Sprung vom Dach der Volksbühne

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 1./6. Juli 2017. Wie fängt man an nach zwei mal zwölf Stunden in einer Theaterwelt, aus der es schwierig ist, den Ausgang zu finden? Die sich gleich zu Beginn selbst so hermetisch findet, dass der Regisseur-Diktator Vegard Vinge seinen Figuren und dem Publikum ein Loch in die Wand des "Nationaltheaters Reinickendorf" schlagen muss, damit sie den Eingang zum Zuschauersaal finden? Damit Baumeister Solness und seine Frau Alvine nicht bis in alle Ewigkeit Rotkäppchen-Sekt-Flaschen köpfen und über dem erwartungsvollen Premierenpublikum versprühen müssen.

Tor zum Guckkastentheater

Es ist wohl das beste, auch erstmal ein Loch hineinzuschlagen in die Wand dieser aberwitzigen, psychedelisch bunten Holz-Pappkonstruktion, die Vinge mit Ida Müller und unzähligen Mitarbeiter*innen geschaffen hat in einer Lagerhalle in Reinickendorf, bezahlt und veranstaltet von den Berliner Festspielen, die es Immersion nennen. Was gefühlsmäßig ganz gut passt am Morgen danach, von Vinge/Müller allerdings immer wieder in lustig-trotzig-schlauen Seitenhieben aufs Korn genommen wird, zum Beispiel gleich zu Anfang, wenn jeder Zuschauer sich aus einem Papp-Betonmischer einen Tischtennisball mit seiner Sitzplatznummer ziehen muss als erste und (sieht man mal ab von der Notwendigkeit des ein oder anderen Aufputsch-Kaffees, den man sich selbst besorgen muss) auch letzte aktive Beteiligung des Zuschauers an seinem individuellen Theatererlebnis.

Denn jetzt ist das Loch fertig: Und man sieht dadurch – ein Guckkasten-Theater. Einen Zuschauerraum, ausgemalt bis in den letzten Winkel mit schwarzen, bunt-marmorierten Wänden und Sitzbänken, Logen, aus denen deformierte Maskengestalten grienen, als wären sie einem Maskenbild von James Ensor entsprungen, und einen bunt gezickzackten Vorhang, über dem als gelbe Leuchtschrift "Welcome to the Pleasure Dome" flackert. Eine Ahnengalerie an der Rückwand hinter den Zuschauern stellt die Porträts von Richard Wagner und Henrik Ibsen nebeneinander.

IbsenSaga7 560 Nationaltheater Reinickendorf uAlles ausgemalt, und wie! Die Hamlet-Ibsen-Tosca-Saga von Vinge/Müller
© Nationaltheater Reinickendorf

Man riecht den Sektdunst von der Eröffnungs-Berieselung in den Klamotten der Mitzuschauer*innen, man riecht den Rasierschaum, der als Sprühsahne aus Pappgebilden quillt, mit denen Ida Müller zu später Stunde als "Psycho-Hamlet" den versammelten Hof von Helsingör tortet und mit Piepsstimme auf dem weinerlichen Satz "Ja, das ist gemein" hängenbleibt, bestimmt eine halbe Stunde lang.

Künstler als malendes Kind

Vor allem aber riecht man Farbe, was auch eine Sinnestäuschung sein könnte, denn immer wieder wird per Video Müller als Kind-Figur eingeblendet, wie sie am Küchentisch sitzt und malt und malt an einer Kulisse für die Maskenmonster, die hier zwischen der Produktwelt einer Jugend in den 80er/90er-Jahren (CKOne, Nike: "Just do it") und den Plakaten und Fan-T-Shirts der Helden aus Musik und Film (Pulp Fiction, Joy Division, Depeche Mode) herumstolpern, auf Satzfragmenten von Ibsen und Shakespeare hängenbleiben wie kaputte Schallplatten und der wehen weiten Welt schließlich verzweifelt ihre leckenden Körperöffnungen darbieten. Dies ist das Reich des Künstlers als malendes Kind, das gerade anfängt, die Tabus der Erwachsenen aufzuspüren.

Man hört Wagner, immer wieder "Parsifal"; es brausen Arien aus Puccinis "Tosca" auf und treten an gegen Verdis Requiem, und dann mündet alle Musik wieder in ein ohrenbetäubendes Stampfen, das klingt, als würden die Vingeaner hinter dem ZickZack-Vorhang eine Techno-Party feiern. Und wir, das Publikum, dachten schon, man hätte uns reingelassen ...

IbsenSaga6 560 Nationaltheater Roman Hagenbrock uWelcome to the Pleasure Dome des Nationaltheater Reinickendorf
© Roman Hagenbrock

Das Innerste des "Nationaltheaters Reinickendorf" will Mysterium bleiben, "heute abend geht es um Glaube", kündigt Vegard Vinge in der Premierennacht an, wobei diese Ankündigung neben so einigen anderen steht. Es geht auch um Depression, es geht um Mutterliebe, und es geht darum, wer besser ist, Verdi oder Puccini. Vor allem aber geht es darum, wer im "Nationaltheater Reinickendorf" das Sagen hat. Ob es der Intendant ist, ein alter Widerling mit künstlichem Darmausgang und dumpfer Stimme, Meister des jovialen Psycho-Terrors, Zerrbild des Patriarchats. Oder der smarte Geschäftsführer mit Quäkstimme, masken-optisch eine Mischung aus Charlie Chaplin und Berliner-Festspiele-Intendant Thomas Oberender.

Exzessive Bildwelten

Oder eben Vinge selbst, der sie nach Gutdünken auftauchen und verschwinden oder auch einander massakrieren (Intendant) bzw. abschaffen (Geschäftsführer) lässt und in bewährter Manier Szenen (in den ersten beiden Vorstellungen: aus "Hamlet", "Baumeister Solness" und "Tosca") wie Module aneinandersteckt, den Vorhang öffnen lässt zum Blick auf weitere exzessive Bildwelten, eine Leinwand "mit Gefühl" herunterfahren lässt, um eine Menge vorgedrehtes Videomaterial zu zeigen, Umbaupausen durch Pinkel-Performances überbrückt.

