bald auch Namen von Künstler*innen aufgetaucht sind, mit denen Sie schon lange zusammengearbeitet haben?

So ist es nun mal. Claims abstecken gibt's nicht. Jedenfalls nicht für lange. In den Sprechtheatern der Stadt läuft ja auch ständig ein Wettbewerb: Sehen Sie, was Thomas Ostermeier von der Schaubühne mit dem Ensemble von Ulrich Khuon am Deutschen Theater oder was Oliver Reese am Berliner Ensemble mit Ulrich Khuons Spielplanideen macht – das ist Teil eines fluiden Systems, in dem Personen und Konzepte wechseln. Profile entstehen ohnehin eher durch Haltungen als durch Namen.

Wenn Sie mich auf die Volksbühne direkt ansprechen, ist ja der Schmerz ein anderer: Es ist grobianisch, wie man mit dem Haus und seiner Geschichte umgeht, das ich als eine noch nicht erledigte Modellstruktur empfinde. Stadttheater können ja schnell auch Kunstvernichtungsbetriebe werden, wenn die Erfordernisse des Betriebs die der Künstler opfern. Bei der Volksbühne hatte ich immer den Eindruck, dass hier die Kunst an erster Stelle steht und es trotzdem eine Repertoiremaschine gab, etwas, das von der großen Bühne her das eigene Metier an die Grenzen trieb. Und diese Volksbühne war nach wie vor eines der produktivsten und interessantesten Häuser weltweit. Was jetzt passiert, ist ein Systemwechsel. Und es kann durchaus sehr interessant sein, was da in Zukunft entsteht, aber dieser seltene Fall von geglücktem, radikalem Bollwerktheater ist als Produktionsmodus dann erstmal weg.

AbtransportOstVolksbuehne 560 ThomasAurinSymbolträchtiger Abtransport des "Ost"-Schriftzugs am 24. Juni 2017 vom Dach der Berliner Volksbühne @ Frieder & Thomas Aurin

Aber auch Sie haben mit einer altehrwürdigen Institution durchaus gespielt und sie mehrfach einschneidend umgebaut: das Berliner Theatertreffen. Da gibt es die Auswahl, die auf der Basis eines anspruchsvollen und aufwändigen Juryverfahrens zustande kommt und neuerdings von Programmen umstellt wird, bei denen man nicht mehr genau weiß, welche Auswahlkriterien hier zu Grunde liegen, etwa bei den Gastspielen des Rahmenprogramms "Shifting Perspectives".

Yvonne Büdenhölzer begreift das Theatertreffen genau wie ihre Vorgänger*innen sicher nicht als eine Gastspielserie von zehn Stücken, sondern als ein Festival. Deshalb geht es zentral um die Frage, wie wir die Strahlkraft dieser zentralen Zehnerauswahl nutzen, um ein Nachdenken über größere Entwicklungen in der Theaterlandschaft zu organisieren und über Herausforderungen, die sich im kulturpolitischen und gesellschaftlichen Zusammenhang an die Theater stellen, zu diskutieren. Das Theatertreffen hat in seiner Geschichte immer wieder neben der Zehnerauswahl der Jury auch selbst Einladungen ausgesprochen. Und seit langem besteht es aus drei Modulen: Zentrum ist die Zehnerauswahl. Das zweite Modul ist der Stückemarkt, der auch von einer prominenten Jury kuratiert wird. Das dritte Modul ist international. In diesem Jahr war das "Shifting Perspectives", in das unser "Internationales Forum" integriert ist, sowie unsere neue, vorerst auf drei Jahre vereinbarte Kooperation mit dem Goethe-Institut. Hier kommen Perspektiven von außen in dieses Festival des deutschsprachigen Theaters, Sichtweisen, die nicht zwingend europäisch sein müssen. Dafür möchte Daniel Richter einen Sharing space schaffen, der auf Begegnungen ausgerichtet ist, nicht auf Resultate und Spitzenleistungen.

Von verschiedensten Stimmen ist jedoch der Vorwurf des Überkuratierens des Theatertreffens geäußert worden. Kuratieren ist ja ein vollkommen gegensätzliches Vorgehen zum Juryentscheid: eine Jury operiert jenseits inhaltlicher und produktionstechnischer Vorgaben und orientiert sich ausschließlich an der Qualität der gesichteten Produktionen. Sie agiert gewissermaßen stellvertretend für das Publikum, während der Kurator tendenziell aus der Perspektive der Produzierenden denkt.

