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von Dirk Pilz

4. Juli 2017. Diesmal eine Nachfrage an uns Zuschauer, namentlich die Theaterkritiker: Kommt die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Inszenierungen nicht ein bisschen sehr kurz derzeit?

Ich glaube nicht, wie der Kollege Till Briegleb kundtat, dass es zu viele Theaterkritiken gibt, aber ich fürchte, dass wir zu oft zu schnell fertig sind, zu leicht abhaken, zu eilig beklatschen, nämlich zu wenig konkret fragen, was der einzelne Abend überhaupt erzählt und behauptet. Dass wir zu ungenau und zu selten beschreiben, was die Schauspieler – oder Performer, je nachdem – treiben, was die dramaturgischen Setzungen, das Bühnen- und Kostümbild, die Licht- und Musikarrangements sollen. Ist das Reflektieren über die Kunst- und also auch Weltverständnisse nicht arg kurzatmig und gedankenarm? Gerade in diesen Umbruchs- und Unsicherheitszeiten auf der welt- wie der theaterpolitischen Bühne?

Keine Spielweise ist unschuldig

Geben wir uns womöglich zu rasch zufrieden, den einen als "Phänomen" zu preisen, den anderen als "Ausnahmeerscheinung"? Folgt man so nicht schlicht den eigenen ästhetischen Geschmacksvorurteilen? Was sagt man überhaupt, wenn man hier "Oberflächenschimmer" vermutet und dort abgrundtiefe "Schwebe-Kunst"? Welchen Weltanschauungen applaudiert man damit, welchen nicht? Und welche politischen Vorannahmen nickt man so ab?

kolumne 2p pilzEs gibt keine Auseinandersetzung über Kunst, die von den konkreten Inhalten absehen könnte, es lassen sich ja Inhalt und Form nie getrennt verhandeln. Keine Spielweise, keine Dramaturgie, keine Bühnensprache und kein Kostüm sind unschuldig. Und kein Kunstwerk lässt sich auf eine Botschaft festlegen, wenn es ein Kunstwerk ist, aber keines ist auch bloßes weltanschauungsbefreites Experiment, wenn es nicht schieren Formalismus bedient. Viele Inszenierungen treten mit hohen (und gern hehren) gesellschaftsanalytischen Ansprüchen auf. Müssen sie dann nicht auch daran gemessen werden? Reicht es, sie nach den üblichen Kriterien (neu, modern, postdramatisch etc.) zu rastern?

Was sagt denn eine "Assoziation zum NSU" wie der Abend Das Erbe von Olga Bach und Ersan Mondtag? Dass das "Erbe der Menschheit (...) immer nur eines des Bösen" sei? Ist Mondtag ein Verfechter der augustinischen Erbsündelehre? Und was ist damit über den NSU gesagt? Oder: Was erzählt die Filmtechnikwelt einer Katie Mitchell wie in Schatten (Eurydike sagt) über Frauen, den Feminismus und die Herrschaft der Technik? Und welche Welt lehnt man ab, wenn man diejenige der Selbstmord-Schwestern von Susanne Kennedy als "flache Bedeutungshuberei" geißelt?

Lasst uns über den Gehalt sprechen

Lob und Tadel sind fix formuliert, aber bräuchten wir nicht ästhetische wie politische Debatten über die auf den Bühnen verhandelten Behauptungen? Sollte man nicht wenigstens wissen wollen, welche Politiken und Gesellschaftsentwürfe man beklatscht oder beklagt? Stimmt es denn, zum Beispiel, dass ein Abend wie die Dortmunder Borderline Prozession von Kay Voges eine "Reflexion über den Terror der gleichzeitigen Ereignisse" darstellt? Und wenn es eine Reflexion ist und damit zum Bühnen-Sachbuch mutiert, wenn man es also mit einem "gespielten multimedialen Programmheft" zu tun hat, sollte man es dann nicht auch lesen, also über den reflexiven Gehalt sich unterhalten statt nur den bemerkenswerten Bühnenaufbau und die Spielform zu bewundern? Kann es sein, dass man vom Augen- und Ohrenschein viel zu schnell zu solchen oder solchen Urteilen kommt?

Warum wird, noch ein Beispiel, bei Castorf so gut wie nie nachgefragt, in welcher politischen Inszenierungswelt wir uns bei ihm befinden? Warum er von Malaparte bis Céline und Ernst Jünger besonders gern mit dem sogenannten "gefährlichen Denken" anbandelt? Weil er uns einen Spiegel vorhalten oder die eigenen Abgründe erforschen will? Wirklich? Wessen Geistes sind denn die ohne Zweifel "tollen" Schauspieler auf der "tollen" Bühne überhaupt? Nachdem die langen Volksbühnen-Abschiedsfeiern jetzt beendet sind, ist es nicht Zeit, vom Fan- oder Feindtum abzusehen, um darüber einmal nachzudenken?

Viele Fragen. Und ehe die Eiferer schäumen: Fragen natürlich auch an mich als Zuschauer und Kritiker. Arbeitsauftrag: Mehr Auseinandersetzung mit Kunst, mit Politik, mit Inhalten. Mehr Streit, mehr Nachfragen, mehr Innehalten. Jedes Theater ist so gut oder schlecht wie sein Publikum. Bloße Parteinahme ist keine Form von Mündigkeit, weder auf der Bühne noch im Parkett.

 

Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.


Zuletzt schrieb Dirk Pilz an dieser Stelle über das Fortschrittsdenken im Theater.

 

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