Als Performer ist er aber diesmal erstaunlich zurückhaltend, hält sich vom Zuschauerraum fern und hantiert mit Blut und Kot vornehmlich im voraufgezeichneten Video, etwa wenn die Kind-Figur Ragnar Brovik (aus "Baumeister Solness")/Hamlet von der Vater/Intendantenfigur einen Kurs in Actionpainting verpasst kriegt – mit "200 Litern Rinderblut" matschen die beiden die Wände voll, und der Vater dröhnt immer wieder: "Du musst gegen die Strukturen arbeiten, Ragnar!"

Geloopt, gesprungen, gerächt

Ist das dann doch eine zwiespältige Reverenz an Frank Castorf, parallel zu dessen letztem Abend an der Berliner Volksbühne (mit "Baumeister Solness") das Nationaltheater Reinickendorf eröffnete? Mutmaßlich aus Angst vor einem symbolischen Vatermord – Vinges "12-Spartenhaus" im Prater der Volksbühne mündete in eine Fehde zwischen Vinge und Castorf, die Vinge schließlich zum Hauptthema der Inszenierung machte – dekretierten die Berliner Festspiele, dass die eigentliche Premiere des "Nationaltheaters Reinickendorf" erst am 6. Juli, also mit der zweiten Vorstellung, stattfinde.

IbsenSaga7 VingeMueller 560 c Nationaltheater Reinickendorf 02 uParsifal-Ritter der anderen Art © Nationaltheater Reinickendorf

Aus der Anschauung beider Nächte heraus ergibt das keinen Sinn; alles, was in der Premiere steckte, steckte auch schon im "Opening", und auch wenn Vinge es sich am ersten Juli nicht nehmen ließ immer wieder süffisant Bezug auf die "Helden am Rosa-Luxemburg-Platz" zu nehmen, die dort "ihren letzten Kampf" kämpften und das mit Bildern eines Lemminge-artigen Massenselbstmordsprungs vom Dach der Volksbühne illustrierte – so hat er doch auch schon am 1. Juli den hasserfüllten potentiellen Vatermörder Ragnar Brovik aus "Solness" mit dem Vaterrächer Hamlet ausbalanciert.

Aber auch wenn man von Castorf und der Volksbühne absieht, hat Vinge/Müllers scheinbar zahmere Attitüde eine Eigenlogik; schreibt sich doch hier die mit dem "12-Spartenhaus" begonnene Institutionalisierung ihrer Kunst fort – die sie schon in ihrer ersten Zusammenarbeit, einem "Off-off-off-Ibsen-Festival" in Oslo als Gegenveranstaltung zum offiziellen Ibsen-Festival des norwegischen Nationaltheaters, angelegt haben. So wie Ibsen es überlebt hat, in den dramatischen Kanon aufgenommen zu werden, hat die Kunst von Vinge/Müller einen Glutkern in ihrer Suche nach Mantren unserer Zeit. "Ich tauge wohl auch nicht!", sagt die Kind-Figur wieder und wieder; während der Vater/Intendant/Baumeister eine "schreckliche Angst vor der Jugend" hat und die Mutter den Größenwahnsinn ihre Mannes anzetert: "Ich verspreche mir von deinem neuen Haus überhaupt nichts!" Sie alle hadern mit ihrem Schicksal, das als Text durch die Lautsprecher eingespielt wird, zu dem sie nur gestikulieren können. Und dabei wird ihr Bewusstsein aufgerissen und unseres mit.

Schmerz und Sprengkraft

Auch wenn also im Nationaltheater Reinickendorf die Spannung immer mal wieder auf 24-Stunden-Kino-Niveau absackt, weil die akute Bedrohung durch den randalierenden Vinge ein wenig fehlt – übrigens steht auf einer Seitenbühne ein Denkmal von ihm, wie er sich als John Gabriel Borkman in den Mund pinkelt –, bleibt die Hoffnung, dass eine Sprengkraft steckt in Vinge/Müllers kämpferischer Wahrnehmungs-Fragmentierung, die nicht einer in der Multimedia-Gesellschaft sich verändernden Wahrnehmung hinterherjagt wie so viele andere Theaterversuche, sondern Resultat einer irre mühsamen, aufwändigen, schmerzhaften Tiefenschürfung ist. Eine Sprengkraft, die in den folgenden neun Vorstellungen des Nationaltheaters Reinickendorf bestimmt noch ihre Wirkung zeigt. Achtung.

 

Nationaltheater Reinickendorf
von Vegard Vinge/Ida Müller
Von und mit Malin Andreasson, Laszlo Antal, Max Philip Aschenbrenner, Pelle Ask, Kirsten Astrup, Jonas Blume, Maximilian Brauer, Martin Breine, Katarina Caspersen, Torbjørn Davidsen, Ilaria Di Carlo, Michael Duté, Robert Faber, Hadas Foguel, Martin Gehrmann, Zoe Goldstein, Florian Gwinner, Roman Hagenbrock, Tobias Hagge, Martin Heise, Christopher Heisler, Snorre Sjønøst Henriksen, Margarita Hoffmann, Marc Hönninger, Katerina Ivanova, Joachim Janner, Ofelia Jarl Ortega, Gesine Kaufmann, Saebom Kim, Rosina Koch, Harald Kolaas, Candie Koschnik, David Kunold, Anne Kutzner, Daniel Mecklenburg, Anastasia Mikhaylova, Ida Müller, stefanpaul, Laurent Pellissier, Marc Philipps, Adam Read, Trond Reinholdtsen, Hanna Rode, Michael Rudolph, Susanne Sachsse, Pamela Schlewinski, Ole Schmidt, Judith Seither, Ville Sepännen, Rebecca Shein, Bastian Späth, Micha Spanknöbel, Stephen Stegmaier, Gabriel Stenlund Larsen, Tilman van Tankeren, Sarah Teichmann, Arnt Christian Teigen, Hans Georg Teubert, Loukas Troll, Marianne Tuckman, Vegard Vinge, Dominik Wagner, Silke Weyer, Petter Width Kristiansen, Yassu Yabara.
Dauer: 12 Stunden

www.nationaltheaterreinickendorf.com
www.berlinerfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Alles wird hier durch die Totaltheatermangel gedreht", schreibt Jan Küveler von der Welt (7.7.2017) über Vinge/Müller. Deren "Anderswelt, einem pubertär-elitären Albtraum", bescheinigt Küveler überbordende Fantasie und gigantomanischen Konzentrationswillen. Sicher ist er, "hier geht es um was, und um was genau, das fragt nur der, der nicht begriffen hat, um was es geht, nämlich ums Ganze".