Die Jury wurde im Laufe der Jahre immer größer, wir haben ihre Arbeitsbedingungen verbessert, an ihrer zentralen und festivalprägenden Rolle gibt es gar keinen Zweifel. Wenn man diese Zehnerauswahl als organisierte Gruppenausstellung betrachtet, dann ist sie für uns jedes Jahr der Spiegel, in den man schaut, um das Orakel zu befragen: Welche künstlerische Position erwies sich als besonders kraftvoll, erneuernd im eigenen Schaffenszusammenhang des Künstlers oder auch für die Theatersprache unserer Zeit? Wer setzt Impulse, die uns die Welt und das Metier anders sehen lassen? Dass das Festival diese Denkanstöße aufgreifen und pointieren will, empfand ich immer als eine wesentliche Qualität des Theatertreffens – und wir haben hier in den letzten Jahren sehr heftige Debatten geführt, Stichwort Blackfacing und "Disabled Theatre" – oder, ausgehend vom Figurenbegriff von Susanne Kennedy oder Ersan Mondtag, Brücken zur Bildenden Kunst geschlagen. Vielleicht ist das ein Angebot, das unser Denken über zeitgenössische Kunst polyperspektivischer macht.

Es ist aus unserer Sicht eine Frage der Blickrichtung und des Diskurses. Die Jury hat einen Blick aufs Theater, der nicht institutionell ist. Kuratoren hingegen neigen dazu, Kunstwerke nicht mehr als autonome Produktionen zu betrachten, sondern sie stattdessen zu verwenden, um eine These zu bestätigen, wobei das Kunstwerk nur noch die Rolle des Corpus Delicti spielt. Der amerikanische Philosoph und Kunstkritiker Arthur C. Danto sprach vom "Aufstieg des Kurators zum kulturellen Unternehmer, der Ausstellungen als diskursbestimmende Stellungnahmen lanciert", dass also die Kuratoren im Grunde der Kunst die Richtung vorgeben wollen, Danto spricht gar von "Auftragskunst". Ist das der Weg, den sie nun mit der Reihe "Immersion" eingeschlagen haben? Hier treten Sie ja nicht nur einladend, sondern auch produzierend auf.

Die "Immersion"-Reihe entstand zunächst aus einem Interesse an bestimmten Werkformen und Erlebnissituationen von Kunst, die man zum Beispiel in den Arbeiten von Rimini Protokoll oder Lundahl&Seitl entdecken kann. Diese Arbeiten sind raumschaffend, sie oszillieren zwischen Aufführung und Ausstellung und erzeugen statt Handlungen Situationen, denen ich als Besucher nicht einfach nur gegenüber stehe, sondern die meine Anwesenheit vorsehen und ins Werk aufnehmen. Oft bin ich in diesen Arbeiten "mitten drin". Dafür steht für uns der Begriff "Immersion" – er ist eine Art Sonde. Der große Unterschied zu einem Festival ist, dass ich bei dieser Programmreihe kein Format bedienen muss – es geht nicht um 10 Tage, die man füllt, von außen nach innen, sondern wir gehen von den Werken aus, geben ihnen mehr Raum, als sie sonst je bekommen würden und entwickeln daraus die Struktur.

Wie würden Sie den Suchbefehl von "Immersion" formulieren?

Macht ist kein top-down Phänomen mehr. Wenn die uns beherrschenden Kräfte nun viral sind, affektiv, kybernetisch, wie kann man sie reflektieren, erfahren, dem Widerstand entgegen setzen? Uns interessiert daher ein Übergang zu Werkformen, die dem Betrachter nicht gegenüberstehen, sondern einladen, in sie einzutauchen. Immersion an sich ist ja weder gut noch schlecht, progressiv oder konservativ, sondern erst einmal eine wirkungsdramaturgische Kategorie.

NationaltheaterReinickendorf 560 ScreenshotWebseite von Vinge/Müllers "Nationaltheater Reinickendorf" Bild: Screenshot

Das Immersive ist ein Zeitphänomen. Wenn Sie bei Google eine Suchanfrage starten, dann erzeugt der Algorithmus von Google eine Antwort. Die eigentliche Antwort ist für Google aber meine Frage selbst. Denn sie sagt Google, was mich interessiert. Je mehr Google darüber Bescheid weiß, desto mehr wird auch die Antwort vorausberechnet, die ich bekomme. Das ist etwas Anderes, als wenn ich ein Lexikon aufschlage. Ich lese das Lexikon, aber das Lexikon liest nicht mich. Im Lexikon steht immer die gleiche Antwort. Bei Google nicht. Das Immersive findet sich auch in Wirtschaftsmodellen von Uber bis Airbnb.