Vier Jahre Pause habe das "12-Spartenhaus" gemacht, nun sei es wieder da, "dieses verwunschene mehretagige Goldene-Schlüsselchen-Theater", freut sich Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (7.7.2017). Detailreich berichtet er von den zwölf Premieren-Stunden, in denen es, anders als damals am Prater, "keine großen Ausbrüche und Übergriffe" gegeben habe. Entwarnung gibt Seidler dennoch nicht, denn der Abend sei "so angelegt, dass sie sich je nach Laune und Stimmung spontan einbauen lassen".

Endlich zurück, so begrüßt auch Christine Wahl im Tagesspiegel (7.7.2017) die "Höchstleistungsperformer" Vinge/Müller, die am Volksbühnen-Prater mit Ibsens "John Gabriel Borkman" vor sechs Jahren eine "echte Theaterrevolution" angezettelt hätten. Stark sei auch das "Nationaltheater Reinickendorf" dann, wenn es die psychologischen Aspekte des "Baumeister Solness" – ein "ideales Vatersturz-, Karriere- und Generationswechsel-Drama" – übersetze in "Horrortrips der frei laufenden Symptome" und "in gleichermaßen originellen wie höchst komplexen Bildern an (kollektive) Traumata" rühre. Dennoch bleibt auch bei Wahl der Eindruck, dass sich dieses Theater früher im Prater mehr verausgabt hat". 

Formal beeindruckt, inhaltlich schulterzuckend hat Tobi Müller das "Fegefeuer“ der Premiere, nach fünf Stunden verlassen. Eine "Kunstreligion" rufen die "Extremregisseure" Vegard Vinge und Ida Müller im Nationaltheater Reinickendorf aus, meint er im Deutschlandfunk Kultur (6.7.2017). "Dort sind die Bilder gewaltig, die Ikonografie pornografisch, die Effekte groß und der Pegel zu laut, der Kunstwille also beeindruckend." Eine grundlegende Frage bleibt für den Kritiker dabei allerdings unbeantwortet: "Kann man die Idee des männlichen, sexistischen und strukturell gewaltverherrlichenden Geniekünstler auch mal kurz auf den Müllhaufen der Geschichte werfen?"

"Unter drei, vier Handlungsebenen fängt bei Vegard Vinge nichts an, was aber nicht wirklich wichtig ist, denn tatsächlich dröhnt und donnert es auf seiner Angst-Bühne immer unter denselben Folterinstrumenten: Sex und Macht", schreibt Doris Meierhenrich in ihrem Bericht von der zweiten Nacht im Nationaltheater Reinickendorf für die Berliner Zeitung (10.7.2017).

Es komme als "superrätselhafter Mega-Kunst-Tempel" daher, in seinem Inneren aber wohne "eine sehr sanfte, zerbrechliche Seele", schreibt Dirk Pilz im Rahmen der fortgesetzten Nationaltheater Reinickendorf-Berichterstattung der Berliner Zeitung (24.7.2017). "Wahrscheinlich, so ging es mir auf dem Nachhauseweg durch den Kopf, ist diese Veranstaltung sowieso das schönste denkbare Kindertheater, in dem alle Phantasien gedurft und Assoziationen ausprobiert werden, die einem als Kind zwar nicht erlaubt wurden, aber niemanden auszutreiben sind."

"Bilder von erlesener Ekelhaftigkeit und rätselhafter Schönheit" hat Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (11.7.2017) gesehen in seiner "langen Nacht dieses Extremtheaters". Sein Fazit: "Als Veranstalter und Ermöglicher dieses prächtig abgedrehten, seltsam melancholischen, in jeder Hinsicht maßlos aus dem Ruder laufenden Gesamtkunstwerkirrsinns hat Festspiele-Intendant Thomas Oberender bewiesen, dass er sich etwas traut und keine Furcht kennt, solange die Theaterkunst nur radikal genug ist."

"Dieses sehr laute, grelle, finstere Theater nimmt einen so sehr gefangen, dass man kaum reden kann und schließlich zwangsläufig ganz bei sich selbst landet. Das muss man aushalten können", warnt Sascha Ehlert in der taz (12.7.2017): "Man setzt sich der Willkür eines Regisseurs aus, für den zur Inszenierung auch der Zuschauer gehört." Kunstblutklecks auf der Kappe seien aber, im Vergleich zu den Ibsen-Inszenierungen von Vinge/Müller im Prater, "ein harmloser Kollateralschaden", so Ehlert.

"Statt der totalen Verausgabung gab es von Müller/Vinge dieses Mal am Ende einfach nur die vollendete Erschöpfung", setzt Andreas Hartmann nach der letzten Vorstellung des Nationaltheaters Reinickendorf in der taz (1.8.2017) nach.

Unter drei, vier Handlungsebenen fängt bei Vegard Vinge nichts an, was aber nicht wirklich wichtig ist, denn tatsächlich dröhnt und donnert es auf seiner Angst-Bühne immer unter denselben Folterinstrumenten: Sex und Macht. – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/27943328 ©2017
Unter drei, vier Handlungsebenen fängt bei Vegard Vinge nichts an, was aber nicht wirklich wichtig ist, denn tatsächlich dröhnt und donnert es auf seiner Angst-Bühne immer unter denselben Folterinstrumenten: Sex und Macht. – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/27943328 ©2017
Kommentare  
Nationaltheater Reinickendorf: auf Sprengkraft hoffen?
Also wenn man nach 2 Vorstellungen und immerhin 24 Stunden noch immer auf die "Sprengkraft" - so wörtlich - "hoffen" muss...
Kann nicht soviel sein, oder?
Nationaltheater Reinickendorf: für die Jugend
Vinge/Müller ist offenbar, wenn man Sophie Diesselhorst folgen möchte, sehr schönes Theater für junge Menschen, die sich noch schämen, sich an ihre Kindheit zu erinnern und durch dieses Theater schneller und zu ihrer Freude wieder an ihre Kindheit herankommen können. Eben durch diese – wie Diesselhorst sehr schön schreibt mühevollst gemachte „Wahrnehmungsfragmentierung“. Eltern brauchen das nicht unbedingt, weil sie das jahrelang täglich haben, das schafft auch Vinge nicht zu toppen – Nicht mal mit Müller. Ich finde das aber sehr sehr schön, wenn es ein eindeutig für junge Menschen gemachtes Theater als Pilgerort gibt. Das ist auch nicht Immersion, sondern richtiges Theater, wirkliches, belebtes Comictheater zum Anschauen, hoffentlich ist das dem Oberender nicht peinlich als zufälliger tt-untauglicher Theater-Treffer... Reinickendorf, da kannste Dir freun, tu wat für se, damit se bleiben könn… Das, was andere Intendanten und Theatermacher gern phrasenhaft ihr Genie erklären wollend in Interviews labern: … man will eben nicht erwachsen werden blablabla – hier wird’s gemacht. Erzhaft. Ohne Erzkunst-Manifest.
Nationaltheater Reinickendorf: ähnliche Eindrücke
Chapeau, Frau Diesselhorst! Eine Kritik, die nach einem solchen Abend das Wesentliche fängt und greift.

Meine Eindrücke sind ähnlich, samt Faszination, schwankender Intensität. Ein wenig zu viel Videobild schien es mir, insbesondere in Hinblick auf die immersive Latte (Hochsprung, nicht Erektion -- vgl. dazu "erect a building" / "in die Höhe" usw.).

NB: Der Baumeister hat verdächtig Ähnlichkeit zum Volksbühne-Zeus Heiner Müller: Brille, Kinn, "Der Auftrag". Darüber wäre noch zu sprechen.
Nationaltheater Reinickendorf: Noch Unbespieltes
Gut beschrieben! Bin gespannt, ob die mit Nachzeichnungen sämtlicher Panini-Aufkleber der WM '82 behängte Hütte und der Nachbau des U-Boots aus "Das Boot" in künftigen Performances noch eine größere Rolle spielen werden.
Nationaltheater Reinickendorf: wenig Plätze
Müllers/Vinges Theater für 20 bis 128 kleine Zuschauer löst leider auch nicht das "Stadttheater"-Problem.
Nationaltheater Reinickendorf: Stadttheater-Problem?
@ Grrrlll: Was genau meinen Sie mit "Stadttheater"-Problem?
Nationaltheater Reinickendorf: Keine sanitären Anlagen
Zu #5: Dass man sich am Burgerstand Mineralwasser für 1,50€ kaufen muss, ist natürlich auch nichts, was man von einem Stadt-/Staatstheater erwarten würde. Der Dixiklogeruch vermittelt nach 12 Stunden Performance wenigstens etwas Nostalgie an frühere Tage, als die Ausscheidungen noch echt und live waren.
Frage an die Berliner Festspiele: Gibt es in Berlin nicht genug Hallen, in denen man sanitäre Anlagen hätte benutzen können?
Nationaltheater Reinickendorf, Berlin: Panini
Der kindlichen Unterdrückung wie Enteckungslust – beispielweise verkörpert ducrh die „Panini-Kathedrale“, einem an diesem Abend leider zu kurzkommenden Raum voller abgemalter Panini-Bilder der Fußball-WM 1982 – steht hier die Repression des Weiblichen gegenüber, verkörpert durch Ophelia. Von Hamlet zum Analverkehr genötigt, uriniert er später auf sie, bevor sie vom Vater in Ketten gelegt und einer ausgiebigen Vaginaluntersuchung unterzogen wird, in deren Rahmen der Horror-Polonius die Schamlippen Ophelias Unterwerfungs-Arie (die übrigens jene, die bis zum Ende durchhalten, auf rosa (!) Vinyl nach hause nehmen dürfen) singen lässt. Diese Unterwerfungsriten gehören zum Intensivsten und Verstörendsten dieses Abends, auch wenn sie „nur“ per Leinwand vermittelt werden. Die Hinterzimmer, in denen Live- und sonstige Videos gedreht werden, weisen Vinge als Castorf-Schüler aus, bleiben diesmal dem Blick des Zuschauers meist verschlossen. Wo es im Borkman immer wieder überraschende Brüche in der vierten Wand und Einblicke in den Theaterbauch gibt, bleibt diesmal nur der „dramaturgische Tunnel“, der vorbei an allerlei Skizzen und Porträts in den Theatersaal führt. weniger Immersion – dass das Projekt im Rahmen des gleichnamigen Schwerpunkts der Berliner Festspiele entstand, entbehrt nicht einer gewissen Ironie – war bei Vinge/Müller selte.

Und führt zum Grundproblem des Nationaltheater Reinickendorf. Denn der vermeintliche Endpunkt von Vinge/Müllers Totaltheater-Reise entpuppt sich als zuweilen recht lauer Kompromiss, der hinter einigem zurückbleibt, was die beiden in der Vergangenheit bereits gewagt hatten. Vor allem, weil sie die eigene Radikalität zu scheuen scheinen. ja, es gibt Fäkalien, doch in sicherem Abstand auf Leinwand und seltsam unmotiviert, wie eine Pfichtübung, weil man es von ihnen erwartet. Der Tabubruch, der längst keiner mehr ist, als lustlose Routine. Wie ohnehin der Abend – zumindest der von diesem Rezensenten besuchte – irgendwann zur Nummernrevue wird, der streckenweise an eine Checkliste aus Pflichtübungen erinnert. Comic muss sein, Oper auch, also gibt es etwas Otello und Tosca zu Ida-Müller-Zeichnungen. Und weil Interpretierbares ebenso verboten ist wie es sich in der ersten Hälfte immer wieder finden lässt, darf die zweite deutlich sperriger werden. Seltsame Dschungellandschaften sprechen von Albträumen, deren Quelle sich nicht mehr finden lässt, der alte Brovik darf als Hitler-Wiedergänger Wälder abholzen und unspektakulär sterben – eine eher plumpe Drehung des Vaterthemas – und ganz am Schluss steht da der allmächtige inmitten hübschgemaler Wolkenmengen und sagt und tut – nichts.