Uns interessiert, wie Künstler diese Struktur aufgreifen und benutzen, um etwas herzustellen, was eigentlich das Gegenteil der immersiven Erfahrungen ist, die uns täglich überwältigen, nämlich progressive und emanzipatorische Erfahrungen zu stimulieren.

Trotzdem entstehen bei vielen immersiven Formaten antiaufklärerische Effekte, weil ein*e zum Teil der Performance gewordene Zuschauer*in im Sinne der Performance funktionieren muss, die er oder sie anders gar nicht mehr rezipieren kann. Das hat aus unserer Sicht eine große Nähe zu kapitalistischen Konsumwelten, in denen der Einzelne sich preisgeben muss, um Teil des Systems zu bleiben. Ist das nicht problematisch, wenn die Gegenüberstellung von Kunstwerk und Zuschauer aufgehoben ist? Sie lag ja auch dem aufklärerischen Ansatz z.B. von Brechts Epischem Theater zugrunde, das einst die Forderung erhob, eine Inszenierung müsse immer auch als solche erkennbar bleiben.

Wir dürfen Kunst nicht nur als Instrument betrachten. Sie ist eine Sprache. Und dieser aufklärerische Ansatz hat sich ja nicht erledigt. Künstler, die im immersiven Feld arbeiten und uns interessieren, wie Ed Atkins, Vegard Vinge und Ida Müller, sind Leute, die in ihren Arbeiten sehr stark das eigene Medium reflektieren, uns auf das Medium hinweisen und auf seiner Künstlichkeit beharren. Das Werk bleibt auf kluge Weise – ich will das jetzt gar nicht mit Brecht vergleichen – als Form erkennbar. Immersion ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit Seinsvergessenheit, Instrumentalisierung oder Überwältigung. Im Gegenteil: man kann diese Struktur auch nutzen, um ein politisches Stück wie "Rhizomat" zu machen. Obwohl hier die Form immersiv ist, ist die Intention und alles, worum es der Künstlerin Mona el Gammal geht, eher Brecht von heute: ein Stück, das gegen die Gehirnwäsche, gegen das unbewusste Regiert-Werden durch ein Orwell'sches System eine Art von Exitstrategie vorschlägt.

Rhizomat3 560 Michael Rudolph uOnce upon a time im Überwachungsstaat: Detail aus "Rhizomat" von Mona el Gammal
© Michael Rudolph

Die Arbeit von Mona el Gammal wurde aber auch dafür kritisiert, dass ihr Thema zwar Widerstand gegen ein totalitäres System sei, aber der/die Zuschauer*in in der Arbeit selber keine Möglichkeit zum Widerstand bekomme. Wenn sie/er sich beispielsweise weigern würde, in die Kammer zu gehen, in der vermeintlich die Gehirnwäsche droht, wären die Geschäftsbedingungen der Performance aufgekündigt. Der/die Zuschauer*in müsste nach Hause gehen. Das ist schon eine andere Form von Zwangsausübung als einfach nur in einem Zuschauerraum zu sitzen.

Das stimmt. Aber das ist auch das Interessante. Immersion macht ein Erfahrungsangebot wie eine Achterbahnfahrt. Wenn Sie sagen: Das geht mir aber auf die Nerven, dass das immer so steil runtergeht und dann wieder hoch – dann ist halt die Achterbahn falsch für Sie, und Sie müssen da irgendwie raus. In der Achterbahn ist es schwierig, bei Mona el Gammal nicht.

Als Sie vergangenes Jahr mit "Immersion" an den Start gingen und bekannt wurde, dass es über vier, fünf Jahre diese große Förderung von der BKM geben würde, entstand auch der Eindruck, Sie würden sich der Forschung widmen wollen: Wie könnte im digitalen Zeitalter analoge Kunst überhaupt aussehen. Wieweit treiben sie überhaupt eigene Forschung?