Am Ende bleibt die Leere in einem Theater, das vor der eigenen behaupteten Totalität zurückscheut, seiner Kraft nicht traut und auf halbem Wege stehen bleibt. Und so fühlen sich die zwölf pausenlosen Stunden keine Sekunde kürzer an, dehnt und krümmt sich die Zeit nicht, sondern zieht sich nur, wie auch die zerknetete Sprache oft ohne Richtung neben sich steht. Keine Frage: Für Vinge/Müller-Kenner wie -Neulinge bietet auch diese Arbeit einen faszinierenden und zwischendurch immer wieder atemberaubenden Zugang in eine Welt, die Theater nicht als Beschreiber sondern als Beherberger des Universums begreift. Die radikale Schärfe und subversive Enthemmung früherer Arbeiten erreicht sie zumindest an diesem Abend nicht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/07/09/wenn-vaginas-singen/
Nationaltheater Reinickendorf, Berlin: Bilder, nichts als Bilder
Eine Nummernrevue? Nummern ja, Revue ein. Ist das radikal oder Tabubruch oder nur das Ende der Dekonstruktion. Oder der fast schon verzweifelt zu nennende Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen?
Nationaltheater Reinickendorf, Berlin: besonders, entrückt
Es ist wohl unmöglich, diesen Abend fair zu beurteilen. Weil es wohl jeden Abend (drastisch) anders ist, weil einerseits viel zu sehen ist, viel passiert, andererseits dann aber auch sehr reduziert wird und das wenige dann mit "Knüppel vorm Kopp" eingetrieben wird. Bei mir kommt erschwerend hinzu, daß ich auf 1 Uhr zu erschöpft die Segel gestrichen habe. Aber wer alles sehen will, braucht eh' das 10 Container-Abo...
Daß das Nationaltheater polarisiert, ist schon daran zu sehen, daß wirklich viele früh gehen, durch das große Interesse aber auch immer wieder neue Gäste nachrücken, die auch um Mitternacht noch geduldig auf freiwerdende Plätze warten.
Mir war es letztlich zu artifiziell, zu entrückt (durch Masken, Soundeffekte, Stimmenverfremdung), zu repititiv und zu Videolastig (gefühlt 70% der "Handlung" findet in Neben- und Hinterbühnen statt, so daß Nationalkino Reinickendorf manchmal besser passen würde), um es wirklich mögen zu können. Es ist auch für mich nie schön oder berührend, obwohl man natürlich unweigerlich zuckt, wenn Kotbilder über den Köpfen geschwenkt werden oder Torten in die Ränge fliegen. Aber: es ist besonders und beeindruckend.
NT Reinickendorf, Berlin: nach 1 Uhr Kot und Magensaft
Zu #10: später, nach 1 Uhr, haben viele Gäste immer wieder panisch ihre Sitzplätze oder gar den Saal verlassen. Es blieb nicht bei "Kotbilder[n] über den Köpfen". Mit seinen Magensäften war Vinge sparsamer.
NT Reinickendorf, Berlin: zehn ist hart
Bislang 10 Kommentare ist ein bisschen hart. Für immerhin 10 Container. Container ist möglicherweise auch so ein Bert Neumann-Missverständnis.
NT Reinickendorf, Berlin: Vinge als Rumpelstilzchen
Ich hatte schon befürchtet, dass es nachts irgendwann besser wird - so lange habe ich leider nicht durchgehalten. Ich flüchtete bereits um 21 Uhr - nicht als erster und in dem Moment auch nicht als einziger -, weil es schlicht und ergreifend langweilig war. Nachdem ja bekannt ist, dass in den ersten beiden Stunden nichts passiert - außer dass die Leute zu blöd sind den Platz vom Ball einzunehmen -, gab es dann mehrere Variationen zu Wache trifft den Geist des Königs, wobei man Castorf'sche Kamera-Ästhetik mit inhaltlosen Fritsch-Loops (um mal bei den Volksbühnenbezügen zu bleiben) und schlechten Arien vom Band kombinierte. Dann wurde 10 Minuten lang ein Hahn aus Pappe masakriert, bis Vinge sich wie ein Rumpelstilzchen aufregte, warum so viele Leute rausgehen - Da reichte es mir dann endgültig.
Ins kindliche Staunen kam ich kurz bei der Kulisse, ansonsten habe ich mich nur grandios gelangweilt...
NT Reinickendorf: Ausleseprozess
@13:

Ad "dass in den ersten beiden Stunden nichts passiert": Eben das oberflächliche(!) Nichtgeschehen ist ein Genuss. Der Blick in die sightseeing-süchtige Fraktion, deren Mundwinkel im Foyer immer weiter sinken, und die sich nach und nach auf dem eigenen Mobiltelefon "die Welt da draußen" wieder reinholt, ist ein Geschenk. Meinethalben könnte dieser Ausleseprozess noch vier Stunden weitergehen (z. B. durch "Zählen bis 10000", "Hinkel zählt Karos in der Tapete"). Das Nationaltheater ist kein Starbucks. Wer einen Americano XL mit Karamelflavor plus Rübencookie möchte, wird solches hier nicht bekommen.

Ad "außer dass die Leute zu blöd sind den Platz vom Ball einzunehmen": Peace. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Theater ist ein Ort voller Menschen. Wer Regeln bricht, muss dafür die Verantwortung übernehmen. Vielleicht sind "die Leute" gar nicht so blöd, wie Sie meinen.
NT Reinickendorf, Berlin: bitte bis 10.000 zählen!
@14: Aber wenn wenigstens bis 10.000 oder meinetwegen auch bis 100.000 gezählt worden wäre, dann passierte immerhin das! So stand man rum und konnte sich nen Arien-Loop vom Band anhören... Sry, aber da gehe ich zur Entschleunigung lieber wandern.

Und das Vinge auch ganz anders mit den Erwartungen spielen kann, 3 Stunden lang Dinge passieren lassen kann, obwohl quasi nichts passiert, davon zeugte z.B. das Spektakel aus dem ich meinen Nick entliehen habe.
Nationaltheater Reinickendorf, Berlin: Für Dich, Mutter!
Hier sind ja ein paar echte Veteranen unterwegs, die wie Opa vom Frankreich-Feldzug von Vinges Blitz-Krieg damals im HAU erzählen. Aber, nun gut, wenn einen die Inkontinenz schon um 21 Uhr aus dem Theater treibt. Ich kann das nicht stehen lassen.