Ein gutes Beispiel dafür ist das Projekt "Limits of Knowing". Damit kommen wir an einen Randbereich des Umschlags von Forschung in der Kunst und Kunst als Forschung. Am Ligo-Laboratory am California Institute of Technology gelang 2015 der Nachweis, dass Einsteins Relativitätstheorie stimmt, dass also Zeit kein konstantes, absolutes physikalisches Phänomen ist, sondern relativ, sprunghaft, dynamisch. Wie aber kann man das erfahrbar machen? In Kalifornien arbeiten Wissenschaftler, die sich gleichzeitig an künstlerischen Modellversuchen erproben, dafür mit Künstlern zusammen. Deren Versuchsanordnung holen wir jetzt in die Ausstellung Arrival of Time. Eine Ausstellung, in der die Kuratorin anwesend und für die Besucher ein ansprechbarer Partner ist. Das Hinterland aus Recherche und Theorie, das sich normalerweise nie der Diskussion öffnet, wird lebendiger Teil der Ausstellung.

LimitsofKnowing Haptic Field 560 c JirkaJansch uEinkleidung in Hightech zum Kunstgenuss: "Haptic Field 2.0" von Chris Salter & TeZ   © Jirka Jansch

Zum Schluss noch einmal eine Frage zu den Berliner Festspielen insgesamt: Wo sehen Sie diese Institution in den nächsten Jahren?

Ich denke, wir machen Transformation sichtbar. Unsere Institution ist eine Hardware, mit der wir das Verhältnis des Kunstwerks zum Format neu justieren und Denkanstöße geben, Veränderungswege aufzeigen wollen: Was heißt Aufführen? Was heißt Ausstellen? Im Zentrum steht für uns dabei die Singularität und Radikalität künstlerischer Positionen. Diese Radikalität ist in der Regel Ausdruck sehr zugespitzter Ideen und politischer Haltungen. Diese hintergründigen Prozesse wollen wir verstehen und reflektieren. Sie sind der Schlüssel für das Verstehen unserer Zeit. Und die Künstler geben ihn uns in die Hand.

 

Mehr zum Thema:

- Das große Eintauchen - Über das neue Zauberwort "Immersion". (5/2016)

- Rhizomat – Mona el Gammal eröffnet das neue Immersive-Arts-Programm der Berliner Festspiele. (10/2016)

- Mondparsifal Alpha 1-8 (Erzmutterz der Abwehrz) – Jonathan Meese holt bei den Wiener Festwochen seinen Wagner nach. (6/2017)

Limits of Knowing – In ihrer immersiven Museumsschau testen die Berliner Festspiele das Potenzial von Formaten zwischen Aufführung und Ausstellung. (7/2017)

 

 

mehr porträt & reportage

Kommentare  
Gespräch Oberender: das Löschen der Subjekte
Schöne Debatte für Theaterfreaks und Investoren. Und wann reden Sie über die Arbeitsbedingungen z.B bei der Eröffnungsproduktion im NT Reinickendorf? Oder redet die Zeichenhaftigkeit der (Netzwerk)Moderne mit Ihnen? Auch da schlechtes Gewissen oder nur gegenüber hyper-privilegierten Künstler_innen, die lokale Strukturen schamhaft ausnutzen, denen Sie gerne einen "Raum" geben? Auch diesbezüglich Gedanken? Auch da Öffnung? Oder heißt Öffnung nur mystische Performances und das Löschen der Subjekte in den Stücken oder oder oder?
Gespräch Oberender: Einwände
Das Problem bei diesen Oberender-Gesprächen ist, dass er so klug zu formulieren weiß. Das kann er m.E. (noch) viel besser als Chris Dercon zum Beispiel. Vor allem, wenn er so kluge Fragen gestellt bekommt. Es scheint für ihn eine unüberwindbare Hürde zu sein, einmal eine nicht klug klingende Antwort, sondern eine einfache Antwort, die nichts anderes eben unkompliziert verdeutlicht, als er es lieber kompliziert und hochintelligent klingend verdeutlichen möchte. Bösartige Zungen tun das sich leider immer mehr ausbreitende, zeitgenössische Rede-Problem mit dem verächtlichen Wort „Kuratorensprech“ ab. Das ist schade. Denn es begnügt sich damit, eine Verachtung zu zeigen für etwas, das man vermeintlich ohnehin nicht ändern kann. Dabei kann man! Man kann andere Menschen zu den gleichen Dingen befragen zum Beispiel. Oder den Befragten um eine nochmalige, einfachere Antwort zur selben Sache bitten, die zum Beispiel auch ein Kind verstehen könnte notfalls. Weil man darauf besteht, dass auch Kinder schon die Welt begreifen können müssen, in der ihre Eltern leben und von der sie dadurch ebenfalls beeinflusst sind. Wenn die Kulturinstitutionen u.a. einen Bildungsauftrag haben und den ernsthaft erfüllen wollen, müssen sie sich um so eine Art Verständigung bemühen oder sie erfüllen nachweislich schon einmal eine ihrer Aufgaben für die sie bezahlt werden, nicht.
Doch ich habe - ihn dabei freundlich grüßend - konkrete Einwände gegen Thomas Oberenders Argumentation:
1. Ich weiß, dass Achterbahnfahrten nichts für mich sind, weshalb ich in Achterbahnen nicht einsteige. Deshalb ist es für mich auch keine Schwierigkeit aus ihnen herauszukommen. Weder aus den echten, noch aus denen von Mona Gammal.
2. Die Papiere und Zeugnisse der staatlichen Kontrolle finden sich in meinen wie in weltweit vieler anderer Leuts privaten Unterlagen ebenso wie bei Gammal. Nur anders angeordnet und durchaus geschmäht, wenn man einmal über sie reden möchte mit jemandem. Was ich also vom Gammals „Rhizomat“ lernen kann – und zwar nur allein durch den Bericht über das Projekt - ist, dass es eine Frage der Anordnung, der Wahrheits-Werbeförderung durch staatliche Mittel und eine Frage der Kaufkraft ist, für solche Papiere und stummen Zeugen staatlicher Kontrolle, Wahrnehmungsinteressenten zu finden.
Die dann vereinzelt erschüttert sind, nachdem sie ganz allein und vereinzelt, ohne dass sie dabei von den konkret von solcher Kontrolle Betroffenen belästigt werden durch Ansprüche an ihre Empathie undoder gar Empathiebezeugungen, die begehbaren Zeugnisse wahrgenommen haben.
Das wäre natürlich nicht so, wenn statt Gammal andere Leute oder z.B. ich gegen Eintritt Leute in meine Schränke schauen lassen würden oder in meinen Privatpapieren wühlen lassen würden in ihrer/meiner Anwesenheit.
Die Besucher müssten sich dann trotz des gezahlten Eintritts zu mir oder zu weltweit xy persönlich verhalten. Dies wird ihnen also durch Gammals Projekt erspart. Es wird ihnen also die Erkenntnis erspart, dass sie sich selbst verhalten müssen zum ganz konkreten Erleben anderer. Kann man gut finden als radikale künstlerische Haltung, die hinter einem Projekt steckt. Ich finde das nicht gut.
3. Wenn ich weiß, dass AchterbahnFAHRTEN nichts für mich sind (ich bin jedem anderen Auf und Ab mit überraschenden Wendungen und Loops gegenüber durchaus aufgeschlossen, wenn ich mich dabei ohne Transportmittel bewege!) – Warum also soll ich dann dafür bezahlen, etwas herauszufinden, was ich schon weiß???
Warum sollten andere, die das noch nicht von sich wissen, dafür statt auf die preiswertere Kirmis in die viel teurere Immersion-Vorstellung gehen, die sie dann auch noch vorzeitig ohne Geld-zurück verlassen, weil das ja unglaublich schnell festzustellen ist, ob Achterbahnfahrten nun was für einen sind oder nicht…?
4. Lieber Thomas Oberender, Sie betonen, dass Sie an den extremen Ausschlägen von politischen Haltungen und zugespitzten Ideen in der Kunst – auch auf dem Theater – interessiert sind. Aber das ist eine Haltung, die eindeutig primär auf Sensation aus ist.
Die kann man haben.
Aber man sollte es dann auch so nennen und nicht irgendwie mit angesagtem Kuratorensprech ummänteln, um sich vor Kritik an dieser Haltung zu bewahren. Mich interessiert im Unterschied dazu nur überhaupt eine Haltung beim Theatermachen. Und zwar eine, die sich unkommentiert nur mit dem Theater, das man macht, ausdrückt. Als selbstverständliche Begleiterscheinung, nicht als politisch korrekt gedachtes, bewerbbares und daher kommerziell verwertbares, Extra. Ist eine klare Haltung zu einem Sachverhalt unserer Lebenswirklichkeit vorhanden, bedarf es in der Regel auch keiner extra zugespitzten Ideen um Theater (oder Kunst?) zu machen, die Auswahl aus der Fülle der im kollektiven Arbeitsprozess auftauchenden Ideen reicht dann schon. Und genau DAS ist das Politische am Theatermachen.
Gespräch Oberender: danke!
danke für dieses interessante gespräch. ich wünsche herrn oberender viel erfolg und kluge mitstreiter - genau wie kritische beobachtung ohne sabotageabsichten seiner "modellversuche" - welche ja bei einer "alternativlosen politik ohne experimente" von mir am meisten befürchtet werden - sei es aus purer dummer geschwätzigkeit oder aus perfiden vorsatz.