Meine Vorstellung, Container 3, war jedenfalls echt hardcore - hoffentlich nicht als Reaktion auf diejenigen, die Vinge/Müller nach den Premieren vorwarfen, das sei ja alles sehr viel domestizierter und harmloser als früher zB der Borkman. Meine war es jedenfalls nicht.

Ich will hier nicht ins auch proktologische Detail gehen, aber eine Sache muss ich dann doch erzählen, denn sie ist eben keine Kriegserzählung:

In meiner Vorstellung war eine troubled person, die immer wieder tourette-artig ein paar hate-comments in die Menge schleuderte. Meine Begleiterin, selbst Theatermacherin, bemerkte sie schon während des Prologs im Burghof und erzählte, sie kenne sie, sie habe einmal in einer ihrer Vorstellungen so massiv gestört, dass sie nicht anders gekonnt habe, als die Vorstellung zu unterbrechen und sie hinauszuwerfen. Vor ihr habe sie Angst, sagte sie.

Dann wurden wir in den Zuschauerraum hineingelassen und während sich die Sache in den Kabinetten und der Peripherie des Raums langsam entwickelte, schleuderte die Frau (um die 40, unauffällig gekleidet, halblange, blonde, schön gescheitelte Haare) immer mal wieder einen ihrer Shouts ins Publikum. Habe sie nicht genau verstehen können, aber was ich mir zusammenreimte war so was wie: "Scheiss-Mitte-Hipster, seid ihr doch alle!" oder "Mitmachtheater ist doch die totale Kacke!"

Vinge, noch in seinem Clockwork-Orange-Kostüm, sprach sie bald direkt an, seine Bühnenfigur nie verlassend: "Ja, Mutter, Mitmachtheater, das ist wirklich nicht gut!" oder "Mutter, ich bin ganz bei dir" oder "Du glaubst dies sei ein Gefängnis, Mutter. Ich mache dir einen Ausweg". Vom Zuschauerraum aus konnten wir sehen, wie er unten links ein Loch in die Wand trat, jeder Tritt, jeder Schritt elektronisch verstärkt, die Stimme durchs Mikro leicht moduliert.
Die Frau hatte sich inzwischen nach unten an die rechte Vorderbühne begeben und beobachtete etwas unsicher, aber zunehmend fasziniert die Aktion. Durchs Loch raus wollte sie aber nicht. Sie erinnerte mich entfernt an die Figur der "Wanda", aus Barbara Lodens gleichnamigen, grossartigem Film.

Plötzlich verschwand Vinge und tauchte etwas bedrohlich am oberen Zugang zum Zuschauerraum wieder auf. Ich dachte, verdammt, wenn er sie jetzt hinauswirft, gehe ich auch, das hätte der gesamten Veranstaltung für mich den Boden entzogen. Gleichzeitig wollte ich aber auch, dass sie aufhörte mit dem blödsinnigen Geschrei. Ich wollte Vinge/Müllers Stück sehen, und eben auch kein "Mitmachtheater".

Folgendes passierte: Vinge ging runter zu ihr, stellte sich artig vor, umarmte sie kurz und setzte ihr einen Kuss an die Wange. Dann legte er sich neben ihr auf die Bühnenkante, zog sich die Hose runter und pinkelte sich relativ zielgenau und mit einem kräftigen Strahl in den Mund. Die Frau, mehr interessiert als irritiert, sagt: "Ah, davon habe ich gelesen, das machst du immer!" und Vinge "Ja, Mutter, daran erkennt man mich." oder ähnliches.

Ich kürze hier besser mal ein wenig ab.
Die ganze Szene ging dann noch etwa 15 Minuten weiter. Die meisten Zuschauer hatten inzwischen begriffen, dass diese Sache keineswegs Teil der Inszenierung, sondern hier etwas noch Unvorhersehbareres und auch Gefährlicheres in den doch vorhersehbar unvorhersehbaren und riskanten Abend eingedrungen war. Eine wirkliche Verrückte.

Wie die beiden da unten nebeneinander sassen, Vinge in Maske und Kostüm, seine Rolle nie verlassend, immer noch mit heruntergezogener Hose, die Frau immer wieder umarmend und liebkosend - und daneben sie, in deren nacktem Gesicht alle Einsamkeit und Verzweiflung der Welt sich abzubilden schien. In unendlicher Tapferkeit, beide.

Die Frau forderte irgendwann das Mikro und hielt eine kurze Rede: "Ihr kommt aus der Mitte der Stadt, ich vom Rand. Aus Spandau. Die Grossindustrie und der internationale Kapitalmarkt... " usw. Sie liess ganz offenbar alle sinnlosen Zirkel und Schleifen und Phrasen aus ihrem Kopf heraus - bis sie nach ein paar Minuten immer leiser werdend und erschöpfter damit endete dass der Muselmann sowieso bald die Gesellschaft hier übernehme. Dann gab sie das Mikro an Vinge zurück, der sie die ganze Zeit zärtlich gehalten hatte und jetzt umarmte.
Er sagte, dass er gerne mit seinem Stück weitermachen würde, dass sie aber nicht gehen sondern unbedingt bleiben solle: "Für dich, Mutter machen wir dies. Von dir besonders leben wir, Mutter, denn du gehst jeden Morgen zur Arbeit von 8 bis 4 und von deinen Steuergeldern wird das alles hier finanziert." So ähnlich. Er fragte sie, welches Stück er als nächstes machen solle, aber sie hatte keine gute Idee. Er zeigte sogar noch auf jemanden, der in Maske oben von der Regiebrücke aus winkte. Das sei der Dramaturg, sagte er, gehe hoch Mutter, und wir versuchen gemeinsam herauszufinden, welches Stück wir als nächstes spielen. Ich war mir in dem Augenblick sicher, daß, wenn sie etwa gesagt hätte: Die Orestie! hätten Vinge/Müller als nächstes Aischylos gemacht.
Das Stück ging irgendwie weiter. Die Frau blieb noch eine Weile da unten sitzen, sprach noch ab und an zu sich selbst, verschwand dann irgendwann Richtung obere Sitzränge und ging dann wohl später nach Hause. Ich habe sie jedenfalls im Laufe der Nacht nicht mehr gesehen.

Was kann ich noch über den weiteren Verlauf berichten? Im Vergleich zu Borkman im Prater kam mir alles noch sehr viel reduzierter, weniger szenisch, drastischer und im Ablauf nackter und elementarischer vor. Der tolle Live-Sound der gesamten Nacht mit all seinen Samples und elektronischen Bearbeitungen fast jeder der Bewegungen der Akteure blieb mir in Erinnerung. Davon hätte ich gerne einen akustischen Mitschnitt. Dann die wunderbar präzise Choreographie der Bewegungen der Darsteller. Die genaue Nachahmung, die Simulation von Marionettentheater oder Stop-Motion. Wie Filtertechniken, die Realismus in verschieden Ebenen ausblendeten, ähnlich wie die Masken. Erst gegen 23 Uhr wurde der Hauptvorhang zum ersten Mal geöffnet für einen unfassbar zärtlichen Auftritt Hamlets (?), der ein Lied auf der Harfe im von Rousseau inspiriertem Dschungel-Wald sang. Es gab später einen schönen Auftritt einer fake-minimalist-Death-Metal Band. Spät in der Nacht wurde das Spektakel manchmal unterbrochen durch ein Stilleben, in dem 10 Minuten lang gar nichts passierte. Momente, in denen ich dachte: Jetzt wird mir langweilig. Aber dann, später, dachte ich auch: Auf keine einzige Sekunde dieser Langeweile möchte ich verzichten.
Nationaltheater Reinickendorf, Berlin: Rührstück
Wanda und Anne Peter machen aus den ehemaligen Avantgarde-Superstars ein Rührstück. Das müsste man sich mal für seine Feinde merken.
Nationaltheater Reinickendorf, Berlin: nicht traurig sein
Die Avantgarde war immer schon eine romantische Idee, ein Rührstück. Und daß Vegard Vinge und Ida Müller Provokateure seien, ist ohnehin ein Missverständnis.
Aber welche Feinde?
Nationaltheater Reinickendorf, Berlin: Freunde
@Wanda Ja, eben. Wer braucht Feinde, wenn er Freunde hat.
Nationaltheater Reinickendorf, Berlin: missglückt, wenns nur an Hirnrinde wichst
#Grrl:
Grrl, Sie überheben sich um Kopf und Kragen. Man könnte den Ruf von Künstlern also ruinieren, indem man behauptet ihre Werke würden rühren!? Die Gefühle der Zuschauer be-, um-, aufrühren? Nur Kunst, die den Menschen soweit wie möglich am Arsch vorbeigehen will, könnte sich um Aufnahme in ihre ominöse Avantgarde bewerben? Komisch. Ich sehe das umgekehrt: ein Stück, das an keine Tiefen rührt, nur an Hirnrinden wichst, ist missglückt. Schlecht. Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt mal was von Vinge/Müller gesehen haben. Dass die beiden alles versuchen, um ihr Innerstes auf der Bühne auszuschütten, wörtlich und in grandiosen Bildern, ist klar. Dass sie alles tun, um damit bei den Zuschauern heftige Gefühle auszulösen, ebenso. Zu der Avantgarde, als deren Sprachrohr Sie, Grrl, sich wohl berufen fühlen- ich tippe mal auf ein gründlich missverstandenes „Glotzt nicht so romantisch“- würden Vinge/Müller bestimmt nicht gehören wollen. Dass Sie sich hier auch noch herablassend gebärden, und es so hinstellen, als wäre Wanda eine sentimentale Naive, die so wenig Ahnung vom angesagten Diskurs – nämlich dem Ihren- hat, dass sie ahnungslos den Ruf von Künstlern erledigt, die sie doch loben wollte, das ist --- jetzt fällt mir leider keine Wendung ein, die nicht zensiert würde- . Derjenige, der nicht begriffen hat, was in der von „Wanda“ beschriebenen Szene auf dem Spiel stand, und wie schön, wie win win win -für Vinge, Wanda und Theater- das ausgegangen ist, sind definitiv Sie.
Nationaltheater Reinickendorf: Fundstücke
Ich gebe zu, dass ich manchmal an den Kommentaren von Nachtkritik verzweifelt bin. Aber wenn ich solche Kommentare wie die von Wanda oder von der geschätzten Frau Walfisch lese, dann schlägt mein Herz höher. Dass solche Funde auf Nachtkritik gemacht werden können, macht für mich diese Seite aus. Danke!
Nationaltheater Reinickendorf: Hoffnung in Verstörung
Genug über grrl geärgert.Jetzt der Dank an # Wanda. Das ist großartig! Sowohl was Sie da beschreiben, als auch wie Sies tun. Ich kann mir alles genau vorstellen, und es berührt mich sehr.
Ich war zweimal drin. Beim ersten Mal- Vorpremiere- war alles trüb und melancholisch - obwohl es doch eigentlich schön, grell, bunt und brachial war; klug und virtuos usw. Beim zweiten Mal, am 18., war Vinge von Anfang an mit enormer Energie mitten im Publikum. „Ich muss Oper machen! Ich muss Oper machen!“, elektrisierte alle, wir Veteranen im Hof strahlten: „Er ist wieder da“. Ich habe an mir und anderen zwei ganz verschiedene Aggregatzustände des Zuschauens beobachtet. Manchmal- das sind die großartigen Phasen- wird man an der Seite von Vinge in die grausame Kindergeisterbahnwelt hineingeschleudert, mitten hinein in Terror, Lust, und Größenwahns; wird überschwemmt von Lebensgier, so heftig, dass einem alles zu eng wird, der Raum, der eigene Körper. In solchen Vorstellungen fangen die Zuschauer an zu tanzen, war beim Borkmann öfter so, und am 18. gegen vier Uhr früh auch wieder.
Die andere Zuschauerhaltung ist die von nachsichtigen Eltern: amüsiert, dass der Kleine mit Scheiße schmiert; stolz auf das künstlerische Talent, und voller Mitleid, wenn das Kind sich in einen Tobsuchtsanfall hineinsteigert. Mehr oder weniger radikal ist nicht das, was auf der Bühne passiert, sondern das, was im Zuschauer vorgeht.