der kulturkampf tobt - oder ist es die ruhe vor dem sturm?
Gespräch Oberender: Chamäleon
Thomas Oberender sagt zu allem möglichen dies und das und auch das Gegenteil. Da es stets von stupender Intelligenz und rhetorischer brillanz ist, weiss man nie so genau, was er wirklich meint, wo er steht. Für den muskulär unterentwickelten intellektuellen war das hau den Lukas jahrmarktsprinzip schon immer ein Problem. Denn da muss man entschieden und auf den Punkt zuschlagen. Das aber tut er nie. Und so bleibt alles " interessant" im ungefähren. Er sagt: nicht die Akteure, die Menschen, sind entscheidend, sondern die Haltung.
Das ist natürlich ein ziemlicher Unsinn in den Künsten. Trotzdem sei die Frage erlaubt, welche Haltung er denn hat, wenn das entscheidend ist? Mal vertritt er Botho Strauss, mal immersion, mal das Stadttheater, mal freie Produktionsformen. Wofür also steht er?
Gespräch Oberender: Beschreibungsversuch
Klug gedachtes und geführtes Gespräch, das beim Lesen viel Verständnis ermöglicht in die gegenwärtigen Transformationsprozesse in den Künsten. Also Danke @nachtkritik! Schön auch das Bekenntnis von Thomas Oberender zur Castorf-Volksbühne. #4 Lukas: das zum Beispiel ist doch Haltung und wenn alles im Wandel begriffen ist und sich verändert, müssen Sie vielleicht aushalten, daß diese Veränderung zunächst einmal beschrieben werden muss. Ein "Hau-den-Lukas-Prinzip" kann ich bei Oberender nicht erkennen. Eher einen tastenden Beschreibungs- und Annäherungsversuch.
Gespräch Oberender: Widerspruch
Die intellektuellen Reflektionen Oberenders über Veränderungen in Theater und Gesellschaft zeigen Haltung, auch wenn sie im Grunde nur zusammenfassen, was Stand der Diskussion und andernorts schon vielfach beschrieben ist. Dramaturgisch ist das klar gedacht und zeigt sein Interesse an Erkenntnisformen. Das Problem ist nur, dass sich tiefe Gräben auftun zwischen den gedanklichen Reflektionen und der Qualität der künstlerischen (Um)setzungen. Die taugen zwar als Beleg der Formatreflektionen, bleiben aber dennoch merkwürdig oberflächlich und illustrativ. Steht das dramaturgische Nach-denken hier dem künstlerischen Vor-denken im Weg? Oder fehlt die glückliche Hand bei der Künstlerauswahl?
Gespräch Oberender: Antwort
#6: m.E.: Ja, so ist es, steht ihm im Weg. - Wäre dem nicht so, wäre die Auswahl glücklicher.
Danke für die zwei schlichten, den Kern umstandslos treffenden Fragen.
Gespräch Oberender: Bekenntnis
#6
sein bekenntnis zu castorf´s volksbühne beinhaltet für mich auch die antwort auf ihre fragen, denn an diesem ort hätten sie eine praktische antwort finden können - was ja seit 2015 langfristig verhindert wurde
Gespräch Oberender: ungeklärte Struktur
Wie will man denn in einem immersiven System progressive und emanzipatorische Erfahrungen stimulieren, wenn man selber Teil des Kunstwerkes wird, dass ohne mich gar nicht mehr stattfinden kann, ein Kunstwerk in dem ich vorgesehen bin und das mich in sich aufnimmt als konstituierenden Moment, um überhaupt stattfinden zu können? Da ist doch von vornherein eine gegenseitige Abhängigkeit zum Kunstwerk von mir, dem Betrachter mit angelegt. Da lebe ich doch in den selben Verhältnissen und Machtstrukturen, die mich auslesen, wenn ich lesen, betrachten, hören möchte.