Damit man sich traut, sich den eigenen Kinderängsten inmitten der Ibsenbürgerhölle auszusetzen, braucht man die Sicherheit, dass in der Außenwelt nichts wirklich Schlimmes passieren wird, nicht für die Zuschauer und vor allem auch nicht für Vinge selbst. In der Vorpremiere wirkte er aber so verzweifelt, so autistisch in seine eigene Wut verstrickt, dass man sich Sorgen machte. Man schrumpfte vom Riesenkind zum trüben Erwachsenen, sah ein formal großartiges Theaterstück über einen leidenden Menschen; bei aller Schönheit bedrückend - und irgendwann zu viel.
Am 18. hat es dann geklappt, war „lifechanging“, aber auch immer eine Gratwanderung- (die vorproduzierten Videos schlucken Energie- egal wie gut sie sind)- würde er bei so viel Selbstzerstörungsdrang auf die Dauer genug Kraft haben für uns, das Publikum? Für das er das doch alles macht?
Dafür war die Situation „Wanda“, die Sie so toll beschrieben haben, tatsächlich eine Nagelprobe.
Ich verstehe vollkommen, dass sie nicht länger hätten zuschauen wollen, wenn er die Frau hinausgeworfen hätte. Umso wunderbarer ist das, was Sie dann beschreiben. Dass er sie mit Mutter angesprochen hat, sich aber de facto selbst, ohne seine Rolle als Monsterkind zu verlassen, mütterlich um sie gekümmert hat, sie umarmt und beschützt hat und ihr gezeigt hat, was man auf der Bühne machen kann, wie man sich selber in den Mund pinkeln kann, lächerlich sein kann und mutig und narzisstisch, und sie hat es ihm tatsächlich nachgemacht hat, auch rausrinnen ließ, was Peinliches in ihr drin war. Wie gut! Dass er so großzügig sein konnte, einer Verstörung, die wohl mindestens so heftig war wie seine eigene, Raum und Zeit zu lassen. Dass er Solidarität demonstriert hat zwischen den Verdammten dieser Erde. Es nicht in eine bühnenwirksame Eskalation getrieben hat, sondern ein Trost war. Wie gut! Wie gut auch, dass Theater immer noch ein Ort ist, von dem sich Leute in tiefer Verstörung sowas erhoffen. Wie gut, dass es manchmal klappt. Danke an alle Beteiligten, an Vinge, an die Frau, an das Publikum, und danke an Sie, dass Sie so genau hingeschaut und es aufgeschrieben haben, „that made my day“ wie die Amis sagen, or maybe my week, or my month,oder vielleicht my whole year. Theater ist doch toll.
Nationaltheater Reinickendorf: Noch mal Container 3
Auch ich durfte diesen besonderen Abend - Container 3 - miterleben und hatte seitdem das Bedürfnis, meine Begeisterung irgendwie mitzuteilen, wusste aber nicht, wie. Daher bin ich Wanda für den ausführlichen Bericht und die treffenden Worte sehr dankbar. Ich habe einen unvergesslichen Abend erlebt, der, wie damals John Gabriel Borkman, noch immer nachwirkt. Ich hatte das Glück, ganz vorne zu sitzen und Vinges Gespräch mit der Frau aus nächster Nähe sehen und hören zu können. Auch ich bin ihm dankbar, wie er sich auf diese unerwartete Situation eingelassen hat. Die Frau verließ übrigens kurz nach dem Dialog mit Vinge den Saal, weil eine Zuschauerin sie flehentlich bat, doch bitte aufzuhören. Da sie auf diese Bitte umgehend reagierte, hatte ich fast den Eindruck, auch sie selbst sei erleichtert, den Raum und die Situation nun verlassen zu können.
Genauso wie Wanda fand ich die gesamte Container 3-Vorstellung absolut beeindruckend, aufwühlend und, ja, auch berührend. Leider musste ich so gegen 4 Uhr gehen, habe aber davor fast nonstop durchgeschaut, um ja nichts zu verpassen. Bin richtig süchtig nach diesem Theater geworden und hoffe, dass wir bald wieder was von Vinge/Müller und der ganzen Truppe erleben dürfen.
Nationaltheater Reinickendorf: Pinkeln gegen Zwänge
Ich war nicht da und würde auch nicht hingehen, aber ihm, diesem Theater, Raum geben, wenn es in meiner Macht stünde. Dafür gibt es auch einen Grund: Wenn jemand sich auf diese Art und Weise in den eigenen Mund pinkelt, hat er den Mut, etwas VOLLKOMMEN Universelles zu zeigen, über jedes Alter, jede innere und äußere Grenze und jeglichen Kulturraum hinweg: JEDES männliche Kind auf dieser Welt, das mit seinem Körper allein gelassen ist, hat wenigstens einmal in seinem Leben dieses Bedürfnis verspürt das zu tun - und ALLES, was es davon jemals in seinem Leben abgehalten hat, abhält oder abhalten wird, bildet die Zwänge seiner Gegenwart ab. - Eine aufmerksame Mutter wenigstens eines männlichen Kindes weiß allerdings so etwas. Und ihr Kind wiederum weiß, dass sie es weiß... Eine weniger aufmerksame undoder wissende Mutter kann es also von Vinge lernen. Das ist doch schön. - Schade, dass diese "Mutter", von der offenbar niemand weiß, ob sie denn nun eine wirkliche oder eine optionale Mutter gewesen ist, von anderen Zuschauern gebeten wurde, mit ihrer Theraterintervention "aufzuhören". Und warum hat Vinge sie einfach "Mutter" genannt? Hätte er, ohne sie "Mutter" zu nennen, gar nicht für sie exklusiv pinkeln können?
Will sagen: Ich will von Theater, dass es UNIVERSELLES zeigt, das aus meinem Blick geraten ist oder noch nie in ihn geraten war. Und ich will von Theatermachern nicht "Mutter" genannt werden, von Leuten also, die mich gar nicht kennen und deshalb will ich auch nicht, dass sie andere, mir fremde Mit-Zuschauerinnen einfach so nennen... Warum also hat Vinge nicht "Frau" zu der Frau gesagt? Wenn er mir oder jemandem anderen das überzeugend öffentlich beantworten kann, geh ich hin.
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