Es mag sein, dass dies möglich ist, aber hierzu bedürfte es eines theoretischen Überbaues, der diese Art der Rezeption plausibel machen könnte. Allein, dass es stattfindet und ich Teil des Kunstwerkes bin, ist ja noch kein Verweis darauf, dass ich mich zugleich auch von ihm, dem Kunstwerk emanzipieren könnte. Dafür müssten ja erst einmal die Einfallstüren des Manipulativen theoretisch geschlossen werden, denn das Erlebnis für sich hat noch keine emanzipierende oder progressive Wirkung, sondern ist eher dem Abenteuer, ähnlich einer Achterbahnfahrt, zuzuschreiben.

Über eine solch ungeklärte Struktur kann auch keine noch so intelligent angestrichene Sprache hinwegtäuschen.
Gespräch Oberender: Wir sind die Immersion
#9: Es stimmt ja nicht, dass wir erst heute ausgelesen werden können, wenn wir lesen, hören, betrachten wollen. Beispiel: Ein Buch registriert seit es Bücher gibt sehr wohl wie oft, an welchen Stellen genauer oder ungenauer ihm Aufmerksamkeit geschenkt wurde: viel gelesene Bücher z.B. sehen entsprechend abgegriffen aus, wurden nachaufgelegt, zur Not per Hand abgeschrieben, sie haben Einträge nach Besitzerwechseln, sie haben höhere oder niedrigere antiquarische Preise erzielt, sie enthalten Anstreichungen, Eselsohren, andere Arten von Markierungen, Querverweise zu anderen Büchern, Erfindungen oder Kunstwerken, Verleihvermerke etc. Die mögliche Immersion ist schon immer ein Angebot eines Werkes für den Betrachter, Leser, Hörer gewesen, die nur durch ihn, seine Wahrnehmung und seine Lerngewohnheiten zur wirklichen, jeweils individuellen Immersion wird.
Hier aber sollen wir lernen, dass Immersion etwas ultra Neues ist. Etwas, das nur durch die neuen digitalen Technologien als Erlebnis überhaupt möglich ist.
Und das ist falsch. Es ist ein Angebot, das uns um unsere individuelle Geschichte als Leser, Betrachter und Hörer betrügt und dadurch auch sich selbst um seine eigene Kultur.
WIR sind die Immersion die diese Art Immersion benötigt, um sich überhaupt als Immersion bestätigt zu sehen und wenn wir nicht da sind, ist sie keine... Die Kunst dieser nun Immersion genannten Kunst besteht dann darin, uns in die Wahrnehmung zu nötigen, nicht darin, uns in sie zu verführen - Aber's klingt halt so toll up to date...
Da steht bei dem und ähnlichen Titeln sofort die ganze IT-Branche helfend auf der Matte, weil sie Chancen für die Umsätze wittert, die durch die uns astrein als einzig mögliche Alternative erklärte technisierte Vergamung der Welt locken -
Die Struktur ist also gar nicht eigentlich ungeklärt - sondern verschleiert. Es besteht auch ein überaus vitales Interesse daran, dass sie verschleiert bleibt.
Gespräch Oberender: Kopfgeburten und Luftnummern
@ martin baucks

ich habe mich täuschen lassen von dem "anstrich der sprache" dem nun ganz reale fast 40.000 petitionsunterschriften entgegen stehen (neben kritisch begleiteten programmvorstellungen) und den "theoretischen überbau" als reine ideologische luftnummer erscheinen lassen - nicht nur beim konkreten fall der vb, sondern bei diversen kopfgeburten des politischen einflusses auf die kunst.

die "zukunft" der kunst wird in politiker-köpfen und deren willigen umsetzern gestaltet ... mit medialer begleitmusik ... die große lange weile mit sensationellen achterbahnfahrten wird die dichter und denker aus diesem zukünftigen "system" zu seltenen exoten machen und immer schneller fahrt aufnehmen ... bald wird keiner mehr achterbahn fahren, weil ihm schon beim zuschauen übel wird ...

... und immer schön abwarten und hoffen - ja nicht die politik stören, denn das wird nicht mehr KUNST genannt werden ... dafür werden ganz doll neue worte, strukturen und einfallstüren geschaffen
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